# taz.de -- Demos für Geisel-Freilassung: Gegen das Verdrängen der Schicksale | |
> 100 Tage nach dem Hamas-Überfall sind in Tel Aviv und Berlin Hunderte auf | |
> die Straße gegangen. Ihr Ziel: die Freilassung der übrigen Geiseln. | |
Bild: Trotz Regens kamen viele zur Kundgebung: Demonstrierende am Sonntag in Te… | |
Berlin/Tel Aviv taz | Am zweiten Tag in Folge haben Angehörige der in den | |
Gazastreifen entführten Geiseln am Sonntag in Tel Aviv für deren | |
Freilassung demonstriert. Rund 240 Zivilisten und Soldaten waren am 7. | |
Oktober von der Hamas nach Gaza verschleppt worden. Genau 100 Tage danach | |
ist nicht nur wenig über ihr Schicksal bekannt, auch in den Medien wird nur | |
noch selten über sie gesprochen. | |
Unweit des – trotz Regens – am Sonntagmittag mit mehreren hundert Menschen | |
gefüllten Platzes weist am Bahnhof Ashalom ein Plakat die Passanten auf die | |
Entführten hin. „Viele Israelis sind wieder in ihren Alltag zurückgekehrt�… | |
sagt Daniela, eine 45-jährige Mutter, und schaut auf die Bilder der | |
Entführten. Soldaten mit umgehängten Maschinengewehren steigen aus den | |
Zügen und werfen nur einen flüchtigen Blick auf die Fotos. Die Soldaten | |
sehen erschöpft aus, sie kommen gerade von der Front. „Der Gazastreifen | |
liegt nur eine Stunde von hier entfernt“, sagt ein Soldat, der auf | |
Fronturlaub in seinen Heimatort Modi ist. „Aber viele in Tel Aviv haben | |
nicht nur die Geiseln, sondern auch uns Soldaten aus ihrem Alltag | |
verdrängt.“ | |
Merav Svirsky steht vor dem Museum und will die Regierung und | |
Öffentlichkeit wieder aufrütteln. Wir Angehörigen haben alles gesagt, aber | |
nichts hilft“, sagt sie. Svirksys Eltern wurden am 7. Oktober im Kibbuz | |
Be’eri ermordet, ihr Bruder Itai wurde als Geisel verschleppt. Zusammen mit | |
den Familien von anderen Entführten hat sie den Keim einer neuen | |
Protestwelle geschaffen. Zwar sind die Teilnehmerzahlen noch wesentlich | |
geringer als vor dem Hamas-Massaker. Doch jetzt geht es nicht – wie noch im | |
Sommer – um [1][die umstrittene Verfassungsreform], sondern um jüdische | |
Opfer. | |
„Wie können wir hier Kinder großziehen und ihnen versprechen, dass alles | |
gut wird, wenn wir wissen, dass wir die Geiseln dort zurückgelassen | |
haben?“, sagt Svirsky auf der Kundgebung. „Wir wollen, dass dieser Albtraum | |
ein gutes Ende nimmt. Meine Eltern werden nicht zurückkommen, aber ich | |
möchte Hoffnung haben“, führt sie aus. | |
## In Berlin ruft die Menge: „Bring them home now!“ | |
Mit der 24-stündigen Kundgebung will die Initiative die Notstandsregierung | |
zwingen, endlich mehr zu tun. „Die Entführten sind doch keine | |
Kombattanten“, sagt ein Demonstrant. „Sie sollten nicht Teil eines | |
politischen Deals sein.“ Wie ernst die Regierung die Angehörigen trotz | |
ausbleibender Massenmobilisierung nimmt, sollen die fast wöchentlichen | |
Treffen mit deren Vertretern zeigen. Dabei gibt sich Premier Benjamin | |
Netanjahu nach außen kompromisslos. „Israel wird seinen [2][Feldzug gegen | |
die Hamas bis zu einem Sieg] fortsetzen“, betont er stets. | |
Auch die Demonstranten vor dem Museum in Tel Aviv fühlen sich von Netanjahu | |
missachtet. Am Samstag forderten Hunderte am Rande der Gedenkveranstaltung | |
seinen Rücktritt. Mit einem kleinen PR-Coup gelang es den Angehörigen, | |
großes Medieninteresse zu wecken. Der Nachbau eines Teilstückes eines | |
Hamas-Tunnels wurde auch von entsetzten Passanten inspiziert. „In solch | |
beengten Röhren harren unsere Kinder, Schwestern und Brüder aus“, sagte | |
Dean, einer der vielen freiwilligen Unterstützer der Gruppe. | |
Auch in Berlin sind am Sonntag mehrere Hundert Menschen auf die Straße | |
gegangen, um für die Freilassung der Hamas-Geiseln zu demonstrieren – trotz | |
Nieselregen und vier Grad Außentemperatur. Geisel-Angehörige begleiteten | |
auch hier den Protestzug. Sie sind nach Deutschland gekommen, um den Druck | |
auf die deutsche Regierung zu erhöhen. Denn unter den nach Gaza | |
verschleppten Geiseln sind auch Menschen, die eine doppelte | |
Staatsbürgerschaft besitzen – die israelische und die deutsche. | |
Es ist ein ruhiger Demonstrationszug, familiär. Passanten bleiben mal | |
stehen und machen Fotos. Andere beobachten stumm von ihrem Balkon aus. Eine | |
Frau klatscht den Demonstrierenden zu. Israelfahnen werden hochgehalten und | |
Plakate der Geiseln: Ofer Kalderon, 57 Jahre; Uriel Baruch, 37 Jahre; Chaim | |
Peri, 79 Jahre. Auf dem Weg vom Mauerpark in Prenzlauer Berg nach Mitte | |
werden die Namen und das jeweilige Alter der Geiseln nacheinander verlesen. | |
Dazwischen ruft die Menge immer wieder: „Bring them home now!“ | |
Zwischen dem Berliner Dom und dem Alten Museum steht rund zweieinhalb | |
Stunden später Efrat Machikawa. Sie ist die Nichte von Gadi Moses. Der | |
79-Jährige wurde am 7. Oktober in den Gazastreifen verschleppt. Machikawa | |
hat zu diesem Anlass eine Rede geschrieben und richtet ihre Worte auf | |
Englisch an die Protestierenden: „Dass wir hier am 100. Tag stehen, ist | |
eine Schande“, so Machikawa. Am Ende singt die Menge die israelische | |
Nationalhymne. Ein letztes Mal rufen die Protestierenden: „Bring them home | |
now!“ | |
Korrektur: In einer früheren Version dieses Textes war die Zahl der | |
Menschen, die am 7. Oktober in den Gazastreifen verschleppt wurden, falsch | |
angegeben. Wir haben die entsprechende Stelle korrigiert. | |
14 Jan 2024 | |
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## AUTOREN | |
Erica Zingher | |
Mirco Keilberth | |
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