# taz.de -- Historiker Karl Schlögel über Amerika: Nach Westen, nach Westen | |
> Ein monumentales Buch der Bücher: Der Historiker Karl Schlögel | |
> entschlüsselt die „American Matrix“ – zwischen Technik, Mythen und | |
> Personenregister. | |
Bild: Immer höher: Bauarbeiter bei der Mittagspause auf dem Rockefeller Center… | |
Die Webers, so Karl Schlögel, „waren überwältigt vom ersten Augenblick an, | |
in dem sie in New York angekommen waren“. Max und Marianne Weber, der große | |
deutsche Soziologe und seine Ehefrau, bereisten 1904 für einige Monate die | |
Vereinigten Staaten. Die beiden durchkreuzen in schnellem Tempo das Land, | |
das schon ausreichend gut mit Verkehrswegen erschlossen ist. | |
Sie treffen die Crème von Politik und Geisteswelt, am Soziologentag kommen | |
europäische Größen mit legendären Figuren zusammen, wie W. E. B. Du Bois, | |
dem ersten und für Jahrzehnte prägenden schwarzen US-Intellektuellen. Weber | |
wird ihn später den „bedeutendsten soziologischen Gelehrten“ nennen, „mit | |
dem sich kein Weißer messen kann“. | |
Weber macht einen Abstecher in das Indian Territory, an die „Frontier“ und | |
bucht eine Führung durch die gigantischen Komplexe der Schlachthöfe von | |
Chicago, ein Dante’sches Inferno von Menschenschinderei, Ausbeutung und | |
Tierverhäckselung. „Mit geradezu rasender Hast wird Alles, was der | |
kapitalistischen Cultur im Wege steht, zermalmt“, staunt Weber, und: | |
Chicago ist „eine der unglaublichsten Städte“. | |
„American Matrix“ heißt das neue Buch von [1][Karl Schlögel, den man | |
bislang vornehmlich als Osteuropahistoriker] kennt, als Reisenden in die | |
Tiefen der einstigen Sowjetunion, und der uns nun auf eine Expedition | |
westwärts mitnimmt. Ein packendes und eigentümliches Buch zugleich. | |
Schlögels eigene Besichtigungen bleiben im Hintergrund, begleiten nur da | |
und dort die Forschungsreise durch den Bücherbestand. | |
## Mythos Amerika, Realität Amerika | |
Man könnte die monumentale 832-Seiten-Expedition beinahe einen | |
Lektürebericht nennen. Schlögel hat sich eine Bibliothek an Erkundungen von | |
Zeitgenossen der vergangenen zweihundert Jahre vorgenommen, bereist das | |
Land auf ihren Spuren, kriecht in ihre Köpfe und beleuchtet Amerika – den | |
Mythos Amerika, die Realität Amerika – entlang der Projektionen, die die | |
Weite dieser Nation immer auslöste. | |
„Matrix“, schon der Begriff evoziert Bilder von Architekturen und von | |
Ordnung im Raum, der Strukturierung des Nicht-so-Zufälligen, und genau das | |
unternimmt auch dieses Buch. | |
Die Reise beginnt, es kann anders kaum sein, mit [2][Alexis de | |
Tocquevilles Bericht „Über die Demokratie in Amerika“], das später das | |
„großartigste Buch, das je über Amerika geschrieben wurde“, genannt wurde. | |
Schon der erste Satz wurde kanonisch: „Von all dem Neuen, das während | |
meines Aufenthaltes in den Vereinigten Staaten meine Aufmerksamkeit auf | |
sich zog, hat mich nichts so lebhaft beeindruckt wie die Gleichheit der | |
gesellschaftlichen Bedingungen.“ | |
## Auf den Spuren von Tocqueville und Weber | |
Amerika, das Neue. Schlögel folgt den Spuren der Reisenden, der staunenden | |
Europäer wie Tocqueville oder Weber, und den amerikanischen Grüblern, | |
reenactet gewissermaßen ihre Reisen ins Innere dieses seltsamen Landes. Die | |
Reisen selbst sind Dokumente des Neubeginns, der Tatsache nämlich, dass sie | |
möglich werden. | |
Armee und Siedler eroberten den Raum, die Technologie kam nach. Schon | |
Tocqueville konnte nur dank eines Systems „von Postkutschen, das sich | |
binnen weniger Jahrzehnte außerordentlich verdichtet hatte“ (mit 8.000 | |
Knotenpunkten bereits 1815), in einem solch erstaunlichen Tempo unterwegs | |
sein. | |
Es folgten die Stahlungeheuer der Eisenbahnen, dann die Busse – Ikonen mit | |
klingenden Namen wie Amtrac oder Greyhound. Highways und Freeways, ein | |
Netz, eine tanzende, auf ihre Weise schöne Struktur, die wiederum auf | |
Mentalitäten zurückwirkte: die Kultur einer Gesellschaft der Mobilität. | |
Exemplarisch Los Angeles, diese seltsame Metropole, die mehr | |
Städtekonglomerat an Freeway-Knotenpunkten ist. „Zivilisation auf Rädern“, | |
und die Raumeroberung geschieht nicht unwesentlich mit Brückenbau und | |
„Maschinen von zyklophaften Ausmaßen“. | |
Die spezifische Form amerikanischer On-the-Road-Geschichten, vom Lonely | |
Wolf, der sich auf den Weg macht, all das verdankt sich der Weite des | |
Raumes, bis zu [3][Jack Kerouac]s stilbildendem „On the Road“, wo es heißt, | |
„es gibt keinen besseren Weg, das Land zu sehen, als einen guten alten Bus | |
zu besteigen …“ | |
## Die verschiedenen Facetten der USA | |
Schlögel zeichnet und vermisst die nordamerikanische Kultur, vom | |
Campusleben, dem Kult der Sportlichkeit, über die Color-Line und den | |
[4][Rassismus, die Emanzipationsbestrebungen der amerikanischen Schwarzen] | |
und die unausrottbaren Bruchlinien rassistischer Zurücksetzung; die Gewalt, | |
den Kult von Monumentalität, die Mentalitäten amerikanischer Höflich- und | |
Freundlichkeit („Keep Smiling“), das Kunst-Amerika und die architektonische | |
Moderne mit den ikonischen Bauten Frank Lloyd Wrights. | |
New York, die „Menschenwerkstatt“, der Melting Pot, aber auch die | |
atemberaubende Gigantomanie von Beton und Stahl, von der Brooklyn-Bridge | |
bis zum Hoover-Staudamm, einem der Hauptwerke des „New Deal“, die sich in | |
die Geschichte der kapitalistischen Entwicklung einfügen, sie aber mit dem | |
Pathos der Gemeinschaftlichkeit legieren. | |
Hervorgebracht durch Massenarbeitslosigkeit und das Elend der Großen | |
Depression, waren Infrastruktur-Großprojekte dann dennoch | |
identitätsstiftend, und trotz der Menschenschindereien auf den Baustellen | |
entwickelte sich ein „Stolz, mit dabei gewesen zu sein bei einem großen | |
Projekt“. Das war „amerikanisch“, aber doch auch ein globaler Zug der Zei… | |
Eine der erhellendsten Seiten von Schlögels Buch ist der Blick des | |
Kulturhistorikers, der nicht „bloß auf das politische System fixiert“ ist, | |
sondern frappierende Ähnlichkeiten im Vergleich der USA mit Stalins | |
Sowjetunion findet, verbunden durch „Machine Age“ und „Glamourized | |
Technology“. Die Weite des Raums in den USA findet eine Entsprechung in der | |
Weite Sibiriens. | |
## „Soviet Americanism“ | |
Schlögel macht uns mit den Berichten sowjetischer Autoren bekannt, die die | |
USA in den dreißiger Jahren bereisten, um die Wundertaten großer | |
Ingenieure, Erfinder, Techniker zu ergründen. Das Planmäßige, das | |
Technokratische des amerikanischen Geistes war etwas, das ihnen als Vorbild | |
für sowjetische Methoden erschien („Soviet Americanism“). | |
So notierten die Autoren: „Wir müssen „Amerika studieren, nicht nur seine | |
Autos, Turbogeneratoren und Rundfunkgeräte (das tun wir), sondern auch die | |
Arbeitsmethoden der amerikanischen Arbeiter, Ingenieure und Geschäftsleute, | |
besonders der Geschäftsleute.“ | |
Unwillkürlich erinnert man sich dabei an die berühmte Passage aus Stalins | |
„Probleme des Leninismus“, in dem er den „leninistischen Stil“ durch zw… | |
Besonderheiten charakterisiert sieht: durch den „russischen revolutionären | |
Schwung“ und „die amerikanische Sachlichkeit“. | |
## Eisler, Feuchtwanger, Horkheimer und Adorno | |
Eine Art von Vollendung erlebt Schlögels Buch über Bücher, wenn er | |
Telefonbuch und Personenregister ein spektakuläres Panorama abgewinnt – im | |
Los Angeles der dreißiger und vierziger Jahre. Es entsteht eine „Karte des | |
Exils“, Hollywood und Nachbarorte gelten als „Weimar on the Pacific“. | |
Hanns Eisler, Lion Feuchtwanger, Thomas Mann, Max Reinhardt, Salka Viertel, | |
Adorno und Vicki Baum, Horkheimer und Thomas Mann, Ruth Berlau und Marlene | |
Dietrich, Fritz Lang und Peter Lorre, Rubinstein und Renoir, Werfel, | |
Gershwin, Lubitsch, Döblin, Strawinsky, Chaplin und Richard Neutra – alle | |
quasi Tür an Tür. | |
17 Oct 2023 | |
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## AUTOREN | |
Robert Misik | |
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