# taz.de -- Krieg in Nahost: Drahtseilakt im Westjordanland | |
> Die humanitäre Krise in Gaza spitzt sich weiter zu. Nach langem Zögern | |
> hat sich der palästinensische Präsident von dem Angriff der Hamas | |
> distanziert. | |
Bild: Rafah am 16.10: PalästinenserInnen mit doppelter Staatsbürgerschaft wol… | |
BERLIN taz | In Gaza spitzt sich die Lage stündlich zu. Nach UN-Angaben | |
sind eine Million Menschen vor der erwarteten israelischen Bodenoffensive | |
vom nördlichen Gazastreifen in den Süden geflohen. Während Israel die | |
Trinkwasserversorgung dort teilweise wiederhergestellt hat, wurde am Montag | |
weiter verhandelt, ob Hilfsgüter aus Ägypten in den blockierten | |
Küstenstreifen gelangen könnten. Berichte über eine Feuerpause, die dies | |
ermöglichen würde, dementierte Israel. „Wer Kinder massakriert, Frauen | |
vergewaltigt und Babys kidnappt, verdient keine Gnade“, kommentierte | |
Kulturminister Miki Zohar in dem Zusammenhang. | |
Während unter anderem Frankreichs Außenministerin forderte, den | |
[1][Grenzübergang Rafah für Nothilfe zu öffnen], zeigte Ägypten weiter mit | |
dem Finger auf Israel. Letzte Woche hatte Israel Ziele nahe dem | |
Grenzübergang angegriffen. Israel scheint nicht bereit zu sein, von Ägypten | |
geforderte Sicherheitsgarantieren abzugeben, derer es bedürfte, um | |
Hilfsgüter über die Grenze zu bringen und [2][in Gaza] zu verteilen. Israel | |
habe „kein Signal“ für eine Öffnung gegeben, so Ägyptens Außenminister | |
Sameh Schukri. | |
„Seit dem dritten Tag der Eskalation gibt es kaum Strom noch Wasser noch | |
Internet“, berichtete Salwa Dschihad der taz, die in Nusairat lebt. Das | |
palästinensische Flüchtlingslager liegt etwas südlich der Linie, nördlich | |
derer die Menschen den Gazastreifen räumen sollen. „Wir waschen uns alle | |
zwei oder drei Tage, um Wasser zu sparen.“ | |
Viele würden Wasser von den Wasserstationen der Stadtverwaltung anzapfen, | |
die allerdings nur eine Stunde am Tag in Betrieb seien. „Sie füllen | |
Plastikbehälter ab und nehmen es zum Trinken mit nach Hause“, erklärt | |
Dschihad. „Beim Reinigen des Wassers helfen sich die Menschen gegenseitig, | |
indem sie Solarenergiepumpen benutzen, um das Wasser zu säubern.“ | |
Allerdings hätte nur etwa eines unter fünfzig Häusern eine Solaranlage. | |
Israel setzte die Angriffe in Gaza am Montag fort. Auch aus Gaza flog | |
erneut eine Rakete über die Grenze und schlug in Tel Aviv ein. Die Zahl der | |
getöteten Palästinenser*innen lag Hamas-Angaben zufolge am Montag bei | |
2.750, knapp 10.000 Menschen sollen verletzt worden sein. Damit wäre dieser | |
Krieg bereits jetzt der opferreichste unter den Kriegen, die Hamas und | |
Israel je gegeneinander geführt haben. | |
US-Außenminister Antony Blinken kehrte am Montag nach einer Tour durch | |
arabische Staaten zurück nach Israel. Washington bemüht sich darum, dass | |
die Lage nicht noch an anderen Fronten eskaliert. Letzte Woche hatte er | |
auch den im Westjordanland amtierenden palästinensischen Präsidenten | |
Mahmud Abbas gesprochen. Nach langem Zögern hat sich dieser mittlerweile | |
etwas von den Hamas-Massakern vom 7. Oktober distanziert, bei denen die | |
Terroristen mehr als 1.300 Menschen töteten, zum allergrößten Teil | |
Zivilist*innen. | |
Eine scharfe Verurteilung blieb zwar aus, doch zumindest sagte er, [3][die | |
Taten der Hamas] „repräsentieren nicht das palästinensische Volk“. Er leh… | |
die Tötung von Zivilist*innen auf beiden Seiten ab. Abbas leitet die | |
Autonomiebehörde im besetzten Westjordanland. Seine Fatah-Organisation | |
steht in Konkurrenz zur Hamas, die seit 2007 in Gaza herrscht, aber auch im | |
Westjordanland Unterstützer*innen hat. Israel gab am Montag an, seit | |
dem 7. Oktober 360 Palästinenser*innen im Westjordanland festgenommen | |
zu haben, 210 mit Hamas-Verbindungen. | |
Abbas äußerte seine Kritik allerdings nicht in einer Rede an die eigenen | |
Leute, sondern in einem Telefonat mit Venezuelas Staatschef Maduro. Die | |
palästinensische Nachrichtenagentur Wafa berichtete darüber. Demnach | |
forderte Abbas alle Beteiligten auf, Gefangene freizulassen, was sich | |
offenbar auch auf die knapp 200 Geiseln in Gewalt der Hamas bezog. | |
Beobachter*innen gehen davon aus, dass Abbas nicht im Vorfeld über den | |
Angriff der Hamas informiert war. Die Massaker, die nun folgenden | |
Vergeltungsschläge und die breite Solidarität in der palästinensischen | |
Bevölkerung mit den Bewohner*innen Gazas stellen ihn nun vor eine | |
schwierige Situation. Er muss navigieren zwischen den Interessen seiner | |
Verbündeten einerseits, inklusive der USA und der israelischen Regierung, | |
die eine Eskalation im Westjordanland verhindern wollen, und einer | |
erhitzten öffentlichen Meinung andererseits. Je blutiger der Krieg wird, | |
desto schwerer dürfte dieser Drahtseilakt werden. | |
Auffällig ist, dass die Hamas es bislang nicht geschafft hat, den offenen | |
Krieg auch ins Westjordanland zu tragen – und das, obwohl | |
Beobachter*innen schon seit Monaten warnen, dass ein Funke genügen | |
würde, um die Lage dort eskalieren zu lassen. Israels Regierung hatte | |
[4][den Siedlungsbau] in dem Gebiet vorangetrieben. Zudem fühlten sich | |
radikale Siedler*innen durch den Diskurs in Israel ermutigt, gewaltsam | |
gegen Palästinenser*innen vorzugehen. Seit Jahreswechsel sind im | |
Westjordanland mehr als 200 Menschen getötet worden, laut Israel zumeist | |
Militante. Im gleichen Zeitraum wurden auf israelischer Seite rund 30 | |
Menschen durch Terrorangriffe getötet. | |
Am Dienstag will Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) in die Region reisen. Am | |
Morgen wird er zunächst den jordanischen König in Berlin treffen, um dann | |
nach Israel aufzubrechen. Ein Gespräch mit Abbas ist nicht geplant. | |
Anschließend geht es weiter [5][nach Ägypten.] | |
16 Oct 2023 | |
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[4] /Israelische-Siedlungspolitik/!5912950 | |
[5] /Lage-in-Gaza/!5966015 | |
## AUTOREN | |
Jannis Hagmann | |
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