# taz.de -- Hamas-Angriff auf Israel: Wer verändern will, muss verstehen | |
> Unser Korrespondent berichtet seit über 30 Jahren aus dem Nahen Osten. | |
> Für Sicherheit brauche es politische Lösungen, schließt er aus den | |
> früheren Kriegen. | |
Bild: Flucht vor den Bomben am al-Shifa-Hospital in Gaza | |
Es gibt zwei Worte, die ähnlich klingen, aber doch Unterschiedliches | |
meinen: „Verständnis“ und „Verstehen“. Ich habe kein Verständnis daf�… | |
wenn unschuldige Menschen auf einer Raveparty oder in einem Kibbuz in | |
Israel von Hamas-Kämpfern niedergemetzelt werden. Genauso wenig, wie ich | |
Verständnis dafür aufbringe, wenn 2,3 Millionen Menschen im Gazastreifen | |
kollektiv für diese fürchterlichen Taten bestraft werden. Wer für diese | |
Dinge Verständnis zeigt, sollte seinen moralischen Kompass neu ausrichten. | |
Ich finde alles, [1][was wir in den vergangenen Tagen gesehen haben], | |
entsetzlich. Und wenn ich sicherstellen will, dass Derartiges nicht | |
geschieht, wenn ich nach Lösungen suche, dann muss ich die Situation | |
analysieren. Ich muss versuchen, etwas zu „verstehen“, für das ich kein | |
Verständnis habe. | |
Genauso wenig, wie ich Verständnis dafür aufbringe, wenn 2,3 Millionen | |
Menschen im Gazastreifen kollektiv für diese fürchterlichen Taten bestraft | |
werden, schutzlos israelischen Bombardements ausgeliefert sind und ihnen | |
der Strom abgeschaltet und sie ausgehungert werden. | |
Ich verstehe, dass ganz Israel im Schock ist, dass viele dort nach einer | |
militärischen Lösung rufen, manche auch einfach nach Rache und Vergeltung. | |
Eine [2][Bodenoffensive soll das Problem lösen], wir werden Hamas | |
auslöschen, heißt es. Aber kann eine solche Offensive tatsächlich eine | |
strategische Veränderung schaffen? | |
2006 musste ich als Journalist aus dem Libanon über den Krieg zwischen | |
Israel [3][und der Hisbollah berichten]. Auslöser war damals ein, im | |
Vergleich zu heute, wesentlich geringerer Anlass: Die Hisbollah hatte zwei | |
israelische Soldaten entführt. Aus Israel hieß es damals, man werde die | |
Hisbollah zerstören. Nach einer Woche Krieg hieß es nur noch, man wolle | |
ihre Kapazitäten schwächen. Die meisten Todesopfer in diesem Krieg waren | |
Zivilisten. Statt der Hisbollah wurde Infrastruktur zerstört. Die Hisbollah | |
sitzt seitdem in jeder Regierung in Beirut. | |
## Die Hamas blieb | |
Mehrere Bombardements und eine Bodenoffensive in Gaza in den letzten Jahren | |
bewirkten das Gleiche. Große Teile des Streifens wurden zerstört, die Hamas | |
blieb. Die Idee, Kräfteverhältnisse mit stark überlegenen militärischen | |
Mitteln zu verändern, scheitert immer wieder. Es gibt keine militärische | |
Lösung in Gaza, die die Lage grundsätzlich strategisch verändern würde. Im | |
Gegenteil: Jedes Kind, das heute in Gaza aus den Trümmern gezogen wird, | |
wird in Zukunft nach noch radikaleren Mitteln rufen. | |
Ich verstehe, wie sehr das Gefühl, verwundbar zu sein, Israel erschüttert. | |
Das Land wurde auf brutalste Weise eingeholt von einem Status quo, der | |
nicht nachhaltig ist. Die Palästinenser empfinden die seit 15 Jahren | |
andauernde Blockade und Besatzung, den rapiden Ausbau der Siedlungen als | |
schreiende Ungerechtigkeit. Dies wurde international kaum mehr | |
wahrgenommen. Das gilt es zu berücksichtigen, um jetzt die richtigen | |
Konsequenzen zu ziehen. Es ist eine Situation entstanden, die für die | |
Weggesperrten und Besetzten genauso tödlich und untragbar ist wie für die | |
Besatzer. | |
Beides: die grauenhaften Hamas-Morde an Zivilisten und die an Zynismus | |
schwer zu übertreffenden Worte des israelischen Verteidigungsministers Yoav | |
Gallander, der mit „Wir kämpfen gegen menschliche Tiere“ die komplette | |
Belagerung des Gazastreifens mit seinen 2,3 Millionen Menschen angeordnet | |
hat, zeigen eines: Die Belagerung und die Besatzung haben nicht nur die | |
Köpfe der Belagerten und Besetzten zerstört, sondern auch die der Belagerer | |
und Besatzer. | |
Es wird eine Zeit kommen, in der viele über ihre Taten und Worte in dieser | |
Woche erschrecken werden. Vielleicht ist es einfach auch noch der falsche | |
Zeitpunkt für das „Verstehen“ und zu früh für die Frage, was all das | |
langfristig bedeutet. Zu verletzt ist die Gefühlslage auf allen Seiten. | |
Aber wer etwas verändern will, der muss verstehen. | |
Im schlimmsten Fall schlittern wir in einen Krieg mit vielen Fronten, vom | |
Westjordanland und den Palästinensern, die in Israel als israelische | |
Staatsbürger leben, bis hin zu einem neuen Krieg mit der Hisbollah im | |
Libanon, sogar mit Iran. Den Szenarien sind kaum Grenzen gesetzt. | |
Aber vielleicht bringen die brutalen vergangenen Tage langfristig Bewegung | |
in eine Geschichte, die bisher als unbeweglich galt. | |
Genau vor 50 Jahren brach der Jom-Kippur-Krieg aus, oder der Oktoberkrieg, | |
wie er auf arabischer Seite heißt. Bei einem Überraschungsangriff | |
überrannte die ägyptische Armee 1973 die israelischen Verteidigungslinien | |
auf dem damals besetzten Sinai. Der Nimbus der Unbesiegbarkeit der | |
israelischen Armee, gewonnen im Sechstagekrieg 1967, war schwer | |
angeschlagen. Das Ergebnis waren Verhandlungen auf Augenhöhe, die zum | |
Friedensvertrag zwischen Ägypten und Israel führten. | |
Noch befinden wir uns mitten in der Rhetorik des Krieges, aber bald werden | |
wir feststellen, dass keine militärische Lösung das gewünschte Ergebnis | |
bringt. Dass sich die Palästinenserfrage nicht in Luft auflösen, sondern | |
nur noch virulenter wird und nach einer politischen Lösung schreit. | |
Wahrscheinlich nirgendwo wird das offener diskutiert werden als in der | |
israelischen Gesellschaft selbst. | |
Es geht hier sicherlich nicht darum, Hamas mit der ägyptischen Armee zu | |
vergleichen, und schon gar nicht darum, mit der Hamas Gespräche zu führen. | |
Es geht darum, die heutigen Zusammenhänge zu verstehen, um dann andere | |
herzustellen, die nicht der Hamas in die Hände spielen, die nicht tödlich | |
für beide Seiten sind. Denn wirklich sicher wird es nur, wenn | |
palästinensische Kinder, die heute aus den Trümmern ihrer Häuser in Gaza | |
gezogen werden, eine echte Perspektive bekommen. | |
13 Oct 2023 | |
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## AUTOREN | |
Karim El-Gawhary | |
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