| # taz.de -- Geschichte der Hamas: Herrschaft mit Geheimstrukturen | |
| > Wie die Terrororganisation 1987 gegründet wurde, sich vor wenigen Jahren | |
| > ein überraschendes neues Programm gab und es nun zum Angriff auf Israel | |
| > kam. | |
| Bild: Die Hamas instrumentalisiert für ihre Propaganda gezielt Kinder | |
| Als sich 1987 die palästinensischen Anhänger der [1][ägyptischen | |
| Muslimbruderschaft] im Gazastreifen kurz nach Ausbruch der ersten Intifada | |
| in „Islamische Widerstandsbewegung“ ([2][arabisches Akronym: Hamas]) | |
| umbenannten, verfolgten sie hauptsächlich zwei Ziele: den Staat Israel | |
| durch einen bewaffneten „Heiligen Krieg“ zu vernichten, um auf dessen | |
| Gebiet und im gesamten Palästina eine islamische Herrschaft zu errichten, | |
| sowie die Führung des palästinensischen Volkes zu übernehmen. | |
| Nach fast zwei Jahrzehnten der Opposition zur [3][säkularen Rivalin Fatah] | |
| – der führenden Kraft innerhalb der Palästinensischen Befreiungsbewegung | |
| (PLO) –, deren Annäherung an und Friedensschluss mit Israel 1993 die Hamas | |
| mit zahlreichen Terroranschlägen gegen Israelis vergeblich zu torpedieren | |
| versuchte, schien im Januar 2006 letzteres Ziel in greifbare Nähe gerückt | |
| zu sein. | |
| Zermürbt durch den Terror militanter palästinensischer Gruppen hatte sich | |
| Israel im Jahr zuvor aus dem Gazastreifen zurückgezogen. Die kurz darauf | |
| abgehaltenen ersten demokratischen Wahlen in den palästinensischen | |
| Autonomiegebieten gewann überraschend die Hamas. Sie konnte oder wollte | |
| sich aber mit der Verliererin Fatah – deren Vertreter sollten wie gehabt | |
| weiter mit Israel verhandeln – über eine eventuelle Teilung der Macht nicht | |
| einigen. | |
| [4][Mitte Juni 2007 rissen die Islamisten im Gazastreifen], ihrem | |
| Stammgebiet, die Macht an sich und konnten nun zumindest dort die Umsetzung | |
| ihrer Vision von einer „islamischen Herrschaft über Palästina“ in Angriff | |
| nehmen. Israel antwortete mit einer Blockade zu Land und zur See, die bis | |
| heute besteht. | |
| ## Klandestine Strukturen | |
| Die Hamas hatte in ihrer Zeit im Untergrund unter israelischer Besatzung | |
| eine mehrschichtige, teilweise klandestine Struktur aufgebaut. Offen und | |
| sichtbar waren von Anfang an ihre sozialen Einrichtungen in und rund um die | |
| Moscheen der Islamistenbewegung. Auch deren politische Führung, von den | |
| israelischen Besatzern weitgehend geduldet, gab sich teilweise öffentlich | |
| zu erkennen. Darunter waren auch Mitglieder des Hamas-Politbüros, von denen | |
| ein Teil stets aus dem Ausland agierte. | |
| Streng geheim blieb immer die Besetzung der Schura, des Rats der Hamas, die | |
| periodisch die Angehörigen des Politbüros ernennt. Eine Geheimstruktur | |
| zeichnete von Beginn an auch den bewaffneten Arm der Hamas aus. Er | |
| formierte sich 1986 und gab sich 1992 öffentlich den Namen [5][„Brigaden | |
| des Märtyrers Iz ed-Din al-Qassam“], benannt nach einem syrischen | |
| Nationalisten, der sich dem Widerstand der Palästinenser gegen die | |
| britischen Mandatsherren in Palästina angeschlossen hatte und 1935 im | |
| Gefecht mit britischen Soldaten starb. | |
| Der militärische Arm der Hamas verfolgte eigene Ziele, die sich nicht immer | |
| mit denen der politischen Führung deckten. Welche Operationen er | |
| durchführte, hing nicht selten vom Charisma und Einfluss seiner Anführer ab | |
| – und auch von deren Beziehungen zu Militärs in unterstützenden Ländern wie | |
| Iran und Syrien. | |
| ## Alleinherrschaft und Expansion | |
| Die Alleinherrschaft der Hamas nach ihrer Machtübernahme im Gazastreifen | |
| ließ die verschiedenen Zweige der Bewegung schnell wachsen. Ihr politisches | |
| Personal baute rasch ein paralleles Semi-Staatssystem zu dem der | |
| [6][Palästinensischen Autonomiebehörde (PA)] im Westjordanland auf. Binnen | |
| weniger Jahre wurden die Qassam-Brigaden massiv ausgebaut. 2009 verfügten | |
| sie bereits über knapp 7.000 Kämpfer. 2018 waren es doppelt so viele, heute | |
| geht man von rund 30.000 Mitgliedern aus. | |
| Die Qassam-Brigaden inszenieren sich schon länger als eine reguläre Armee | |
| mit spezialisierten Einheiten: Neben einer Elite- und Raketeneinheit, der | |
| „Luftwaffe“ (Drohnen) und einem „Marine“-Kommando lassen sie regelmäß… | |
| Infanteristengruppen auf den Straßen aufmarschieren oder in Pick-ups | |
| auffahren. | |
| Mit dem Image einer konventionellen Armee kollidiert, dass die Angehörigen | |
| der Qassam-Brigaden stets vermummt auftreten. Auch das weitverzweigte | |
| Tunnelsystem, das die Hamas – wie auch der mit ihr verbündete Islamische | |
| Dschihad mit seinen schätzungsweise 6.000 bis 8.000 Kämpfern der | |
| Al-Quds-Brigaden – errichtet hat, bleibt der Öffentlichkeit bis auf sehr | |
| eingeschränkte Einblicke für [7][Propagandazwecke] verborgen. | |
| ## Kampf gegen Israel | |
| Die Qassam-Brigaden sehen es als ihre Hauptaufgabe an, Israel mit allen | |
| verfügbaren militärischen Mitteln zu bekämpfen und den Gazastreifen gegen | |
| Angriffe zu verteidigen. Konflikte mit der politischen Führung der Hamas, | |
| die zum Teil im Ausland sitzt, bleiben dabei nicht aus, etwa über die | |
| Nutzung der vorhandenen Ressourcen: Steuergelder, Spenden islamischer | |
| Wohlfahrtsorganisationen, [8][Finanzhilfen aus Qatar (seit 2012)] und in | |
| überschaubarem Umfang aus dem Iran. | |
| Wohl auch um solche zu vermeiden, wurde 2017 mit Jahia Sinwar zum ersten | |
| Mal ein Angehöriger der Qassam-Brigaden zum politischen Chef der Hamas im | |
| Gazastreifen ernannt. Die Hamas-Regierung war damals stark isoliert. Zum | |
| Regime Assads in Syrien, einem traditionellen Unterstützer, hatte sie nach | |
| Ausbruch des dortigen Bürgerkriegs die Beziehungen abgebrochen. | |
| Im Sommer 2014 hatte Israel auf den massiven Raketenbeschuss aus dem | |
| Gazastreifen mit der Militäroperation „Starker Fels“ reagiert, die rund | |
| 1.400 palästinensische Zivilisten das Leben kostete und bei der es zum | |
| bislang letzten Einsatz von israelischen Bodentruppen kam. Ein Jahr zuvor | |
| hatte der Militärputsch in Ägypten gegen die dort seit Kurzem regierenden | |
| Muslimbrüder die Hamas um ihre wichtigsten Verbündeten in der Region | |
| gebracht. Für den neuen Machthaber Abd al-Fatah al-Sisi waren nun auch die | |
| Islamisten in Gaza ein Feind. | |
| ## Ein neues politisches Programm | |
| [9][Den Grenzverkehr zu Ägypten wie auch den Tunnelschmuggel, von dem die | |
| Hamas profitierte, ließ al-Sisi stark einschränken] – als Druckmittel gegen | |
| die Hamas, die er so zwingen wollte, sich von den Muslimbrüdern und auch | |
| von ihren eigenen militanten Positionen gegenüber Israel zu distanzieren. | |
| Das tat die Hamas auch, als sie im Mai 2017 ihr „Dokument“ veröffentlichte, | |
| [10][das mit seinen 42 Artikeln durchaus den Charakter eines | |
| Grundsatzpapiers besaß]. Es ist das erste seiner Art seit der Hamas-Charta | |
| von 1988, die seit Beginn des neuen Jahrtausends in der medialen | |
| Selbstdarstellung der Islamistenorganisation kaum noch eine Rolle spielte. | |
| Auch wenn das neue Dokument diese nicht offiziell annulliert, wird die | |
| Version von 1988 darin doch in einigen wichtigen Punkten revidiert. | |
| Das erklärte Ziel, Palästina mit Waffengewalt zu befreien, wird zwar nicht | |
| aufgegeben, und Palästina bleibt auch im neuen Programm ein als islamisch | |
| und arabisch definiertes Land, das sowohl den Palästinensern gehört als | |
| auch der islamischen Umma, also der Gemeinschaft aller Muslime. Die Hamas | |
| bekämpft nun aber erklärtermaßen nicht mehr die Juden, sondern die | |
| Zionisten als Besatzer. | |
| Obwohl sie wie gehabt dem israelischen Staat das Existenzrecht abspricht | |
| und Anspruch auf das gesamte Gebiet des historischen Palästinas erhebt, | |
| erklärt sie sich in dem „Dokument“ gleichzeitig bereit, einen | |
| Palästinenserstaat in den Grenzen von 1967 zu akzeptieren. Außerdem wurde | |
| in dem neuen Programm auf jede frühere Bezugnahme auf die ägyptischen | |
| Muslimbrüder wie auch auf die zahlreichen Koranzitate verzichtet. | |
| ## Israels Politik | |
| Die Veröffentlichung des Hamas-Programms tat das Büro des [11][israelischen | |
| Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu] damals als „Augenwischerei“ ab. | |
| Dass Netanjahu an einer Beilegung des Konflikts mit der Hamas nie wirklich | |
| Interesse hatte, ist in Israel eine Binsenweisheit. Er hatte deren | |
| „Vernichtung“ im Wahlkampf 2009 zwar großspurig verkündet, hielt sie dann | |
| aber als Premier lieber nur durch überschaubare Militäroperationen in | |
| Schach. | |
| Die Hamas als starke Rivalin des [12][Palästinenserpräsidenten Mahmud | |
| Abbas] bestehen zu lassen und so die palästinensische Spaltung | |
| aufrechtzuerhalten, um die Autonomiebehörde im Westjordanland zu schwächen, | |
| gehört schon seit Jahren zu Netanjahus Strategie. | |
| In Jerusalem schmiedete man in den Jahren nach 2017, jetzt mit der | |
| besonders wohlwollenden Regierung Donald Trumps, für die Palästinenser | |
| eigene Pläne. Trumps im Januar 2020 vorgelegter Friedensplan gestand den | |
| Palästinensern – über deren Köpfe hinweg – zwar einen Staat zu. Dessen | |
| sämtliche Außengrenzen sollten aber unter israelischer Kontrolle stehen. | |
| Die Palästinenser lehnten ab, weil der Plan zudem die Einverleibung von | |
| rund einem Drittel des [13][Westjordanlands] durch Israel einschließlich | |
| des Jordantals vorsah. Obgleich Trumps Nahostplan schon bald Geschichte | |
| war, nahm die von Netanjahu versprochene Ausweitung der israelischen | |
| „Souveränität“ auf die Siedlungen immer weiter Gestalt an. | |
| Mit der Realisierung dieses Ziels befasst sich mittlerweile der | |
| Rechtsextremist und Doppelminister Bezalel Smotrich als Mitglied von | |
| [14][Netanjahus rechtsreligiöser Regierung]. Gegen die fortschreitende | |
| De-facto-Annexion und die zunehmende Siedlergewalt richten sich seit | |
| Monaten die Proteste im Westjordanland. | |
| Die Hamas im isolierten Gazastreifen wollte als selbst erklärte Anführerin | |
| des bewaffneten palästinensischen Widerstands hier offensichtlich nicht im | |
| Abseits stehen. Ihr Großangriff auf israelische Militärbasen und Zivilisten | |
| im Grenzgebiet sollte diesen Führungsanspruch wohl erneut unterstreichen | |
| und größtmögliche Aufmerksamkeit erzeugen – [15][auch daher seine | |
| erschreckende Brutalität]. | |
| Joseph Croitoru ist Autor von „Hamas. Auf dem Weg zum palästinensischen | |
| Gottesstaat“ (dtv) und „Al-Aqsa oder Tempelberg. Der ewige Kampf um | |
| Jerusalems heilige Stätten“ (C.H. Beck). | |
| 21 Oct 2023 | |
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