# taz.de -- Krieg im Nahen Osten: Die Angst greift um sich in Gaza | |
> Tausende fliehen in Richtung Süden des Küstenstreifens, die Hamas fordert | |
> sie auf zu bleiben. Präsident Abbas warnt vor einer „zweiten Nakba“. | |
Bild: Palästinenser fliehen in vermeintlich sicherere Gebiete | |
Jerusalem/Berlin taz | Panik hat sich in Gaza breitgemacht, nachdem Israel | |
am Freitag alle Zivilist*innen im Norden des 40 Kilometer langen | |
Küstenstreifens aufforderte, sich in den Süden zu retten. Die Armee | |
veröffentlichte eine Karte des [1][Gazastreifens] mit einem roten Strich in | |
der Mitte, um zu markieren, welche Gegenden geräumt werden sollen. Rund die | |
Hälfte der 2,3 Millionen Einwohner*innen schien von der Aufforderung | |
betroffen, darunter auch Gaza-Stadt mit rund einer halben Million | |
Einwohner*innen. | |
Die Vereinten Nationen warnten, eine Räumung des Gebiets sei in den von | |
Israel geforderten 24 Stunden kaum machbar ohne „verheerende humanitäre | |
Konsequenzen“. Das UN-Hilfswerk für palästinensische Geflüchtete (UNRWA) | |
befürchtet eine Katastrophe. „Das Ausmaß und die Geschwindigkeit dieser | |
humanitären Krise ist markerschütternd“, erklärte der Sprecher des | |
Hilfswerks, Tamara Alrifai am Freitag. „Gaza wird schnell zum Tor zur Hölle | |
werden und steht am Rande des Kollaps.“ | |
In Gaza sind derzeit noch Teams der Organisation Ärzte ohne Grenzen im | |
Einsatz. Sie behandeln Verletzte im Al-Awda-Krankenhaus, im | |
Nasser-Krankenhaus und im Indonesischen Krankenhaus. Im | |
Al-Shifa-Krankenhaus wurde ein Operationssaal für Verbrennungs- und | |
Traumapatient*innen eröffnet. Wie ein Sprecher der Hilfsorganisation | |
gegenüber der taz bestätigte, wurden rund zwanzig internationale | |
Mitarbeitende Donnerstagnacht aus dem Norden des Gazastreifens in den Süden | |
verlegt. | |
Die Situation der rund 300 palästinensischen Mitarbeitenden sei derzeit | |
schwierig nachzuverfolgen. „Wir wissen, dass einige von ihnen versuchen, | |
mit ihren Familien in den Süden zu fliehen. Andere, insbesondere | |
medizinisches Personal, werden im Norden bleiben, um zu versuchen, kranke | |
und verwundete Patient*innen zu behandeln“, sagte der Sprecher der taz. | |
Die Organisation forderte die Ausweisung von sicheren Zonen für | |
Bevölkerungsgruppen, die nicht fliehen könnten, und für Krankenhäuser. | |
## Bodenoffensive könnte in Kürze starten | |
Möglicherweise geht die Evakuieungsaufforderung einer Bodenoffensive | |
voraus, mit der Israel auf die beispiellosen [2][Massaker der Hamas] an der | |
Zivilbevölkerung am vergangenen Samstag reagieren würde. So könnte die | |
Armee versuchen, das Gebiet zu durchkämmen und jegliche Infrastruktur der | |
Hamas – Militärstellungen, Bunker und das unterirdische Tunnelsystem der | |
Terrororganisation – zu zerstören, ohne dass Zivilist*innen im Weg | |
sind. Man werde „umfangreiche Anstrengungen“ unternehmen, um zivile Opfer | |
zu vermeiden, erklärte ein Militärsprecher am Freitag erneut. | |
Die Situation sei „sehr Angst einjagend“, berichtet Salwa Dschihad der taz, | |
die im Nusairat-Flüchlingslager lebt, das nur wenige Kilometer südlich der | |
Linie liegt, oberhalb derer der Gazastreifen geräumt werden soll. „Tausende | |
Familien fliehen aus Gaza-Stadt und Nordgaza in den Süden.“ Viele liefen | |
bis zu 25 Kilometer zu Fuß. Seit vier Tagen gebe es kaum noch Wasser, Strom | |
und Internet. | |
Die meisten Menschen kämen der Evakuierungsaufforderung nach, einige | |
weigerten sich jedoch, ihr Zuhause zu verlassen, berichtet die Journalistin | |
Reham R. Owda, die selbst mit ihrer Familie aus Gaza-Stadt in den Süden | |
flüchtete. Wesam Amer, Dekan der Universität in Gaza-Stadt, bestätigte | |
schon am Vormittag: „Viele Menschen haben den Norden bereits verlassen.“ | |
Der Süden sei jedoch während der Nacht weiterhin bombardiert worden. | |
Es breite sich Angst vor einer „zweiten Nakba“ aus, erzählt Amer – ein | |
Begriff, den am Freitag auch der im Westjordanland amtierende | |
Palästinenserpräsident Mahmud Abbas von der Fatah benutzte. Als Nakba – zu | |
Deutsch Katastrophe – bezeichnen Palästinenser*innen die Flucht und | |
Vertreibung von rund 750.000 Menschen aus der Region im Zuge der | |
israelischen Staatsgründung 1948. | |
Auch Salwa Dschihad sagt: „Es ist wie die Nakba 1948. Die Leute lassen | |
alles zurück. Es ist eine große Migrationsbewegung, tausende Vertriebene. | |
Tausende haben Verwandte verloren. Ich kann die Situation kaum | |
beschreiben.“ | |
## Die Hamas feuert weiter Raketen ab | |
Die Angst vor einer endgültigen Vertreibung der Palästinenser*innen | |
aus Gaza ist weit verbreitet. Auch der Politiker Mustafa Barghuti aus | |
Ramallah im Westjordanland erklärte: „Das Problem ist, dass es keinen Ort | |
gibt [an den sich die Menschen flüchten können]. Ich weiß nicht, was | |
Netanjahu vorhat. Offenbar will er eine ethnische Säuberung durchführen“, | |
mutmaßte Barghuti gegenüber der taz noch vor der Evakuierungsaufforderung | |
am Freitag. | |
In Gaza waren im Laufe des Freitags viele Kontakte nicht erreichbar. „Es | |
gibt weder Strom noch Treibstoff, und das führt zu Wassermangel und einem | |
Zusammenbruch des Gesundheitssystems“, berichtete Wesam Amer aus Chan Junis | |
im südlichen Gaza, bevor der Kontakt auch zu ihm zunächst abbrach. | |
Trotz der Ängste in der eigenen Bevölkerung feuerte die Hamas am Freitag | |
den siebten Tag in Folge Raketen auf Israel ab. In [3][Aschkelon], zwölf | |
Kilometer nördlich der Grenze zum Gazastreifen, schlug mindestens eine | |
Rakete ein. Der Armee zufolge wurden auch weiter reichende Raketen | |
abgefeuert, konnten jedoch abgefangen werden: eine über dem Norden Israels, | |
eine weitere auf dem Weg nach Eilat im Süden Israels. Auch in vielen Teilen | |
Nordisraels heulten die Sirenen. | |
Unterdessen zeigte sich Human Rights Watch überzeugt, dass Israel sowohl im | |
Gazastreifen als auch im Libanon Phosphorbomben eingesetzt hat. Diese sind | |
laut Völkerrecht nicht generell verboten, doch ihr Einsatz aus der Luft in | |
bewohnten Gebieten wird als „unterschiedsloser Angriff“ gewertet, weil er | |
Zivilist*innen unverhältnismäßig gefährdet. | |
## Verstoß gegen das Völkerrecht? | |
„Israels Einsatz von weißem Phosphor bei Militäroperationen setzt | |
Zivilisten dem Risiko schwerer und langfristiger Verletzungen aus“, | |
[4][teilte Human Rights Watch] am Donnerstag mit. Zuvor hatte bereits der | |
Nachrichtensender Al Jazeera darüber berichtet. | |
„Weißer Phosphor hat eine erhebliche Brandwirkung, die Menschen schwer | |
verbrennen und Gebäude, Felder und andere zivile Objekte in der Nähe in | |
Brand setzen kann“, so die Organisation. „Der Einsatz im Gazastreifen, | |
einem der am dichtesten besiedelten Gebiete der Welt, vergrößert die Gefahr | |
für die Zivilbevölkerung und verstößt gegen das Verbot des humanitären | |
Völkerrechts, Zivilisten unnötig in Gefahr zu bringen.“ | |
13 Oct 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Lage-in-Gaza/!5966015 | |
[2] /Hamas-Angriff-auf-Israel/!5965572 | |
[3] /Nach-Angriff-auf-Israel/!5962499 | |
[4] https://www.hrw.org/news/2023/10/12/israel-white-phosphorus-used-gaza-leban… | |
## AUTOREN | |
Jannis Hagmann | |
Felix Wellisch | |
Tanja Tricarico | |
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Annalena Baerbock | |
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