# taz.de -- Geburtstagsfeier von Ivan Ivanji: Erzählen gegen den Tod | |
> Der Literat Ivan Ivanji hat Auschwitz und Buchenwald überlebt – und war | |
> der Übersetzer Titos. Unsere Autorin war bei seinem 90. Geburtstag . | |
Bild: Ivan Ivanji wenige Tage nach seinem 90. Geburtstag | |
BELGRAD taz | Bei der Premiere von Ivan Ivanjis Roman „Der Tod auf dem | |
Drachenfels“ in der Stadtbibliothek von Belgrad wirft ihm seine Lektorin | |
vor, er habe den Stoff für drei Romane in diesem einen Buch verschwendet. | |
Das war 1982. Die Lektorin konnte damals nicht wissen, dass dieser | |
Schriftsteller noch mindestens 20 weitere Bücher schreiben würde. | |
Ivan Ivanji ist gerade 90 geworden. Sein Leben würde einem Filmemacher | |
Stoff für mindestens drei dreistündige Biopics liefern: Er hat Auschwitz | |
und Buchenwald überlebt, er war Dramaturg, Direktor und Intendant des | |
Belgrader Nationaltheaters. Er hat Günter Grass, Heinrich Böll, Bertolt | |
Brecht ins Serbische übersetzt, Danilo Kiš ins Deutsche. Er hat mit dem | |
jugoslawischen Nobelpreisträger Ivo Andrić im jugoslawischen | |
Schriftstellerverband als Sekretär gearbeitet und war mit dem deutschen | |
Nobelpreisträger Günter Grass eng befreundet. | |
Er hat eine Wochenzeitung gegründet und war als Journalist und Essayist für | |
Vreme, Spiegel, WDR und auch die taz tätig. Er war Kulturattaché der | |
jugoslawischen Botschaft in Bonn und Berater im jugoslawischen | |
Außenministerium. Er war bei der Gründungskonferenz der KSZE in Helsinki | |
und bei der Konferenz der Blockfreien-Bewegung in Havanna. Er war 15 Jahre | |
Titos Dolmetscher. Was er vorzieht, lieber nicht zu sein, ist „Zeitzeuge“: | |
„Was für ein abscheuliches Wort“. | |
Es ist Samstag, der 26. Januar, zwei Tage nach Ivanjis Geburtstag und einen | |
Tag vor dem Jahrestag der Befreiung von Auschwitz. Belgrad, die ehemalige | |
Hauptstadt der sozialistischen Föderation Jugoslawien – eigentlich Beograd, | |
die weiße Stadt – macht ihrem Namen alle Ehre: tagelanger Schneefall hüllt | |
die einst so wunderschöne Metropole an Save und Donau in einen flauschigen | |
weißen Bademantel, von dem die geschundene, verfallende, schwarzgrau | |
gewordene Hauptstadt Serbiens bedeckt wird. | |
Kurz nach 15 Uhr kommt Ivanji in den vierten Stock des klobig | |
sozialistischen Hauses der Presse am Platz der Republik im Zentrum der | |
Stadt. Eine Jazzband baut gerade Instrumente auf, Kellner bringen Kaffee | |
und Schnaps. Ivanji zu Ehren wird hier gleich eine Feier stattfinden. Auch | |
der deutsche Botschafter, der Leiter der Gedenkstätte Buchenwald und der | |
Ministerpräsident von Thüringen werden kommen. | |
## Regierung wird immer autoritärer | |
„Wenn jemand von der serbischen Regierung auftaucht, schmeiß ich ihn | |
eigenhändig raus“, hatte Ivanjis Sohn Andrej am Abend vorher beim Gespräch | |
im Restaurant angekündigt. Deren Mitglieder würden jede Gelegenheit nutzen, | |
um sich zu profilieren. In ein paar Stunden werden hier auf dem Platz der | |
Republik wie schon seit Wochen Zehntausende gegen die Regierung | |
demonstrieren, die immer autoritärer gegen Oppositionelle vorgeht. | |
Am nächsten Tag wird die Regierung eine Gedenkfeier auf dem Gelände des | |
ehemaligen Belgrader Konzentrationslagers Sajmište organisieren. Ivan | |
Ivanji, dessen Mutter dort ermordet wurde, wird an der Zeremonie nicht | |
teilnehmen. „Den Vučić mag ich ganz und gar nicht“, sagt der Schriftstell… | |
über den Präsidenten. „Mit dem würde ich gern lieber nirgendwo erscheinen.… | |
Ivanjis Familie, Lektoren, Journalisten, Schriftsteller, Akademiker, alte | |
Freunde, der deutsche Botschafter und andere trudeln langsam nach und nach | |
ein. Ivanji trägt weiße Haare, einen maßgeschneiderten Anzug, der ihm ein | |
wenig zu groß geworden ist, und wirkt wenig aufgeregt von dem ganzen | |
Brimborium um ihn herum. Wer ihm in die Augen schaut, erkennt dort aber | |
schon seinen typisch schelmischen Blick. | |
## Von Beruf ist er Literat | |
Fragt man Ivanji danach, wie er sich selbst bezeichnet, lautet seine | |
Antwort: „Ich bin Literat. Aber der einzige Titel, den ich offiziell tragen | |
darf, ist Diplombautechniker.“ Zum Architekten habe er es leider nicht | |
geschafft. Über deskriptive Geometrie spricht er dennoch genauso | |
detailliert wie über die drei Personen, von denen er gelernt hat, was gutes | |
Essen und Trinken ist, darunter ein KZ-Häftling, der später Bürgermeister | |
einer französischen Kleinstadt wurde. | |
Ivanji schreibt seine Romane auf Deutsch und auf Serbisch. „Mein Deutsch | |
ist besser als mein Serbisch“, erzählt er. In seiner Familie in Zrenjanin, | |
zwischen Belgrad und Ungarn gelegen, gehörte Deutsch so selbstverständlich | |
zur Alltagssprache wie Serbisch und Ungarisch. Ivanjis Eltern, beide im NS | |
ermordete Juden, waren in Deutschland ausgebildete Ärzte, sprachen | |
untereinander auch Latein, wenn sie nicht wollten, dass die Kinder sie | |
verstehen. | |
Wir sprechen über seinen gerade auf Deutsch erschienenen Roman „Tod in | |
Monte Carlo“: „Den jüdischen Großvater Moritz hatte ich wirklich. Er war | |
auch tatsächlich Arzt und hatte auch diesen Freund, den | |
Zuckerfabrikdirektor Viktor. Wahr ist auch, dass beide in Monte Carlo | |
zusammen Urlaub gemacht haben und Viktor später in Serbien von den Nazis | |
erhängt wurde, weil er Jude war“, erzählt Ivanji. | |
Im Roman ertränkt sich Moritz im Mittelmeer vor Monte Carlo, als er von der | |
Ermordung seines Freundes hört. In Wirklichkeit hat sich Ivanjis Großvater | |
in seinem Geburtsort Zrenjanin, in dem auch Ivanji geboren wurde, selbst | |
getötet. Nachdem sein Freund erhängt worden war, hatte er sich und seiner | |
Ehefrau eine Morphiumspritze gesetzt und zuvor ein Schreiben hinterlassen: | |
„Versucht nicht, mich zu retten, ich hatte ein so schönes Leben, dass ich | |
mir das Ende nicht verderben lasse.“ | |
## Die Kunst der Scheherazade | |
Trotz seines beeindruckenden Gedächtnisses betont Ivanji immer wieder, | |
große und starke Zweifel an seiner Erinnerung zu haben. Er ist erklärter | |
Anhänger Sigmund Freuds. Und vielleicht auch deswegen arbeitet er sich bis | |
heute durch seine Erinnerungen in Form des unendlich sich fortsetzenden | |
Schreibens. Aber das ist eine allzu übergriffige Deutung: Der Historiker | |
und Leiter der Gedenkstätte Buchenwald, Volkhard Knigge, interpretiert | |
Ivanjis unermüdliches Schreiben als Kunst der Scheherazade: „Geschichten | |
erzählen, die den Tod für eine Nacht aufhalten, und noch eine und noch | |
eine.“ Ivanji deutet sein eigenes Tun wie immer schnörkelloser: „Ich | |
schreibe, um zu unterhalten.“ | |
Ob in seinem Roman über den Aufstand in Ungarn 1956 oder im „Aschenmensch | |
von Buchenwald“, immer geht es um Figuren, die in Situationen geraten, die | |
sie mal mehr, mal weniger freiwillig zu Mittätern machen. Oder sie dazu | |
zwingen, an eigenen Entscheidungen zu zweifeln – und an den Möglichkeiten, | |
überhaupt irgendetwas alleine zu entscheiden. Immer wieder stellt der | |
Erzählende alles grundsätzlich in Frage. | |
So kann Ivanji bis heute nicht nachvollziehen, warum die ebenfalls in | |
Buchenwald inhaftierten Schriftsteller H. G. Adler und Jorge Semprún nicht | |
darüber sprachen, dass sie in den Lagerschreibstuben gearbeitet hatten, was | |
einen deutlichen Unterschied zu der Masse der Inhaftierten darstellte. Das | |
festzustellen hat bei Ivanji nichts mit einer moralischen Beurteilung zu | |
tun. Es geht ihm darum, schonungslos die ganze Geschichte zu erzählen. Und | |
dazu gehören eben auch die Schmuddelecken, die man gerne hinter einem | |
Vorhang verstecken würde. | |
Die Rolle seines eigenen Onkels bei seiner Deportation ist so eine | |
Schmuddelecke. Der Onkel, ein serbischer Jude, der mit einer Deutschen | |
verheiratet war, hatte ihn bei sich versteckt. Doch als die Nazis ins Haus | |
kamen, hat er ihn möglicherweise an sie verraten. Möglicherweise aber auch | |
nicht. Denn möglicherweise hing am Verrat des einen die Rettung eines | |
anderen. „Die Wahrheit, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit“, | |
schreibt Ivanji in seinem Roman „Mein schönes Leben in der Hölle“, wird er | |
nie erfahren. | |
## Ein Orden von Bodo Ramelow | |
Ivanjis Sohn Andrej erzählt, dass sein Vater beinahe nicht zu seiner | |
eigenen Geburtstagsfeier gekommen wäre, weil er befürchtet hatte, so ein | |
Fest mit Rednern könne nur ein „Nachruf zu Lebzeiten“ werden. Ivanji wird | |
später gewohnt spitzbübisch über die Feier sagen, dass er „brav dasitzen | |
und ein freundliches Gesicht machen“ musste. Dabei sieht man ihm, der das | |
Pathos scheut wie schlechten Schnaps, während der Feier durchaus an: Er ist | |
gerührt. | |
Er ist von den Rednern, darunter der serbische Schriftsteller Dragan | |
Velikić und der legendäre Philosophieprofessor Dragoljub Mićunović, | |
gerührt. Aber auch davon, dass Bodo Ramelow persönlich erschienen ist, um | |
ihm den höchsten Thüringer Verdienstorden zu überreichen. „Ich fühle mich | |
ein bisschen als Thüringer“, bedankt sich Ivanji bei ihm. | |
„Ich habe lebenslänglich Buchenwald bekommen. Es ist für mich zur zweiten | |
Heimat geworden“, sagt Ivanji bei anderen Gelegenheiten gern und schiebt | |
hinterher, dass dies zwar makaber klinge, aber nun einmal stimme: | |
Schließlich sei er jedes Jahr auf Einladung der Gedenkstätte in Weimar. Im | |
Auftrag des WDR sei er 1994 nach Buchenwald gegangen, um eine Doku über | |
„sein Lager“ zu machen. | |
Der Historiker Knigge hatte gerade die Leitung der Gedenkstätte übernommen. | |
„Wenn ein Überlebender kommt, bleibt alles andere stehen und liegen“, hatte | |
der ihn begrüßt. „Seitdem sind wir befreundet.“ Knigge erinnert sich | |
ebenfalls sehr genau an diesen Moment: „Da kam ein Überlebender des NS, | |
der mich interviewen wollte. Das war normalerweise andersrum.“ Knigge, Sohn | |
eines Wehrmachtssoldaten, imponierte Ivanjis Haltung: „Ihm ging es nicht | |
darum, die Banalität des Grauens nachzuerzählen. Ivanji hat nicht nach | |
seinem Schicksal gefragt, sondern nach den kulturpolitischen Implikationen | |
der Vergangenheit.“ | |
Ivan Ivanji ist der letzte Lebende einer Reihe jüdischer Intellektueller, | |
die mit ihm im KZ Buchenwald waren: Jorge Semprún, Imre Kertész und | |
Stéphane Hessel. Anlässlich der Befreiungsjubiläen 2010 und 2015 hatte die | |
Gedenkstätte das komplette Hotel Elephant in Weimar, in dem sowohl Goethe | |
als auch Hitler übernachtet hatten, für die Überlebenden gebucht. „Sie alle | |
stehen für ein Nachdenken über Geschichte und Kultur im europäischen | |
Maßstab“, erzählt Knigge. „Insofern war Buchenwald eine Denkschule.“ Iv… | |
entgegnet: „Als Denkschule habe ich die Aufenthalte dort nicht empfunden. | |
Ich bin da viel zynischer, einfacher und unpathetisch.“ Er erzählt lieber, | |
dass er gespannt war, welches Zimmer er und seine Ehefrau Dragana bekommen | |
und ob es die Suite von Hitler sein würde. | |
## Knigge und Ivanji | |
Knigge nennt Ivanji „einen echten Habsburger“: Er sei Liebhaber von guten | |
Hotels, gutem Essen, höflichen Kellnern, hübsch gekleideten Frauen und gut | |
frisierten Enkelinnen. „In Ivanji begegnet einem ein europäischer | |
Intellektueller aus einer europäischen Kultur, die die Nazis zerstört | |
haben“, sagt Knigge. Ivanji sagt über Knigge: „Er ist sehr emotional.“ U… | |
er zitiert Jorge Semprún: „Knigge ist den Jahren nach unser Sohn und unser | |
Kapo, weil er das Ganze hier leitet.“ Knigge und Ivanji – sie wirken | |
wirklich wie alte beste Freunde, die sich neckend ihre Zuneigung zeigen. | |
„Im Übrigen empfinde ich nicht die KZ-Romane als mein Opus summum, sondern | |
meine Kaisertrilogie“, betont Ivanji. Diokletian, Konstantin, Julian – wie | |
kam er eigentlich auf die? „Zufall, wie so vieles“, sagt er. So wie auch | |
der Job als Dolmetscher Titos? „Jein. Hans-Dietrich Genscher hat mir mal | |
das schönste Kompliment gemacht. Er sagte: ‚Ich verstehe zwar Ihre Sprache | |
nicht, aber wie Sie es sprechen, klingt sehr vertrauenswürdig.‘ Er hat sich | |
dann von mir in beide Richtungen übersetzen lassen.“ | |
Nach dem Tod von Tito habe Günter Grass ihn einmal gefragt, wann er die | |
Biografie über seinen langjährigen Chef schreiben würde. „Ich hab es nie | |
getan, weil ich Archive nicht besonders mag und meine Zeit nicht damit | |
verschwenden wollte, in Dokumenten zu wühlen. Darüber hinaus hätte ich eine | |
Lobeshymne schreiben müssen“, erzählt Ivanji. In Belgrad, von wo aus Tito | |
einst Jugoslawien regierte und wo er begraben liegt, boten noch in den | |
nuller Jahren Souvenirverkäufer Küchenmagneten, Tassen oder Zigarettenetuis | |
mit Titos Konterfei an. Heute sieht man an den Souvenirständen | |
Küchenmagneten mit dem Konterfei Nikola Teslas neben dem Wladimir Putins | |
und des serbisch-orthodoxen Heiligen Sava. | |
In Ivan Ivanjis überschaubarer, mit Büchern vollgestopfter Wohnung steht | |
noch ein kleines Tito-Porträtfoto auf einem Tischchen, gerahmt und mit | |
persönlicher Widmung. Ivanji weiß, dass er in Jugoslawien Privilegierter | |
war. Er gehörte nicht zu denen, die enteignet oder politisch verfolgt | |
wurden. Er findet, dass über Tito „viel Mist“ geschrieben wird. „Gut, er | |
war immer ein wenig overdressed. Aber im Großen und Ganzen ließ es sich gut | |
und glücklich leben in seinem Staat“, sagt er typisch augenzwinkernd. Und | |
fügt noch an: „Eine Demokratie muss so etwas wie die AfD aushalten. Unter | |
einem aufgeklärten Diktator wie Tito hätte es so was nicht gegeben.“ | |
## „Er war der Star“ | |
Einer der Gäste auf der Geburtstagsfeier ist Milan Predojević, der letzte | |
jugoslawische Botschafter in der DDR. Er stellt sich mir vor: „Herr Ivanji | |
und ich waren mal in einer ZDF-Doku über das Leben von Diplomaten zu sehen. | |
Er war der Star. Ich und der Botschafter nur seine Assistenten.“ Predojević | |
war in den 1970ern Leiter der Wirtschaftsabteilung der jugoslawischen | |
Botschaft in Bonn. Damals arbeitete auch Ivanji dort, als Leiter der | |
Abteilung Kultur und Presse. | |
„Die Abteilung hätte eigentlich zwei Chefs gebraucht, denn die Kultur hat | |
selten eine gute Presse und die Presse hat meist keine Kultur“, bemerkt | |
Ivanji genüsslich grinsend und fügt schnell hinzu: „Der Honecker hat mir | |
mal erzählt, er habe die Doku angeschaut.“ Erich Honecker? „Ja. Willy | |
Brandt, Helmut Schmidt, Bruno Kreisky etc. – als Dolmetscher von Tito hat | |
man mich die Leute ja nicht nur übersetzen, sondern auch mit ihnen | |
herumfahren lassen.“ | |
Der Mann, der mit 15 nach Auschwitz deportiert und, weil er auf der Rampe | |
„arbeitsfähig“ gesagt hatte, sieben Tage später ins Lager Buchenwald | |
überstellt wurde, kam den Regierenden und Mächtigen im Nachkriegseuropa | |
äußerst nahe. Er erhielt sich ihnen gegenüber aber genau die gleiche | |
ironische Distanz wie zu sich und seinem eigenen Leben. „Wir haben rosige | |
Zeiten erlebt in Bonn“, resümiert der Ex-Botschafter. „Für mich war die | |
Arbeit in der Botschaft nach dem KZ und dem Dienst in der jugoslawischen | |
Volksarmee das Drittschlimmste in meinem Leben“, erwidert Ivanji. Seine | |
Arbeit in der Botschaft nennt er sein „kurzes Gastspiel in der Politik“. | |
„Den Diplomaten hab ich nur so gut gespielt, wie ich konnte. Den echten | |
Berufsdiplomaten bin ich auf die Nerven gegangen.“ „Mir nicht,“ entgegnet | |
der Botschaftskollege. „Mag sein“, gesteht Ivanji zu. „Aber du hast mir | |
ständig die Sekretärin weggenommen, die wir uns teilen mussten, weil deine | |
Geschäfte wichtiger waren als meine.“ | |
Jugoslawien war in gewisser Weise die Vorwegnahme der europäischen Idee, | |
der Versuch, mit einem transnationalen Staat und einem gemeinsamen | |
Wirtschaftsraum die nationalistischen Tendenzen zu überwinden. Als der | |
Staat blutig auseinandergeschlagen wurde, sah sich Ivanji 1992 zum zweiten | |
Mal gezwungen, seine Heimat zu verlassen, und floh mit Frau und Sohn nach | |
Wien. Die Losung „Nie wieder“ hatte sich für ihn nicht bewahrheitet. | |
## Eine einzige Botschaft | |
„Nie wieder Auschwitz“ drohe zu einem Slogan wie „Rettet die Robbenbabys�… | |
zu werden, die deutsche Erinnerungskultur zur Moralmaßnahme, einer „neuen | |
Form von Gesinnungsschule“, meint der Leiter der Buchenwald-Stiftung. | |
Knigge sieht die Aufgabe der Gedenkstätten in der „Arbeit an einem kritisch | |
reflexiven Geschichtsbewusstsein“. Zur Zukunft der Gedenkstätten sagt | |
Ivanji: „Was da gemacht wird, interessiert mich, aber es geht mich nichts | |
mehr an.“ Es sei nicht die Aufgabe der Überlebenden, zu bestimmen, was da | |
stattfinden soll. Er habe nur eine einzige Botschaft: „Der Tod eines | |
Kindes, das vertrauensvoll die Hand der Mutter hält und dann im Meer | |
ersäuft, ist genauso schrecklich wie der Tod eines Kindes, das | |
vertrauensvoll die Hand der Mutter hält und in die Gaskammer geht. Es geht | |
nicht darum, die Gaskammer mit dem Flüchtlingsleben zu vergleichen.“ Es | |
gehe darum, dem Slogan „Nie wieder“ einen Sinn zu geben. | |
Ivanji nennt sich „Pessimist“. „Das hat den Vorteil, dass ich freudig | |
überrascht werden kann. Zum Beispiel davon, dass es wirklich gute Menschen | |
gibt.“ In seinen Dankesworten appelliert Ivanji an die serbische | |
Gesellschaft, es den Deutschen gleichzutun: die eigenen Verbrechen | |
aufarbeiten und die Erbfeindschaften in Ex-Jugoslawien beenden. | |
Bevor die Geburtstagsfeier vollständig zu Schnaps und Wein und Schnittchen | |
übergeht, macht Knigge Ivanji noch eine öffentliche Liebeserklärung: | |
„Niemand kann so gut erklären, was gute Ćevapčići ausmacht und wo man sie | |
kriegt.“ Das habe er ihm erst gestern wieder bewiesen. Wo man die besten | |
Ćevapčići in Belgrad essen könne, frage ich Ivanji hinterher. „Nirgends. | |
Die gibt es nur noch in Bečkerek.“ Und er beginnt ausführlich zu erzählen, | |
wie alt das Fleisch der Ćevapčići sein muss – „fast faul“ –, welche … | |
– auch vom Pferd – dabei sein müssen und welches Holz entscheidend dazu | |
beiträgt, wie gut sie werden. Als ich Knigge berichte, Ivanji habe | |
korrigiert, er habe gar nicht über Ćevapčići, sondern über Steaks | |
gesprochen, lacht der Gedenkstättenleiter. „Komplimente kann er einfach | |
nicht annehmen.“ | |
9 Feb 2019 | |
## AUTOREN | |
Doris Akrap | |
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