# taz.de -- Repression in Ägypten: Abrechnung mit den Muslimbrüdern | |
> Ägyptens Militärregime geht gnadenlos gegen Andersdenkende vor. Nun droht | |
> erstmals prominenten Islamisten die Hinrichtung. | |
Bild: Wartet auf seine Hinrichtung: der führende Muslimbruder Mohamed Beltagy | |
BERLIN taz | Das letzte Mal, dass Omar mit seinem Verwandten Osama Yaseen | |
sprechen konnte, war im Gerichtssaal. Während der Verhandlungen saß dieser, | |
ein bekannter ägyptischer Muslimbruder und einstiger Minister, in einem | |
Glaskäfig. Doch an diesem Tag im März 2018 schlossen die Wächter kurz die | |
Tür auf, damit sich die beiden Beileid aussprechen konnten. Omars | |
Großmutter war verstorben. | |
Nun wartet Omar auf den Tod eines weiteren Verwandten: auf die Hinrichtung | |
Osamas. „Sie behandeln ihn wie ein Tier, wie eine Ratte“, sagt der Ägypter, | |
der heute im Exil lebt und seinen echten Namen aus Sicherheitsgründen nicht | |
in der Zeitung lesen möchte. Er verstehe einfach nicht, dass ein ehemaliger | |
Minister hingerichtet werden soll. „Osama hat Großartiges geleistet für das | |
Land. Wie kann er von einem Moment zum anderen zum Terroristen erklärt | |
werden?“ | |
Osama Yaseen war unter Ägyptens islamistischem Expräsidenten Mohammed Mursi | |
Jugendminister. Es entbehrt nicht einer gewissen Tragikomik, dass er | |
damals, von 2012 bis 2013, im selben Kabinett saß wie der heutige Präsident | |
Abdel Fattah al-Sisi. Der war Verteidigungsminister, bevor er sich mit dem | |
Militär an die Staatsspitze setzte und Mursi, Ägyptens ersten nach der | |
Revolution von 2011 frei gewählten Präsidenten, wieder entmachtete. | |
Seit dem Putsch im Juli 2013 geht Präsident Sisi mit einer nie dagewesenen | |
Härte gegen die Muslimbruderschaft vor, deren Partei nach der Revolution | |
rund 40 Prozent der Sitze im Parlament gewonnen hatte und sich binnen | |
weniger Monate zur stärksten Kraft im Land aufschwang. Hunderte, wenn nicht | |
Tausende Anhänger*innen verschwanden hinter Gittern, die Bruderschaft | |
wurde verboten und als Terrororganisation eingestuft. | |
Sollte das Sisi-Regime Osama Yaseen und andere prominente Islamisten wie | |
Mohamed Beltagy nun tatsächlich hinrichten lassen, würden erstmals führende | |
Köpfe der Muslimbrüder mit dem Tod bestraft. Im Juni hat das höchste | |
Strafgericht Ägyptens die Todesurteile für Yaseen, Beltagy und zehn weitere | |
Verurteilte bestätigt. „Er will sie tot sehen“, ist sich Omar sicher, „v… | |
allem Osama und Mohamed Beltagy. Das sind große Namen in der | |
Muslimbruderschaft.“ | |
## Massenprozess gegen die Überlebenden | |
Der Gerichtsprozess gegen die beiden bekannten Islamisten war Teil eines | |
umstrittenen Massenverfahrens. Insgesamt 739 Personen wurden angeklagt, | |
rund 400 davon verurteilte das Gericht 2018 zu jahrelangen Haftstrafen, | |
weitere rund 50 bekamen lebenslang. Im Juni nun bestätigte das oberste | |
Strafgericht die Todesstrafe für zwölf Verurteilte sowie die lebenslange | |
Haft für den Anführer der Muslimbruderschaft, Mohammed Badie. | |
„Der Prozess war ein Witz“, sagt Omar, „die Anklagen, die Zeugen, einfach | |
alles.“ Bis heute kenne er den genauen Grund für das Todesurteil gegen | |
seinen Verwandten nicht. Auch ägyptische Menschenrechtsorganisationen, die | |
nichts mit den Muslimbrüdern zu tun haben, kritisieren den Prozess als | |
„Vergeltung an politischen Gegnern der Regierung unter Abdel Fattah | |
al-Sisi“: Die Staatsanwaltschaft habe sich gerächt an den 700 Menschen, die | |
das sogenannte Rabaa-Massaker überlebten. | |
Auf Rabaa al-Adawiya, einem Platz am Rande Kairos, hatten Tausende Menschen | |
nach dem Putsch 2013 [1][ein Protestlager aufgebaut], um gegen Sisis | |
Machtübernahme zu demonstrieren. Es war damals nur eine Frage der Zeit, | |
dass das Camp aufgelöst werden würde. Doch als die Regimekräfte am 14. | |
August zuschlugen, kam es heftiger als für möglich gehalten: Nach | |
[2][Recherchen von Human Rights Watch] wurden mindestens 817 Protestierende | |
getötet, „wahrscheinlich mehr als 1.000“. | |
Der Straßenzug glich in den Tagen nach dem „Rabaa-Massaker“, wie es seither | |
heißt, einem Schlachtfeld. Der [3][britische Abgeordnete Crispin Blunt | |
verglich es] im Zusammenhang mit den Todesurteilen kürzlich mit dem | |
Tiananmen-Massaker von 1989 in China. Aufseiten der Polizei und des | |
Militärs wurde nicht ein einziger Verantwortlicher für das Blutbad zur | |
Rechenschaft gezogen. | |
Auch Osama Yaseen und Beltagy waren bei den Rabaa-Protesten dabei. Seinem | |
Verwandten werde wohl Widerstand gegen die Staatsgewalt vorgeworfen, | |
vermutet Omar. „Es geht wahrscheinlich um den Versuch, die Einsatzkräfte an | |
der Auflösung (des Camps) zu hindern.“ Die Anklagen in dem Massenprozess | |
reichten von Sachbeschädigung über das Abhalten einer bewaffneten | |
Versammlung bis hin zu Mord. | |
## Keine Solidarität im Westen | |
Was Ägypten heute für ein Land wäre, hätten die Demonstrierenden damals | |
Sisis Restauration der Militärherrschaft verhindert, weiß niemand. Das | |
Experiment wurde beendet, bevor der Kurs der Islamisten klar war: Mursi | |
hatte versprochen, demokratisch zu regieren, und angekündigt, Verträge wie | |
den Friedensvertrag mit Israel nicht anzurühren. Gleichzeitig hatte er per | |
Dekret seine Macht ausgebaut und ein Referendum über eine von Islamisten | |
ausgearbeitete Verfassung durchgepeitscht, was seine | |
autoritär-islamistische Gesinnung offenbarte. | |
„Es war eine Übergangsperiode, wir waren in einem Lernprozess“, sagt ein | |
enger Verwandter Beltagys heute, der Ägypten ebenfalls verlassen hat und | |
auch anonym bleiben möchte. Fehler gibt er zu, besteht aber darauf: „Es war | |
allemal besser als die Militärherrschaft.“ Dass die Hinrichtung Beltagys | |
nun jederzeit vollstreckt werden kann, interessiere niemanden, sagt er. „Es | |
ist keine gerechte Welt.“ | |
Auf politischen Druck aus Europa und den USA können die Verurteilten | |
tatsächlich nicht setzen. Als Islamisten brauchen sie nicht darauf hoffen, | |
dass sich der deutsche Außenminister oder gar US-Präsident Biden für sie | |
einsetzt. In Deutschland etwa fand die Bestätigung der Todesurteile in der | |
Presse kaum Beachtung. Online findet sich lediglich eine knappe | |
[4][dpa-Meldung in der Jungen Welt]. Dass al-Sisis Vorgehen nicht auf | |
Empörung stößt, frustriert Omar. „Das ist Heuchelei, das ist nicht fair“, | |
sagt er. | |
Er ist überzeugt, dass sein Verwandter nicht wegen des Protestlagers | |
sterben soll, sondern weil er mit seiner Muslimbruderschaft beim Arabischen | |
Frühling 2011 eine zentrale Rolle spielte. „Sie wollen nicht, dass so etwas | |
nochmal passiert.“ Auch Beltagys Angehöriger ist sich sicher: „Sie nehmen | |
die Muslimbrüder ins Visier, weil sie auf dem Tahrirplatz erfolgreich | |
protestiert haben und Leute aus ganz Ägypten (nach Kairo) brachten. Es geht | |
nicht um die Ideologie der Muslimbruderschaft, sondern darum, dass sie eine | |
Gefahr für die Militärdiktatur ist.“ | |
Ähnlich [5][argumentiert] Amr Magdi von Human Rights Watch: „Kurz gesagt, | |
Sisis Regierung ist dabei, alle Kräfte der potenziellen Opposition, die aus | |
dem landesweiten Aufstand in Ägypten 2011 hervorgegangen sind, | |
auszurotten.“ Er warnt: „Heute richtet der Staat Führer der | |
Muslimbruderschaft hin, die im Westen nicht besonders bekannt oder beliebt | |
sind; morgen könnte er linke oder säkulare politische Gegner hinrichten.“ | |
## Die Zahlen sind ein Geheimnis | |
Das Ausmaß des Vorgehens gegen Andersdenkende in Ägypten ist weitgehend | |
unbekannt. Immer wieder ist von [6][„mehr als 60.000 politischen | |
Gefangenen“] die Rede – eine Zahl, die auf eine [7][grobe Schätzung von | |
Human Rights Watch] von 2016 zurückgeht. Von den 60.000 sind viele | |
vermutlich längst wieder auf freiem Fuß; [8][andere sind hinzugekommen]. | |
Sicher ist nur, dass die Zahl der Todesurteile und der bekannten | |
Hinrichtungen steigt: 2020 tötete Ägyptens Justiz 107 Menschen, dreimal so | |
viele wie im Vorjahr. Im Oktober mussten 49 Menschen in nur zehn Tagen | |
sterben. Eine offizielle Statistik veröffentlicht Ägypten allerdings nicht; | |
die tatsächliche Zahl kann also auch deutlich höher liegen. | |
Das Arab Network for Human Rights spricht von rund 3.000 Todesurteilen seit | |
2014, wobei allerdings unklar ist, wie viele davon politisch motiviert | |
waren und welchen Anteil Islamist*innen daran hatten. In einem | |
[9][offenen Brief] an Sisi schrieben 63 Menschenrechtsorganisationen im | |
Juni: „Seit 2014 wurden Hunderte Menschen zum Tode verurteilt und Dutzende | |
hingerichtet. […] Die Urteile stützten sich auf durch Folter erzwungene | |
‚Geständnisse‘“. Ägyptische Menschenrechtler*innen kritisieren einen | |
[10][„ungezügelten Enthusiasmus für politisch motivierte Hinrichtungen“]. | |
Die Menschenrechtsorganisation [11][Committee for Justice] aus Genf stuft | |
159 Todesurteile aus Sisis Amtszeit als politisch ein. Zwischen | |
Muslimbrüdern und anderen Gefangenen unterscheidet die Organisation nicht. | |
63 Menschen, teilte sie auf taz-Anfrage mit, könnten aktuell jederzeit | |
hingerichtet werden. | |
Dass es auch im Falle Yaseens zur Vollstreckung des Urteils kommt, hofft | |
Omar noch zu verhindern. „Ich fordere alle auf, sich einzumischen“, sagt | |
er, „der Tod Osamas steht unmittelbar bevor.“ Eine Begnadigungsfrist, | |
innerhalb derer Sisi die Todesstrafen für die Muslimbrüderführer in | |
Freiheitsstrafen hätte umwandeln können, hat Sisi mittlerweile verstreichen | |
lassen. „Sie wollen ein Exempel an ihnen statuieren“, befürchtet Omar. | |
27 Jul 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://www.zeit.de/politik/ausland/2013-07/aegypten-mursi-anhaenger-protes… | |
[2] https://www.hrw.org/report/2014/08/12/all-according-plan/raba-massacre-and-… | |
[3] https://twitter.com/CrispinBlunt/status/1407739134534467585/photo/1 | |
[4] https://www.jungewelt.de/artikel/404831.gericht-in-%C3%A4gypten-best%C3%A4t… | |
[5] https://www.hrw.org/news/2021/06/28/egypts-execution-frenzy-has-stop | |
[6] http://christinebuchholz.de/2021/01/25/solidaritaet-mit-inhaftierten-sozial… | |
[7] https://www.hrw.org/report/2016/09/28/we-are-tombs/abuses-egypts-scorpion-p… | |
[8] /Aktivistin-Sanaa-Seif-in-Aegypten/!5696916 | |
[9] https://www.hrw.org/news/2021/06/01/egypt-president-should-act-unshackle-fr… | |
[10] https://eipr.org/en/press/2021/06/egypt-moratorium-executions-imperative-u… | |
[11] https://www.cfjustice.org/ | |
## AUTOREN | |
Jannis Hagmann | |
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