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# taz.de -- Folgen der Hamas-Barbarei: Wieso ich mich wieder als Jude fühle
> Ivan Ivanji überlebte die KZs. Er stand immer auf der Seite der
> Palästinenser – bis zum letzten Samstag. Jetzt kann er nicht mehr ruhig
> bleiben.
Bild: Ivan Ivanji erschrickt vor dem Gedanken, was noch alles passieren kann
Soweit mir bekannt ist, waren alle meine Vorfahren sowohl väterlicher- als
auch mütterlicherseits Juden. Doch meine Familie war nicht gläubig, hielt
sich nie strikt an die jüdischen Vorschriften. Wir haben Weihnachten und
Ostern gefeiert und serbische Freunde zum orthodoxen Familienfest besucht,
jüdische Feiertage und Bräuche aber kannte ich als Kind überhaupt nicht.
Ich habe mich nicht mal in eine Jüdin verliebt und immer gesagt: „Für
Hitler bin ich Jude, aber auch sonst bin ich mit ihm nicht einer Meinung.“
Doch jetzt, nach der blutrünstigen Orgie, die die Mörderbande der Hamas am
7. Oktober begangen hat, ist es anders:
Ich fühle mich zum ersten Mal [1][seit meiner Befreiung aus dem
Konzentrationslager vor 78 Jahren] als Jude.
Das ist selbstverständlich meine Privatangelegenheit; aber nicht der
Umstand, dass sich auf der ganzen Welt das Verhältnis sowohl zu den Juden
als auch zu den Arabern ändern wird, auch wenn nicht alle Araber
Palästinenser sind, so wie nicht alle Palästinenser der Hamas angehören und
nicht alle Juden für die Palästinapolitik des israelischen Staats sind.
## Am Anfang dieser Idee stand der Friedensnobelpreis
Bis letzten Samstag stand ich aufseiten der Palästinenser. Ich habe die
israelischen Regierungen verurteilt, die die Idee einer Zweistaatenlösung
ablehnten. Zu meinem Kummer fand auch nur eine Minderheit der Israelis
diese Idee gut. Dabei stand am Anfang dieser Idee vor 29 Jahren der
Friedensnobelpreis, den der Palästinenserpräsident [2][Jassir Arafat und
die israelischen Politiker Jitzhak Rabin und Schimon Peres] dafür
erhielten.
Wäre der Konflikt mehr oder weniger auf gegenseitige Raketenangriffe
begrenzt geblieben, so wie es bisher immer der Fall war, hätte sich meine
Sympathie vielleicht auf Palästinenser und Israelis verteilt. Vielleicht.
Aber nach [3][dieser unbeschreiblichen Barbarei] kann ich nicht mehr ruhig
bleiben. Kann das irgendjemand? Ich, trotz meiner Rationalität, kann es
nicht.
Ich verstehe, wenn die Israelis sagen, dass der Angriff für sie das Gleiche
ist wie für die Amerikaner der 11. September. Aber es war schlimmer. Viel
schlimmer. Die Entführer der vier Flugzeuge, Mitglieder von al-Qaida, haben
mit ihrem Selbstmordattentat fast 3.000 Menschen ermordet. Sie haben ihnen
nicht in die Augen geguckt, [4][als sie sie umbrachten]. Die Mörder aus den
Reihen der Hamas schossen auf Menschen, die direkt vor ihnen standen, auf
junge Menschen und Kinder, die sie einzeln jagten und deren Leben sie mit
unglaublicher Brutalität raubten.
## Es hat so etwas schon gegeben
Es fehlt nicht viel, um zu sagen, dass es so etwas in der Geschichte bisher
noch nie gegeben hat – aber da muss ich mir auf die Zunge beißen. Es hat so
etwas schon gegeben. Es hat so etwas vor noch gar nicht so langer Zeit in
der Nachbarschaft gegeben, in Jasenovac. Im kroatischen
[5][Konzentrationslager Jasenovac] haben sie meinen Onkel ermordet, Saša,
seine Frau und zwei Kinder. In Israel, Gott sei Dank, noch niemanden von
meinen Verwandten. Bis jetzt.
Was wurde mit diesem Massaker erreicht, das die Israelis ein Pogrom gegen
die Juden nennen? Was wurde erreicht für die arabische Welt, was für
Israel, was für alle Übrigen …? Ich korrigiere mich, was heißt das für uns
alle, aber wirklich für uns alle auf diesem Planeten?
Ein paar meiner Verwandten aus Israel waren zufällig gerade in Belgrad, als
der Horror sich ereignete. Am Abend schauten wir gemeinsam die Nachrichten
im serbischen Fernsehen. [6][Es wurde die zerstörte Stadt Gaza gezeigt],
erschrockene Kinder und ein Alter, der schrie: „Sie haben alles, was ich
habe, vernichtet. Warum?“ Ich habe nicht reagiert, aber mein Verwandter:
„Sie zeigen das Elend der Palästinenser, aber nicht, warum wir sie
bombardieren.“
Die Anführer der Hamas sind geschickte Propagandisten. Israel in seiner
gerechtfertigten Verzweiflung und Wut interessiert sich gerade nicht dafür,
welches Bild sich die Welt von ihm macht. Die Israelis haben den
Gazastreifen von Strom, Wasser, Benzin, Gas, Medikamenten und humanitärer
Hilfe abgeschnitten. Der Gesundheitsminister hat den israelischen
Medizinern verboten, verletzte Angehörige der Hamas zu behandeln.
Im Gazastreifen werden Hunger und Durst ansteigen, wegen mangelnder Hygiene
wird Typhus und Cholera ausbrechen, der Tod wird in noch mehr Ecken als
sowieso schon lauern. In diese Hölle werden israelische Kampfeinheiten
einmarschieren. Die israelische Armee ist diszipliniert, aber die jungen
Kämpfer haben wahrscheinlich Angehörige verloren und Bilder der
abgeschlachteten Juden vor Augen. Sie werden schwere Kämpfe in brenzligen
Situationen mitten in bewohnten Orten auszuführen haben.
## Werden sie sich an das Kriegsrecht halten?
Werden sie alle Palästinenser bekämpfen, nicht nur die Mitglieder der
Hamas? Oder werden sie korrekt bleiben und sich an das Kriegsrecht halten?
Ich bin nicht sicher, ob ich das könnte, wenn ich an ihrer Stelle wäre.
Die [7][Staaten Europas und Nordamerikas] unterstützen Israel, aber in
ihnen lebt der kleinste Teil der Menschheit und nicht die Mehrheit der
Weltöffentlichkeit. Die Fotos und Videos aus dem Gazastreifen werden nun
täglich in alle Bildschirme geflutet, in allen Meridianen. Das Blutbad des
7. Oktober wird langsam vergessen werden. Der Antisemitismus wird wachsen.
Hilflos erschrecke ich vor dem Gedanken, was noch alles passieren kann, vor
allem wenn Israel in die Ecke gedrängt wird, in seiner Verzweiflung die
Atombombe zündet und sich Iran, Syrien, Russland, Amerika einmischen. Wohin
sollen wir fliehen?
Mir bleibt nur der Sarkasmus des Alters: Fragen wir Elon Musk, ob es noch
einen freien Platz in seinen [8][Raketen zum Mars] gibt.
Der Text erschien zuerst in der serbischen Zeitung „Vreme“.
Aus dem Serbischen von Doris Akrap
14 Oct 2023
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## AUTOREN
Ivan Ivanji
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