# taz.de -- Wiederentdeckung von Autor Tom Kromer: Unromantisch unterwegs | |
> Tom Kromers Roman „Warten auf nichts“ von 1935 wird alle 30 Jahre | |
> wiederentdeckt. Er beschreibt die „Große Depression“ aus Perspektive der | |
> Ärmsten. | |
Bild: Familienleben im US-Bundesstaat Alabama in den 1930er Jahren | |
Tom Kromers einziger Roman „Warten auf nichts“ gehört zur geheimen | |
Geschichte der amerikanischen Plebejerliteratur. Im Jahr 1935, inmitten der | |
„Great Depression“, erstmals erschienen, wird er alle 30 Jahre | |
wiederentdeckt, auch weil man in Kromer so etwas wie einen Ahnherren von | |
ähnlich sozialrealistisch engagierten Autoren aus dem Armenhaus der USA, | |
den Appalachen, ausmachen kann – von Breece D’J Pancake, Pinckney Benedict | |
oder neuerdings Scott McClanahan. Aber zu einem größeren Lesepublikum | |
dringt er nie wirklich durch. Das hat seine Gründe. | |
Tom Kromer war ein Linker qua Geburt. Sein Großvater gehört zu den | |
geknechteten Bergwerkern West Virginias und stirbt bei einem Grubenunglück, | |
sein Vater ist Glasbläser, erkrankt an Krebs und kann sich die Behandlung | |
nicht leisten. | |
Tom ist 14, da erheben sich die Arbeiter gegen die Bergwerksgesellschaften | |
– der Aufstand wird blutig niedergeschlagen. Er versucht diesem Milieu | |
durch Bildung zu entkommen, arbeitet nachts in einer Glasfabrik, tagsüber | |
bei einer Zeitung, um sich das College zu finanzieren. Aber den Abschluss | |
schafft er so nicht. | |
Die Weltwirtschaftskrise zwingt ihn dann, als Hobo durchs Land zu ziehen. | |
Kromer verdingt sich als Erntehelfer und Gelegenheitsarbeiter, nur gibt es | |
immer weniger Gelegenheiten. Man lacht ihn aus, wenn er nach einem Job | |
fragt. | |
Fünf Jahre lebt er auf der Straße, eine Weile sogar als Stricher und | |
schreibt schließlich alles auf, um ein „Abbild des Elends, der | |
Sinnlosigkeit und des zutiefst zerstörerischen Effekt dieses Lebens“ zu | |
schaffen, wie er es später einmal formuliert. Genau das ist „Warten auf | |
nichts“ geworden. | |
## Fernab jeglicher Landstreicher-Romantik | |
Man merkt diesem Roman seine Leidensgrundierung an. Hier fehlt jede | |
Landstreicher-Romantik, die [1][bei Jack Kerouac Jahrzehnte später die | |
Sehnsucht und Abenteuerlust von Generationen wecken wird.] | |
Kromers Erzähler friert in zugigen Güterwägen, wird verprügelt, ausgeraubt, | |
von der Polizei gedemütigt, und er sieht schreckliche Dinge – wie ein | |
unerfahrener Hobo den Sprung auf den fahrenden Zug nicht packt oder eine | |
vor Hunger verrückte junge Mutter ihr Baby im Park aussetzt. Er ist nicht | |
auf der Straße, weil er das wahre, also idealisierte Amerika sucht, um | |
darüber Romane zu schreiben, sondern weil er keine Wahl hat. | |
Dass er dann doch darüber schreibt, ist pure Selbstbehauptung – und | |
Abrechnung. Die Gesellschaft soll sehen, was die Straße aus einem Menschen | |
macht, der für einen Teller Suppe seine gesamte Würde zu opfern bereit ist. | |
Beiläufig bestätigt er damit auch die alte Marx’sche Doktrin, wonach mit | |
dem „Lumpenproletariat“ keine Revolution zu machen ist. | |
„Eine Pennerrevolution kannst du mit einem Sack Backwaren aufhalten“, | |
schreibt der Erzähler. „Ich habe gesehen, wie ein einziger Bulle hundert | |
Penner aus einem Wagen rausgeprügelt hat. Wenn ein Penner nichts im Bauch | |
hat, hat er auch keinen Mumm etwas anzufangen. Und wenn der Magen mal nicht | |
schmerzt, dann sieht er den Sinn darin nicht. Was soll ein Penner Krawall | |
schlagen, wenn sein Bauch schön voll ist?“ | |
## Held ohne Entwicklungskurve | |
Diese Apathie macht die Lektüre auch noch ein knappes Jahrhundert später zu | |
einer desillusionierenden Angelegenheit. Sie zeigt sich auch in der | |
völligen Entwicklungslosigkeit des Antihelden. Zu Beginn des Romans irrt | |
der durch die Nacht auf der Suche nach einer Bleibe und einer warmen | |
Mahlzeit, und nur sein letztes bisschen Gewissen hält ihn davon ab, einen | |
Passanten zu überfallen. | |
Im zwölften und letzten Kapitel liegt er in einer überfüllten | |
Obdachlosenmission. Keiner kann schlafen, weil sie gerade einen der ihren | |
rausgetragen haben. „Ich weiß schon, was die denken. Die denken, dass der | |
Penner auf der Trage gar nicht irgendein Penner ist, sondern sie selbst … | |
So wird es auch mit ihnen zu Ende gehen. Denen ist klar, dass das so kommen | |
wird. Man kann nicht ewig Müll fressen und nachts fast erfrieren. […] Wir | |
alle verfolgen mit großen Augen die Schatten, die an der Decke tanzen. Wir | |
beobachten das Neonflackern der Werbetafel, auf der Jesus Saves steht.“ | |
Der kann nicht helfen, und auch sonst keiner. Wer einmal in diesem | |
Kreislauf steckt, entkommt ihm nicht – das ist der Subtext des Romans. Und | |
das will damals keiner lesen. „Warten auf nichts“ bekommt durchaus positive | |
Kritiken, die Kromer mit Ernest Hemingway und Maxim Gorki vergleichen, aber | |
das bürgerliche Publikum leidet unter Abstiegsängsten in jenen Jahren, die | |
will es nicht noch schüren mit einem Roman, der in plastischen Bildern die | |
dräuende Zukunft vorwegnimmt und sie mit schierer Hoffnungslosigkeit würzt. | |
## Ungeschönter Naturalismus | |
Kromer hat den Misserfolg vorausgesehen – und der Wahrhaftigkeit halber in | |
Kauf genommen. Das offenbart sein kaum verstecktes Selbstporträt. Sein | |
Alter Ego heißt Karl, ist ein Freund des Erzählers und hat immer Hunger, | |
weil „keiner das Zeug kaufen will, das er schreibt. Er schreibt von | |
verhungernden Babys und Kerlen, die sich auf der Straße herumtreiben, immer | |
auf der Suche nach Arbeit. Den Leuten gefällt sowas nicht. Denn in Karls | |
Geschichten kannst du das Schreien der Säuglinge hören. Da kannst du den | |
Hunger in den Augen der Männer sehen. Karl wird immer hungern. Er wird die | |
Dinge immer so beschreiben, dass du sie beim Lesen vor dir siehst.“ | |
Das ist Kromers poetologisches Programm. Er beschreibt es so wenig gewählt | |
wie möglich, damit es auch seine Leute verstehen, die neben ihm in der | |
Schlange vor der Essensausgabe angestanden, den Missionsfraß | |
runtergeschlungen und danach eine nicht zu Ende gerauchte Kippe aus der | |
Gosse geklaubt haben. | |
Es ist dieser ungeschönte Naturalismus, der ihn zwar beim Publikum | |
scheitern lässt – ihm aber auch wenigstens ein Stückchen Würde zurückgibt. | |
Da ist eben doch eine Sache, die sich nicht der nächsten „Penne“ oder | |
„Fütterung“ unterordnet – die Literatur. | |
Kromers Roman starrt vor Dreck, ist auch sprachlich kontaminiert von der | |
Straße – Stefan Schöberlein übersetzt diesen historischen Soziolekt eher | |
zurückhaltend und erspart dem Leser damit die eine oder andere Peinlichkeit | |
–, aber ästhetisch lässt sich der Autor nicht korrumpieren. | |
10 Aug 2023 | |
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## AUTOREN | |
Frank Schäfer | |
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