# taz.de -- Humanitäre Lage in Gaza: Alle Wege führen nach Rafah | |
> Seit Tagen laufen Verhandlungen, den ägyptischen Grenzübergang zu öffnen, | |
> um Hilfsgüter nach Gaza zu liefern. Aber das entscheidet Ägypten nicht | |
> allein. | |
Bild: Hunderte von Lkws warten an dem Grenzübergang Rafah darauf, nach Gaza zu… | |
BEIRUT taz | Es ist ein Ort, der immer zentraler wird, wenn es darum geht, | |
Menschen aus dem Gazastreifen heraus- und humanitäre Hilfe hineinzubringen: | |
der [1][ägyptische Grenzübergang Rafah]. Es ist der einzige Zugang zum | |
Gazastreifen, der nicht von Israel kontrolliert wird, und damit der einzige | |
Ort, über den während der israelischen Totalblockade humanitäre Hilfe | |
[2][in den Gazastreifen] gelangen und auch für die Menschen ein humanitärer | |
Korridor geschaffen werden könnte. | |
Doch seit dem Hamas-Überfall auf Israel ist der Grenzübergang geschlossen. | |
Viermal wurde seitdem dessen unmittelbare Umgebung durch Israel | |
bombardiert, dabei gab es auch Verletzte auf der ägyptischen Seite. Das | |
letzte Mal hat Israel den Übergang auf palästinensischer Seite am | |
Montagabend bombardiert. Auf dieser Seite klafft ein Krater in der | |
Zugangsstraße. | |
Seit Tagen laufen nun Verhandlungen, in denen Ägypten, Israel und die Hamas | |
auch mit US-Vermittlung in Kontakt stehen. Ägypten versucht dabei ein | |
Junktim. Es möchte die Ausreise von Menschen mit ausländischen Pässen, | |
darunter auch Deutsche und Österreicher, damit verbinden, dass humanitäre | |
Hilfe in den Gazastreifen ungehindert hineingeliefert werden kann. Am | |
Montag sah es kurz so aus, als wäre dafür ein mehrstündiger | |
Waffenstillstand vereinbart worden. Aber diese Meldung wurde schnell sowohl | |
von Israel als auch von der Hamas dementiert. | |
„Die israelische Regierung hat bisher noch keine Position bezogen zu der | |
Möglichkeit, den Grenzübergang Rafah zu öffnen“, erklärte der ägyptische | |
Außenminister Samih Schukri bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit | |
seiner französischen Amtskollegin Catherine Colonna am Montagvormittag in | |
Kairo. Über eine Luftbrücke zum Flughafen im ägyptischen al-Arisch landeten | |
bereits zahlreiche Hilfslieferungen. Auch EU-Staaten wollen im Laufe der | |
Woche humanitäre Güter nach al-Arisch liefern, kündigte | |
Kommissionspräsidenten Ursula von der Leyen an. | |
Zudem verdreifacht die EU ihre [3][humanitäre Hilfe auf über 75 Millionen] | |
Euro, um der Zivilbevölkerung in Gaza zu helfen. Am Dienstagmorgen wurden | |
Teile der bereits vorhandenen Lieferungen in Richtung des Grenzübergangs | |
Rafah gebracht, in der Erwartung, dass der Übergang demnächst geöffnet | |
wird, bevor eine israelische Bodenoffensive in Gaza startet. Hunderte von | |
Lkws warten dort bereits darauf, Einlass in den Gazastreifen zu bekommen. | |
Die ägyptische Regierung steht unter Druck der Öffentlichkeit, endlich | |
humanitäre Hilfe in den Gazastreifen zu bringen. Aber es ist der | |
potenzielle Verkehr in die andere Richtung, der ihr Sorgen macht. Sie | |
fürchtet einen palästinensischen Exodus aus dem Gazastreifen aus | |
Sicherheits-, Wirtschafts- und vor allem politischen Gründen. | |
Der ägyptische Präsident und ehemalige Militärchef Abdel Fattah al-Sisi und | |
sein Sicherheitsapparat fürchtet ein Infiltrieren von Hamas-Kämpfern nach | |
Ägypten und in den Nordsinai, wo die ägyptische Armee ohnehin schon seit | |
Jahren in einem Katz-und-Maus-Spiel gegen lokale militante islamistische | |
Gruppen kämpft. Die Hamas ist auch ein Sprössling der ägyptischen | |
Muslimbruderschaft, die seit der Machtübernahme des Militärs in Ägypten | |
2013 heftig bekämpft wird. [4][Vertreter der Muslimbrüder] sind entweder im | |
Exil, sitzen in Ägypten zu Tausenden im Gefängnis oder leben im Untergrund. | |
Jede Hamas-Infiltration nach Ägypten wird beim dortigen Sicherheitsapparat | |
die Alarmglocken läuten lassen. | |
Der zweite Grund für das ägyptische Zögern ist ein wirtschaftlicher. Im | |
hochverschuldeten Ägypten, das wirtschaftlich an der Wand steht, leben, | |
laut Weltbank über 60 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze oder | |
stehen kurz davor, unter diese abzustürzen. Ägypten beherbergt schon heute | |
Millionen Flüchtlinge aus Syrien, dem Irak, Äthiopien, Eritrea und andren | |
afrikanischen Ländern. In den letzten Monaten kamen dann Hunderttausende | |
Menschen dazu, die vor dem Krieg im Sudan geflohen sind. | |
So sind wohl auch Aussagen von ägyptischen Offiziellen zu verstehen, die | |
die europäische Seite warnen. „Ihr wollt, dass wir eine Million Menschen | |
aufnehmen. Wir könnten sie ja nach Europa schicken. Wenn euch die | |
Menschenrechte so wichtig sind, dann nehmt ihr sie doch“, wird ein nicht | |
namentlich genannter hoher ägyptischer Beamter [5][in der Financial Times] | |
zitiert. | |
Der dritte Grund ist ein politischer und ein in Ägypten sehr tief | |
sitzender. Ägypten befürchtet, ein Teil eines größeren Vertreibungsplans | |
gegen die Palästinenser aus dem Gazastreifen zu werden. Ein Szenario, das | |
seit der [6][15-jährigen israelischen Blockade] des Gazastreifens in | |
Ägypten immer wieder diskutiert wird. Dabei geht es weniger darum, die | |
Palästinenser aus humanitären Gründen temporär nach Ägypten kommen zu | |
lassen, sondern darum, dass sie dann möglicherweise nicht mehr zurückdürfen | |
und permanent im Nordsinai angesiedelt werden müssten. Der ägyptische | |
Präsident al-Sisi warnte vor ein paar Tagen bei einer Rede vor Kadetten in | |
einer Militärakademie sogar vor einer möglichen „Liquidierung der | |
Palästinenserfrage“. | |
„Die Drohung, den Gazastreifen von seinen Menschen zu räumen und die | |
Palästinenser von ihrem Land zu vertreiben, ist nicht neu“, sagte die | |
bekannte ägyptische Moderatorin Lamis al-Hadidi in ihrer Sendung „Das | |
letzte Wort“ im vom Sicherheitsapparat kontrollierten Fernsehsender ON-TV. | |
Sie erinnerte an Szenarien, die seit Jahrzehnten in Israel vor allem unter | |
den radikalen Siedlern diskutiert werden, die Palästinenser des | |
Westjordanlandes nach Jordanien zu vertreiben. Ähnliches könnte nun den | |
Palästinensern im Gazastreifen drohen. „Ihr Israelis vertreibt die | |
Palästinenser von überall und fordert sie auf, ihre Heimat zu verlassen. | |
Ihr belagert sie im Gazastreifen von allen Seiten, bis vor ihnen nichts | |
anderes liegt als die ägyptische Grenze“, schlussfolgerte sie. | |
Der Grenzübergangs in Rafah ist auch das Thema in ägyptisch-amerikanischen | |
Gesprächen. US-Präsident Joe Biden und al-Sisi waren bereits am Montag in | |
telefonischem Kontakt, um „die sich verschlechternde humanitäre Krise in | |
Gaza zu lindern, in Koordination mit der UNO, der palästinensischen | |
Selbstverwaltungsbehörde, Jordanien, Israel und anderen regionalen | |
Partnern“. Im Anschluss an seine heutige Reise nach Israel wird Biden auch | |
in die jordanische Hauptstadt Amman reisen, um dort den jordanischen König | |
Abdullah, den ägyptischen Präsidenten al-Sisi und Palästinenserpräsident | |
Mahmud Abbas zu treffen. Einer der zentralen Punkte dieser Gespräche wird | |
die Öffnung des Grenzüberganges in Rafah sein. | |
17 Oct 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Lage-in-Gaza/!5966015 | |
[2] /Humanitaere-Lage-in-Gaza/!5963593 | |
[3] https://germany.representation.ec.europa.eu/news/humanitare-hilfe-fur-gaza-… | |
[4] /Repression-in-Aegypten/!5783766 | |
[5] https://www.ft.com/content/feab5a29-a10a-4d6c-9035-ece2546c12a3 | |
[6] /Vorgeschichte-des-Angriffs-auf-Israel/!5966215 | |
## AUTOREN | |
Karim El-Gawhary | |
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