| # taz.de -- Genozidforscher über Gaza: „Jeder Genozid ist anders“ | |
| > Der Historiker Omer Bartov über den Vorwurf, Israel begehe in Gaza einen | |
| > Völkermord, über Nazi-Vergleiche und über Deutschlands Rolle in dem | |
| > Konflikt. | |
| Bild: Er soll Israel gegen den Vorwurf des Genozids verteidigen: Der Anwalt Omr… | |
| wochentaz: Herr Bartov, [1][Südafrika klagt Israel vor dem Internationalen | |
| Gerichtshof wegen Genozids an]. Was halten Sie davon? | |
| Omer Bartov: Ich sehe das positiv. Ein internationales Gremium aus | |
| angesehenen Juristinnen und Juristen aus unterschiedlichen Ländern wird | |
| darüber beraten – und zwar [2][auf Grundlage der Völkermordkonvention der | |
| Vereinten Nationen]. Südafrika hat das Gericht außerdem gebeten, Maßnahmen | |
| anzuordnen, um die palästinensische Bevölkerung im Gazastreifen zu | |
| schützen. Das könnte helfen, die humanitäre Katastrophe zu beenden, die wir | |
| dort gerade erleben. | |
| Wie unabhängig ist das Gericht? | |
| Es gehört zur Struktur der Vereinten Nationen. Die Idee ist, dass es alle | |
| Regionen der Welt vertritt, nicht nur die Großmächte oder den Westen. Auch | |
| wenn die Richter Koryphäen sind und ihren eigenen Kopf haben, sind sie doch | |
| mit den Staaten verbunden, aus denen sie stammen. Deren Interessen sind | |
| nicht immer transparent oder konsistent. Man wird sehen. | |
| Was hätte es für Folgen, wenn das Gericht Israel wegen Völkermords | |
| verurteilt? | |
| Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen müsste sich damit befassen, und | |
| zumindest die USA würden wahrscheinlich ein Veto einlegen. Aber viele | |
| Länder – auch die USA – haben Gesetze, die es ihnen verbieten, Waffen und | |
| Munition an Länder zu liefern, die im Verdacht stehen, Verbrechen gegen die | |
| Menschlichkeit oder gar einen Genozid zu begehen. Das würde den Druck | |
| erhöhen, zu einer Lösung der aktuellen Krise zu kommen, und das wäre eine | |
| gute Sache. | |
| Für westliche Regierungen wäre ein solches Urteil sehr peinlich. | |
| [3][Peinlich ist, dass der Westen nichts gegen die humanitäre Katastrophe | |
| unternimmt, die sich vor unseren Augen ereignet.] Über 24 000 Menschen | |
| wurden dort bereits getötet, mindestens zwei Drittel von ihnen Zivilisten, | |
| die Hälfte davon Kinder. Die Tötungsrate ist beispiellos, und es gibt wenig | |
| Druck auf Israel, um den Konflikt zu beenden. | |
| Sie haben schon sehr früh vor der Gefahr eines Genozids in Gaza gewarnt. | |
| Warum? | |
| Zahlreiche hochrangige israelische Politiker – der Premier und der | |
| Präsident, viele Minister und Generäle –, haben Dinge gesagt, die im | |
| höchsten Maße alarmierend waren. Es wurde dazu aufgerufen, Gaza | |
| auszulöschen und es dem Erdboden gleichzumachen. Wenn man solch eine | |
| entmenschlichende Sprache aus dem Mund von politischen Anführern und | |
| Menschen mit Befehlsgewalt vernimmt, dann hat das Konsequenzen. | |
| Inwiefern? | |
| Es stachelt Menschen auf, insbesondere Soldaten. Viele der hunderttausend | |
| Reservisten, die zu den Waffen gerufen wurden, dürften Wähler von | |
| Natanjahu, Smotrich und Ben Gvir sein. Wenn sie diese Sprache hören, dann | |
| haben sie das Gefühl, dass es keine roten Linien gibt. Das führt dann dazu, | |
| dass drei Geiseln erschossen wurden, die eine weiße Fahne geschwenkt haben. | |
| Der israelischen Öffentlichkeit ist das nur aufgefallen, weil es drei | |
| Geiseln waren und nicht drei Palästinenser. Was mich außerdem besorgt hat | |
| waren die massiven und wahllosen Bombardierungen. Jetzt ist noch viel | |
| klarer, dass hier eine Strategie umgesetzt wurde, die vermutlich schon vor | |
| dem 7. Oktober erdacht wurde. | |
| Welche Strategie meinen Sie? | |
| Man sagt der Bevölkerung, sie solle ein Gebiet verlassen, und gibt ihnen | |
| dafür eine gewisse Frist. Wenn die verstrichen ist, betrachtet man jede | |
| Person, die man dort noch antrifft, als potentiellen Kämpfer – egal, um wen | |
| es sich handelt. Man schickt Flugzeuge, Panzer und Bulldozer und setzt auf | |
| massiven Artilleriebeschuss und massive Bombardierungen, bevor Bodentruppen | |
| reingehen, und sprengt Schulen, Moscheen, Krankenhäuser und andere | |
| öffentliche Gebäude in die Luft. Es gibt inzwischen viele Bilder, die das | |
| Ausmaß der Zerstörung zeigen. [4][Im Ergebnis wurden 1,9 Millionen Menschen | |
| vertrieben und die Gegend zerstört, aus der sie stammten.] Sie können nicht | |
| mehr dorthin zurückkehren. Das, was ich damals befürchtet hatte, ist | |
| inzwischen eingetreten. | |
| Ihr Kollege Raz Segal hat Israels Vorgehen in Gaza als „Lehrbuch-Beispiel | |
| für einen Genozid“ bezeichnet. Sie sind vorsichtiger? | |
| Um einen Genozid zu beweisen muss man die entsprechende Absicht nachweisen. | |
| Das ist das Schwierigste. In diesem Fall wurde offen gesagt, dass man | |
| beabsichtigt, die Gegend dem Erdboden gleichzumachen und die Menschen zu | |
| vertreiben. Entscheidend ist jetzt die Frage: Wollten sie Gaza – oder | |
| zumindest Teile davon – für immer ethnisch säubern? Viele in Israel sagen | |
| jetzt, man sollte die Bevölkerung ermutigen, Gaza zu verlassen – auf den | |
| Sinai, nach Kanada oder wohin auch immer. Sollte das passieren könnte man | |
| zu dem Schluss kommen, dass es von Anfang an die Absicht war, die | |
| Bevölkerung von dort zu vertreiben. Das ist ein Verbrechen gegen die | |
| Menschlichkeit und könnte als Absicht gewertet werden, „eine Gruppe als | |
| solche ganz oder teilweise zu zerstören“, wie es in der UN-Konvention | |
| heißt, und damit als Genozid. | |
| Warum? | |
| Wenn man die Bevölkerung aus Gaza vertreibt, zerstört man sie als Gruppe. | |
| An diesem Punkt sind wir jetzt. Niemand möchte zwei Millionen Menschen | |
| aufnehmen, Ägypten hat große Angst davor. Aber Israel könnte es dazu | |
| zwingen, wenn die Weltgemeinschaft jetzt nicht einschreitet. Die Frage ist: | |
| Kommt jetzt eine neue Stufe? Das hängt davon ab, was jetzt passiert. | |
| Was befürchten Sie? | |
| Wenn die israelische Armee in den Süden reingeht, weil die Hamas dort noch | |
| aktiv ist, wird sie noch mehr Zivilisten töten. Wenn nicht, war nicht nur | |
| der 7.Oktober ein Fiasko, sondern auch dieser Krieg. Denn Israels Regierung | |
| war bisher nicht in der Lage, ihre zwei erklärten Ziele zu erreichen: Sie | |
| hat weder die Hamas zerstört noch die Geiseln befreit. Die einzigen | |
| Geiseln, die befreit wurden, kamen durch Verhandlungen während eines | |
| Waffenstillstands frei. Die anderen sind nicht zurück, und es gibt keinen | |
| Grund anzunehmen, dass sie befreit werden können. | |
| Der Norden des Gazastreifens wurde ethnisch gesäubert. Das ist noch kein | |
| Genozid? | |
| Gewaltsame Vertreibung ist etwas anderes als ein Genozid. Historisch hängen | |
| beide Phänomene aber eng zusammen – denken Sie an den deutschen Genozid an | |
| den Herero in Deutsch-Südwestafrika, oder an den Genozid an den Armeniern | |
| im osmanischen Reich. Beide wurden in die Wüste getrieben, viele sind dort | |
| gestorben. Es gibt meiner Meinung nach ausreichend Anzeichen dafür, dass | |
| die israelische Armee in Gaza in Kriegsverbrechen verstrickt ist und | |
| vermutlich auch Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat. Heute | |
| sehen wir zu, dass 85 Prozent der Bevölkerung von Gaza vertrieben wurden, | |
| viele von ihnen unter unmenschlichen Bedingungen leben müssen und Hunger | |
| und Durst leiden. Wir wissen nicht, was die langfristigen Auswirkungen | |
| durch Krankheiten und Seuchen sein werden. Deswegen stehen wir kurz vor | |
| einem Abgrund, der als Genozid beschrieben werden kann. | |
| In Deutschland fürchten manche, der Holocaust werde relativiert, wenn man | |
| Israel einen Genozid vorwirft. Sie nicht? | |
| Jeder Genozid hat Aspekte, die ihn von anderen unterscheiden. Der deutsche | |
| Völkermord an den Juden Europas war einzigartig, weil er sich über einen | |
| ganzen Kontinent erstreckte und es industrielle Vernichtungslager gab. Aber | |
| in manchen Aspekten ähnelte er anderen Genoziden, etwa in Ruanda oder in | |
| Bosnien. So gesehen, war der Holocaust nicht einzigartig. Darüber habe ich | |
| ein ganzes Buch geschrieben. | |
| Sie fürchten keinen Missbrauch der Vergangenheit? | |
| Die Erinnerung an den Holocaust wird von allen Seiten missbraucht. Ich | |
| verfolge die öffentlichen Debatten in Israel, da wird die Hamas ständig mit | |
| Nazis verglichen. Jeder nutzt oder meidet solche Begriffe aus | |
| unterschiedlichen Gründen. Was Deutschland tun sollte ist, die Dinge so zu | |
| sehen, wie sie sind. Wenn die israelische Armee an Kriegsverbrechen | |
| beteiligt ist – und es gibt genügend Fakten, die das bestätigen – dann | |
| sollte man darüber sprechen. Man kann nicht sagen: Weil die Wehrmacht | |
| Kriegsverbrechen begangen hat, können wir Israel nicht kritisieren. Das | |
| erinnert mich an das Argument, dass man aufgrund der deutschen Verbrechen | |
| an Russland Putins Krieg in der Ukraine nicht kritisieren dürfe. Das macht | |
| keinen Sinn. | |
| Welche Lehren sollte Deutschland aus der Vergangenheit ziehen? | |
| Aus der Vergangenheit lernt man, dass man anderen Staaten oder | |
| Organisationen nicht erlauben sollte, mit solchen Verbrechen davonzukommen, | |
| indem man dazu schweigt. [5][Deutschland sollte sich wie die Großmacht | |
| verhalten, die es ist.] Es spricht nichts dagegen, dass sich Deutschland | |
| als Freund und Verbündeter Israels sieht. Aber dann sollte es [6][mit | |
| Nachdruck daran arbeiten, dass seine Regierung einen anderen Kurs | |
| einschlägt]. | |
| Die amerikanische Publizistin Masha Gessen hat die Lage in Gaza mit dem | |
| Warschauer Ghetto verglichen, in Deutschland wurde sie dafür scharf | |
| kritisiert. Wie sehen Sie das? | |
| Ich mochte ihren Artikel sehr, auch wenn ich diesen einen Satz nicht den | |
| klügsten fand. Ich denke nicht, dass sich Gaza mit dem Warschauer Ghetto | |
| vergleichen lässt. Aber Gaza ist ein Alptraum, das steht außer Frage. Ich | |
| habe in den 1970erjahren als Soldat in Gaza gedient. Damals lebten nur 350 | |
| 000 Menschen dort, und es war schon damals kein schöner Ort. Aber ich mag | |
| keine Nazi-Vergleiche, weil die Nazis dann immer gewinnen. Denn im | |
| Vergleich sieht alles nicht ganz so schlimm aus, selbst wenn es absolut | |
| grauenhaft ist. | |
| In Israel sind Nazi-Vergleiche verbreitet. Schon PLO-Chef Arafat wurde mit | |
| Hitler verglichen, heute werden der Iran oder die Hamas mit Nazis | |
| gleichgesetzt. | |
| Das ist seit den 1980er-Jahren schlimmer geworden. Seit Netanjahu an die | |
| Macht kam, hat er seine Gegner immer wieder mit Nazi-Vergleichen überzogen | |
| – meistens Palästinenser, aber auch den Iran. Das heißt, du hast freie | |
| Hand. Denn was kann man mit Nazis tun? Du musst sie töten, bevor sie dich | |
| töten können. Mittlerweile ist es in Israel unmöglich geworden, außerhalb | |
| dieses Rahmens zu denken. Bis zu Rabins Ermordung war es noch möglich, sich | |
| eine andere Art und Weise vorzustellen, mit der Situation umzugehen. Heute | |
| dreht sich alles nur noch um die Frage: sie oder wir. Das ist fatal. Es | |
| gibt sieben Millionen Palästinenser und sieben Millionen Juden, die auf | |
| diesem Territorium leben. Keiner möchte das Land verlassen. Man muss einen | |
| politischen Kompromiss finden. Aber dieses Denken macht es unmöglich, einen | |
| Kompromiss zu finden. | |
| Triggern diese Nazi-Vergleiche auch Ängste vor einer Vernichtung? | |
| [7][Seit dem 7. Oktober hat sich die Atmosphäre in Israel komplett | |
| geändert, und es gibt ein starkes Gefühl der Verunsicherung.] Das hat mit | |
| dem kolossalen Versagen der israelischen Armee zu tun. Die Hamas hat einen | |
| Teil des Landes übernommen und schreckliche Verbrechen begangen, und die | |
| Armee ist für Stunden nicht aufgetaucht. Jetzt wird der Krieg nicht | |
| gewonnen, die Verluste nehmen zu, [8][eine zweite Front wird eröffnet und | |
| es ist kein Ende in Sicht]. Diese Regierung profitiert davon, und sie | |
| verspricht nur mehr Gewalt und noch mehr Tote. | |
| Hatte der Angriff der Hamas auch eine genozidale Botschaft? Manche sprechen | |
| vom größten Massaker an Juden seit dem Holocaust. | |
| Es war ein großer terroristischer Angriff, ein Kriegsverbrechen, und | |
| möglicherweise ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Wenn man es mit der | |
| Charta der Hamas von 1988 in Verbindung setzt, kann man argumentierten, | |
| dass es sich um eine genozidale Tat handelt. Es wäre gut, wenn das vor | |
| einem internationalen Gericht verhandelt würde. Aber ich halte es für | |
| falsch, es mit einem Pogrom zu vergleichen. Ein Pogrom ist Gewalt, die sich | |
| gegen eine Minderheit richtet. Solche Formulierungen dienen nur dazu, | |
| bestimmte Gefühle hervorzurufen. | |
| Welchen Einfluss hatte dieses Massaker auf die Psyche von Jüdinnen und | |
| Juden weltweit? | |
| Wenn man den israelischen Medien folgt – was ich derzeit mehr tue, als mir | |
| lieb ist – wird der Horror des 7. Oktober kontinuierlich wiederholt. | |
| Israelische TV-Zuschauer sehen praktisch nichts von dem, was der | |
| Bevölkerung in Gaza widerfährt. Stattdessen erfahren sie jeden Tag mehr | |
| über das, was am 7. Oktober passiert ist, hören Augenzeugenberichte und | |
| sehen Interviews. Das Gefühl, Opfer und verwundbar zu sein, wird dadurch | |
| ständig neu befeuert – und damit auch der Wunsch nach Rache und Vergeltung. | |
| Die meisten Deutschen sprechen kein Hebräisch und verstehen nicht, was | |
| Netanjahu meint, wenn er von Amalek spricht. Was hat es damit auf sich? | |
| Als die Israeliten durch den Sinai wanderten, wurden sie von einem Volk | |
| namens Amalek angegriffen. Das ist eine biblische Geschichte. Wenn man in | |
| Israel sagt, „Erinnere dich, was Amalek dir angetan hat“, dann ist das wie | |
| ein Aufruf, den Gegner auszulöschen. Netanjahu ist ein gebildeter Mann: Er | |
| weiß genau, was er damit auslöst. | |
| Könnte ihm das in Den Haag zum Verhängnis werden? | |
| Das ist nur eines aus einer ganzen Reihe von Aussagen von Netanjahu und | |
| anderen, die im Kern genozidal sind. Vor Gericht hat Israel argumentiert, | |
| dass das nur in der Hitze des Moments so dahingesagt worden wäre und keine | |
| Strategie dahinterstehe. Aber es kann als Aufruf zum Genozid und als Hetze | |
| verstanden werden. Auch Hetze ist nach internationalem Recht ein | |
| Verbrechen, das sollte man nicht relativieren und kleinreden. | |
| Welche Wirkung hat der ständige Bezug auf die Pogrome der Vergangenheit und | |
| den Holocaust? Ist das nicht retraumatisierend? | |
| Es führt dazu, dass man in Israel die eigene Stärke und die eigenen | |
| Schwäche verkennt. In Israel leiden wir an beidem: einerseits fürchten wir | |
| jeden Tag, einem neuen Holocaust zum Opfer zu fallen. Andererseits fühlen | |
| wir uns so mächtig, dass wir glauben, keinerlei Kompromisse eingehen zu | |
| müssen. Das tun wir nur, wenn wir dazu gezwungen werden. So, wie am 6. | |
| Oktober 1973, als uns die ägyptische Armee angriff. Bis dahin weigerte sich | |
| Israel, über eine Rückgabe des Sinai auch nur zu sprechen. Viele meiner | |
| Freunde sind damals im Jom-Kippur-Krieg gestorben. Erst danach war Israel | |
| bereit, den Sinai im Gegenzug für einen Friedensvertrag zurückzugeben. | |
| Sie sehen Parallelen zum arabischen Angriff von 1973? | |
| Ja, denn wir stehen jetzt an einem ähnlichen Wendepunkt. Bis zum 7.Oktober | |
| 2023 glaubte Israel, es müsse mit den Palästinensern keinen Frieden | |
| schließen. Wir können das Land behalten und es besiedeln. Wir sind stark | |
| genug, was sollen sie uns schon tun? Aber nachdem sie uns angegriffen | |
| haben, fühlen wir uns plötzlich in unserer Existenz bedroht. Dabei wird die | |
| Hamas diesen Krieg nicht gewinnen. Nur: [9][Israel kann diesen Krieg auch | |
| nicht gewinnen, zumindest nicht rein militärisch]. Es muss eine politische | |
| Lösung finden. Wenn nicht, wird Israel ein Paria-Staat werden. | |
| Wie meinen Sie das? | |
| Wenn Israel seinen Kurs nicht ändert, wird es sich zunehmend isolieren. | |
| Langfristig wird sich auch die Politik der USA ändern. Kein demokratischer | |
| Präsident wird je wieder so an der Seite Israels stehen wie Joe Biden. Die | |
| Leute, die Biden gewählt haben, gehen jetzt gegen Israel auf die Straße. Er | |
| verliert seinen liberalen Flügel, die jungen Leute. | |
| Wird Trump Israel weiter unterstützen, sollte er wieder zum Präsidenten | |
| gewählt werden? | |
| Trump ist ein Mann ohne Eigenschaften. Er mag Netanjahu nicht mehr, weil er | |
| Biden zu seiner Wahl gratuliert hat. Das hat er ihm nicht verziehen, so | |
| etwas vergisst er nicht. Ich denke, sein Impuls wird sein, die Region sich | |
| selbst zu überlassen nach dem Motto: Sollen sie sich doch gegenseitig | |
| umbringen. [10][Das wäre sehr gefährlich, nicht nur für den Nahen Osten, | |
| sondern für den Rest der Welt.] Der Einzige, der Grund hätte, eine Flasche | |
| Champagner zu öffnen, sollte Trump noch einmal gewählt werden, wäre | |
| Wladimir Putin. | |
| Hat Südafrikas Genozid-Klage schon einen Effekt? Netanyahu hat kürzlich | |
| erklärt, Israel wolle weder den Gazastreifen dauerhaft besetzen noch die | |
| Zivilbevölkerung vertreiben. Genau das hatten Minister seiner Regierung | |
| zuvor vorgeschlagen. | |
| Es gibt einen Riss in der Regierung. [11][Die Armee würde im Gazastreifen | |
| gerne ein ähnliches System errichten, wie es in der Westbank existiert]: | |
| eine palästinensische Verwaltung, die sich um den Alltagsfragen kümmert, | |
| aber die israelische Armee behält letztlich die Kontrolle und kann | |
| jederzeit eingreifen und Menschen verhaften oder töten, wenn sie es für | |
| nötig hält. Ob das realistisch ist, ist die andere Frage. Andere in der | |
| Regierung würden die Gunst der Stunde gerne nutzen, um in Gaza wieder | |
| Siedlungen zu errichten. Einige Soldaten und Reservisten machen Videos | |
| davon, wie sie Lieder singen, Flaggen schwenken und sich freuen, Gaza in | |
| Besitz nehmen zu können. Kann Netanjahu die Quadratur des Kreises gelingen? | |
| Ich glaube nicht. Aber er weiß, dass er nur an der Macht bleiben kann, wenn | |
| der Krieg noch möglichst lange weiter geht. Alles andere ist ihm egal. | |
| Wer kann ihn stoppen? | |
| [12][Nur die USA können diesen Konflikt lösen.] Da versagt die | |
| Biden-Regierung bisher. Sie braucht einen klaren Plan, wie dieser Krieg | |
| beendet werden kann und was anschließend passieren soll. Dafür muss sie | |
| ihre wichtigsten Verbündeten an einen Tisch kriegen: Deutschland, | |
| Großbritannien, Frankreich. Diesen Plan müssen sie dann gemeinsam Israel | |
| und den Palästinensern vorlegen und ihnen sagen: wenn ihr diesen Plan | |
| ablehnt, seid ihr auf euch alleine gestellt. Israel kann sich das nicht | |
| leisten. Es reizt seine Möglichkeiten aus, aber es hat wenig in der | |
| Hinterhand. | |
| Die deutsche Regierung macht sich für eine Zwei-Staaten-Lösung stark. Ist | |
| das realistisch? | |
| Die ursprüngliche Zwei-Staaten-Lösung ist unrealistisch geworden, weil | |
| inzwischen mehr als eine halbe Million Siedler in der Westbank leben. Sie | |
| von dort abzuziehen würde in Israel zu einem Bürgerkrieg führen. Auf der | |
| anderen Seite erheben beide Gruppen den Anspruch auf nationale | |
| Selbstbestimmung und darauf, dass ihrer jeweilige Diaspora in ihren eigenen | |
| Staat zurückkehren können. Deshalb bin ich von der Idee einer Konföderation | |
| überzeugt. | |
| Wie sähe die aus? | |
| Eine Konföderation würde bedeuten, dass es zwei Staaten gibt, mehr oder | |
| weniger in den Grenzen von 1967. Aber es gäbe einen Unterschied zwischen | |
| Staatsbürgerschaft und Wohnort – das hieße, man kann Staatsbürger eines | |
| Landes sein, aber in einem anderen leben. Ein bisschen wie in der EU, wo | |
| man als Deutscher in einem anderen Land leben aber in Deutschland wählen | |
| kann. Siedler könnten in der Westbank bleiben und für das israelische | |
| Parlament wählen, aber sie würden den Gesetzen eines palästinensischen | |
| Staates unterliegen. Und ein Palästinenser aus New York könnte nach Nablus | |
| oder sogar nach Haifa ziehen und wäre den Gesetzen des jeweiligen Staats | |
| unterworfen, könnte als palästinensischer Staatsbürger das Parlament in | |
| Ramallah wählen. Interessanterweise hat diese Idee sowohl Anhänger untrer | |
| Siedlern als auch unter Palästinensern. | |
| 19 Jan 2024 | |
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