# taz.de -- Zum Tod von Ivan Ivanji: „Ich bin Literat“ | |
> Er überlebte den Holocaust, aber das Wort „Zeitzeuge“ mochte Ivan Ivanji | |
> nicht. Nun ist er im Alter von 95 Jahren gestorben. Ein Nachruf. | |
Bild: Ivan Ivanji im Sommer vorigen Jahres bei einer Lesung in Weimar | |
Das Leben des Ivan Ivanji war von Anfang bis Ende das eines epochalen | |
Romans über das europäische 20. Jahrhundert: Holocaust-Überlebender, | |
Schriftsteller, Dichter, Übersetzer, Diplomat, Titos Dolmetscher, | |
Theaterintendant, Journalist, Essayist und bis zu seinem letzten Lebenstag | |
der Erinnerung und Mahnung an den Horror des Faschismus verpflichtet. Am | |
Tag des Siegs über den Faschismus, am 9. Mai, ist der große europäische | |
Intellektuelle nun 80 Jahre nach seiner Deportation in das KZ Buchenwald in | |
Weimar verstorben. | |
1929 wurde Ivanji im serbischen Zrenjanin als Kind einer säkularen | |
jüdischen Familie geboren. Seine Eltern wurden 1941 von Nazis ermordet, er | |
selbst floh zu Verwandten nach Novi Sad und wurde 1944 zunächst ins | |
Konzentrationslager Auschwitz, dann über einige Außenlager nach Buchenwald | |
deportiert. Der 95-Jährige, der in Belgrad und Wien lebte, war wie immer zu | |
den Gedenkfeiern nach Weimar eingeladen worden, wo er in diesem Jahr am 8. | |
Mai von Kulturstaatsministerin Claudia Roth empfangen wurde, das Museum für | |
die Zwangsarbeiter des Nationalsozialismus eröffnet und die Ausstellung | |
„Bauhaus und Nationalsozialismus“ besucht hatte. | |
Das Interesse an Deutschland und der deutschen Sprache und Kultur hatte ihm | |
der NS nicht nehmen können. Ivanji war mit deutscher Kultur aufgewachsen. | |
Ivanjis Eltern waren in Deutschland ausgebildete Ärzte, die mit ihren | |
Kindern Deutsch, Serbisch und untereinander Latein sprachen. „Mein Deutsch | |
ist besser als mein Serbisch“, sagte er mir vor ein paar Jahren [1][in | |
einem Interview für die taz], und dass er seit geraumer Zeit jedes Jahr | |
zwei Romane schreibe, einen auf Deutsch und einen auf Serbisch. | |
Nach seiner Rückkehr nach Belgrad 1945 hatte Ivanji Germanistik und | |
Architektur studiert, ging zum Theater, übersetzte Günter Grass, Heinrich | |
Böll, Bertolt Brecht ins Serbische, Danilo Kiš ins Deutsche und arbeitete | |
gemeinsam mit dem jugoslawischen Literaturnobelpreisträger Ivo Andrić im | |
jugoslawischen Schriftstellerverband als Sekretär. Er gründete eine | |
Wochenzeitung und war als Journalist und Essayist für das bis heute | |
existierende serbische Politikmagazin Vreme tätig, aber auch für den | |
Spiegel, den WDR und [2][als Korrespondent] für [3][die taz]. | |
In den 1970er Jahren wurde er unter [4][Tito, dem Präsidenten der | |
sozialistischen Republik Jugoslawiens], Kulturattaché der jugoslawischen | |
Botschaft in Bonn und Berater im jugoslawischen Außenministerium. Ivanji | |
war bei der Gründungskonferenz der KSZE 1975 in Helsinki und 1979 bei der | |
Konferenz der Blockfreien-Bewegung in Havanna dabei, und er war 15 Jahre | |
lang Titos Dolmetscher. | |
Über diese Zeit hat er ein Buch gleichnamigen Titels verfasst, in dem er | |
seine Begegnungen mit den deutschen Politikern wie Willy Brandt, | |
ostdeutschen wie Erich Honecker und österreichischen wie Kurt Waldheim | |
beschreibt. Selbst in diesem nichtliterarischen Werk erkennt man die große | |
Beobachtungsgabe, das detailgenaue Interesse und das feine politische und | |
menschliche Gespür eines großen europäischen Bürgers des 20. Jahrhunderts. | |
Dazu gehörte auch, dass er der serbischen Regierung des | |
rechtspopulistischen Präsidenten Aleksandar Vučić verweigerte, ihm | |
persönlich zum 90. Geburtstag zu gratulieren. „Den Vučić mag ich ganz und | |
gar nicht“, [5][sagt er mir damals]. „Mit dem würde ich gern lieber | |
nirgendwo erscheinen.“ | |
Jeder, der das Glück hatte, mit Ivan Ivanji persönlich sprechen zu können, | |
war begeistert. Nicht nur wegen seines überragenden Erzähltalents und der | |
Fülle an historischer Erfahrung, sondern auch, weil Ivanji ein überaus | |
höflicher, immer wacher und inspirierender Gesprächspartner war und vor | |
allem einen äußerst feinen, immer präsenten Humor hatte. Egal worüber er | |
sprach, über Politiker, Künstler, Nazis oder sich selbst, immer endete die | |
Geschichte mit einer ironischen Pointe. In den letzten Jahren bekannte er | |
öfter, dass er es ein bisschen leid sei, immer wieder über den Holocaust | |
sprechen zu müssen. Es ginge doch darum, dem Slogan „Nie wieder“ einen Sinn | |
zu geben und das bedeutete für Ivanji beispielsweise, dem Schicksal der | |
ertrinkenden Kinder im Mittelmeer nicht länger zuzugucken. | |
## „Zeitzeuge“ war für ihn ein abscheuliches Wort | |
Weil sich der Holocaust-Überlebende aber auch der Geschichte gegenüber | |
verpflichtet fühlte, kam er dennoch jeder Einladung nach, über seine | |
Erfahrung zu sprechen. Nur als eines wollte er lieber nicht bezeichnet | |
werden: als „Zeitzeuge“. „Was für ein abscheuliches Wort“, sagte er | |
selbstverständlich lächelnd. Auf die Frage wie er sich selbst bezeichnen | |
würde, antwortete er mir damals: „Ich bin Literat. Aber der einzige Titel, | |
den ich offiziell tragen darf, ist Diplombautechniker.“ | |
Ivanji hat über 20 Romane veröffentlicht, die meisten handeln vom | |
Holocaust. Als sein eigentliches literarisches Vermächtnis aber bezeichnete | |
er seine Kaiser-Trilogie: Romane über die römischen Herrscher Diokletian, | |
Konstantin und Julian. | |
Über den jugoslawischen Staatslenker Tito jedoch hat Ivanji keine Biografie | |
verfasst. Doch in seiner kleinen, mit Büchern vollgestopften Wohnung stand | |
auf einem Wohnzimmertischchen ein kleines gerahmtes Tito-Porträt mit | |
persönlicher Widmung. Ivanji, Zeit seines Lebens ein liberaler Freigeist, | |
sah sich selbst nur in einer Hinsicht als Ideologen: als Anhänger | |
Jugoslawiens. Er bezeichnete Tito als aufgeklärten Diktator und sagte mir | |
damals typisch augenzwinkernd: „Gut, er war immer ein wenig overdressed. | |
Aber im Großen und Ganzen ließ es sich gut und glücklich leben in seinem | |
Staat.“ | |
Auch Ivan Ivanji war natürlich ein Mann seiner Zeit. Er liebte gute Anzüge, | |
gute Hotels, gutes Essen, höfliche Kellner, hübsch gekleidete Frauen und | |
gut frisierte Enkelinnen. Er konnte über Goethe genauso ausführlich und in | |
aller Genauigkeit sprechen wie über die Beschaffenheit, die das Fleisch | |
haben muss, um zu Čevape verarbeitet zu werden, so wie über die Eignung von | |
Obstsorten für guten Schnaps, den er stets jedem Gast servierte, der auf | |
seinem Wohnzimmersofa saß. | |
Der bis zuletzt wie ein kleiner Junge mit ewigem Lächeln im Gesicht | |
wirkende Ivanji war abgesehen von seiner Haltung zu Titos Jugoslawien immer | |
darum bemüht, nach der ganzen Wahrheit zu suchen. Trotz seines | |
beeindruckenden Gedächtnisses betonte Ivanji immer wieder, ganz redlicher | |
Intellektueller, große und starke Zweifel an seiner Erinnerung zu haben. | |
Und dass das einer der Gründe sei, so viel zu schreiben. Der Historiker und | |
ehemalige Leiter der Gedenkstätte Buchenwald, Volkhard Knigge, ein Freund | |
Ivanjis, interpretierte dessen unermüdliches Schreiben als Kunst der | |
Scheherazade: „Geschichten erzählen, die den Tod für eine Nacht aufhalten, | |
und noch eine und noch eine.“ Ivanji deutete sein eigenes Tun wie immer | |
nüchterner: „Ich schreibe, um zu unterhalten.“ | |
Ivanjis letzter Roman liegt fertig lektoriert bei seinem Verlag und | |
erscheint in den nächsten Wochen. Insgesamt umfasst sein | |
literarisch-publizistisches Werk über 150 bibliografische Angaben – worin | |
Zeitungsartikel nicht mal eingeschlossen sind. | |
In der taz veröffentlichte er zuletzt nach dem Massaker der Hamas in Israel | |
2023 [6][zwei Texte], die für großes Aufsehen sorgten. [7][Er schrieb | |
darin]: „Ich habe immer gesagt: Für Hitler bin ich Jude, aber auch sonst | |
bin ich mit ihm nicht einer Meinung. Doch jetzt, nach der blutrünstigen | |
Orgie, die die Mörderbande der Hamas am 7. Oktober begangen hat, ist es | |
anders: Ich fühle mich zum ersten Mal seit meiner Befreiung aus dem | |
Konzentrationslager vor 78 Jahren als Jude.“ | |
## Der Ehrenbürger von Weimar | |
Dass er jedes Jahr zu den Gedenkfeiern nach Deutschland eingeladen wurde, | |
hatte er mal in seiner unnachahmlichen Art so kommentiert: „Ich habe | |
lebenslänglich Buchenwald bekommen. Es ist für mich zur zweiten Heimat | |
geworden“. 2019 verlieh ihm Ministerpräsident Bodo Ramelow bei der Feier | |
seines 90. Geburtstags in Belgrad den Thüringer Verdienstorden, ein Jahr | |
später wurde Ivanji Ehrenbürger von Weimar. | |
Am vergangenen Mittwoch, am 8. Mai, dem Tag der Niederlage | |
Nazi-deutschlands, hatte er im Nationaltheater [8][aus seinem Buch | |
„Buchstaben aus Feuer“] gelesen. Der Roman hat die Geschichte des | |
Buchenwald-Häftlings und späteren DDR-Architekten Franz Ehrlich zur | |
Grundlage, der die Inschrift des Lagers „Jedem das Seine“ gestalten musste. | |
Ehrlich verstirbt im Roman bei einem Besuch der Gedenkstätte Buchenwald. | |
Ivanji ging nach getaner Arbeit am 9. Mai, so wie er es immer machte, in | |
Goethes Lieblingsrestaurant Zum weißen Schwan. Dort aß er genüsslich | |
Spargel, trank einen Weißwein und ließ sich dann von seinem Sohn Andrej zum | |
Hotel Elephant begleiten, dem Hotel, in dem nicht nur Goethe, sondern auch | |
Hitler gern übernachtet hatte. Er zog seinen Pyjama an und schlief ein. | |
Sein Sohn wollte ihn morgens zum Frühstück abholen, aber Ivan Ivanji sollte | |
nicht mehr aufwachen. | |
10 May 2024 | |
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## AUTOREN | |
Doris Akrap | |
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