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# taz.de -- Schuld und Krieg im Nahen Osten: Der lange 7. Oktober
> Wie lässt sich weiterleben, wenn andere ermordet wurden? Für Menschen in
> Israel ist die Frage sehr konkret – nicht nur nach dem Massaker der
> Hamas.
Bild: Ein Bild einer Überwachungskamera des Kibbuz Beʾeri zeigt den Hamas-Ang…
Die Schuldfrage hat in den letzten Wochen Hochkonjunktur. Wer hat Schuld am
Krieg im Nahen Osten? Dass sich mit dieser Frage auseinanderzusetzen in
Deutschland lebensbedrohlich sein kann, zeigt die [1][Gewalttat gegen den
jüdischen Studenten Lahav Shapira]. Er wurde mutmaßlich von einem
muslimischen Kommilitonen krankenhausreif geschlagen, nicht etwa, wie
zunächst berichtet, weil es eine „Meinungsverschiedenheit“ in Bezug auf
diese Frage gegeben hätte, sondern, darauf deutet vieles hin, aus
Judenhass.
Die Frage nach Schuld lässt sich auf unterschiedliche Weise beantworten:
moralisch, juristisch, politisch, religiös. Schuld ist unweigerlich mit
Verantwortung verknüpft. Wer trägt diese, und was folgt aus ihr? Wenn ich
jedoch heute Texte über den Krieg zwischen Israel und der palästinensischen
Terrororganisation Hamas lese, klingt es oft so, als hätte es den 7.
Oktober nie gegeben. Man könnte fast vergessen, dass das antisemitische
Massaker stattgefunden hat. Aus der wichtigen Frage, wie es zu der
[2][humanitären Katastrophe im Gazastreifen] kommen konnte, wird eine
moralische Anklage, die fast nie ohne Hass auf Israel und Juden auskommt.
Schuld ist auch ein quälendes Gefühl. Zu den schlimmsten seiner Art gehört
sicherlich das, überlebt zu haben. Für KZ-Überlebende war die Befreiung aus
den Lagern oft nicht der Beginn großen Glücks und von Erleichterung. Es
flossen nicht Tränen der Freude, sondern der Traurigkeit, so beschrieb es
einmal der jüdische Widerstandskämpfer Jitzhak Zuckerman. Der
Überlebenskampf war mit der Befreiung zwar zu Ende, doch das Ausmaß des
Verlustes wurde erst mit dem Ende des Kriegs deutlich. Viele Überlebende
quälte die Schuld, überlebt zu haben, während andere, Freunde und Familie,
ermordet worden waren. Auch Jüdinnen und Juden, die sich frühzeitig retten
konnten, erging es oft so.
Jahrzehnte litten Shoah-Überlebende dann darunter, dass Psychiater und
Psychoanalytiker in Deutschland ihr Seelenleiden nicht verstehen wollten.
Am drastischsten zeigte sich dies an den Gutachten, die Sachverständige für
die Bewilligungen der [3][sogenannten Wiedergutmachungsanträge] in der
Bundesrepublik ausstellten.
Überlebende des Nationalsozialismus erfuhren das, was der Arzt Christian
Pross einmal den „Kleinkrieg gegen die Opfer“ nannte. Entschädigungsanträ…
wurden abgelehnt, weil die Gutachter mal hypochondrische Einstellungen
attestierten, mal psychopathische Neigungen, die aus ihrer Sicht nicht mit
KZ-Aufenthalten in Verbindung stehen konnten, schließlich lagen die ja
schon Jahre zurück. Die Praxis der Bundesrepublik war über Jahre den Opfern
gegenüber unwürdig und ungerecht.
## Die Wochen nach dem 7. Oktober
Es gibt eine Parallele zum 7. Oktober. Sie liegt weniger im Umgang mit dem
Umfeld als in dem Gefühl der Betroffenen, in ihrem Inneren. Seit dem
Massaker der Hamas empfinden viele Israelis Schuldgefühle, weil sie leben.
Das erzählte mir eine Psychologin aus Tel Aviv, die ich in Berlin traf. Sie
selbst denke jeden Tag daran, wie es sein könne, dass sie am 7. Oktober
[4][unversehrt in ihrem Bett aufgewacht war, während bereits zahlreiche
Menschen ermordet, gefoltert, verschleppt worden waren.]
Diese Schuldgefühle, so beobachte ich, tragen auch Juden außerhalb Israels
mit sich herum. Denke ich an mich zurück, an die ersten Wochen nach dem 7.
Oktober, so waren das unaufhörliche Arbeiten, Arbeiten, Arbeiten, der
Schlafentzug, das Nichtessen doch auch nur ein Versuch, damit umzugehen,
mit der von Schuld begleiteten Erleichterung zu leben.
Schuld ist nicht nur die Frage nach Gut und Böse, nach Täter und Opfer,
sondern die nach dem „Wie weiter?“. Das Glück liegt in dem Gedanken, dass
es ein Morgen gibt. Gegen die Schuldgefühle hilft nur weiterzumachen, sagte
mir die Psychologin. Also: leben, auch wenn es schwerfällt.
20 Feb 2024
## LINKS
[1] /Antisemitischer-Ueberfall-auf-FU-Student/!5987284
[2] /Fluechtlingscamp-im-Gazastreifen/!5988750
[3] /Entschaedigungszahlungen-fuer-NS-Opfer/!5874999
[4] /Sexualisierte-Gewalt-der-Hamas/!5987483
## AUTOREN
Erica Zingher
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