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# taz.de -- Debütroman von Tess Gunty: Die richtige Dosis
> Gunty erzählt in „Der Kaninchenstall“ überbordend von jungen Leuten. Und
> vom Sterben der Städte, das Demagogen wie Trump stärkt.
Bild: Hier stand eine Autofabrik der us-amerikanischen Marke Chervolet: Muncie,…
Mit gerade einmal 29 Jahren hat Tess Gunty im vergangenen Jahr für dieses
Debüt den National Book Award gewonnen. Nur Philip Roth war jünger, als er
1960 für „Goodbye, Columbus“ Amerikas wichtigsten Literaturpreis erhielt.
„Der Kaninchenstall“ kommt mit reichlich Vorschusslorbeeren daher,
Vergleiche zu [1][David Foster Wallace] machen die Runde.
Gunty erzählt mit einem Kaleidoskop an Stimmen vom Leben in der fiktiven
Kleinstadt Vacca Vale im US-Bundesstaat Indiana, in der einst die
legendären Zorn-Automobile produziert wurden. Inzwischen sind die Autos
weg, geblieben ist der Zorn. Vacca Vale ist „eine dieser ausgemusterten
Einwegstädte, derentwegen Demagogen gewählt werden“, wie es zu Beginn
heißt.
Inmitten dieser sterbenden Stadt steht ein abgefuckter Wohnkomplex, der im
Volksmund als „Kaninchenstall“ bezeichnet wird. Dort lebt die junge
Blandine in einer WG mit drei Jungs, die alle in sie verliebt sind.
Blandine ist die Heldin des Romans, und der geht direkt in die Vollen.
Schon im ersten Satz verlässt die Seele der 18-Jährigen ihren blutenden
Körper und geht über in einen neuen Zustand. Dabei läuft ein in
Knicklichterfarbe getauchter Erzengel schreiend auf sie zu, ein Handy
überträgt die absurde Szenerie live ins Netz.
Es ist ein spektakulärer Auftakt, mit dem der neueste Stern am
amerikanischen Literaturhimmel seine rasante Geschichte beginnt. Der
titelgebende Kaninchenstall scheint hier kurz quicklebendig zu pulsieren,
bevor die Handlung ein paar Tage zurückspringt, um dann stetig auf das
vorweggenommene Finale zuzulaufen. Dabei lernt man Guntys (schein-)heilige
Figuren kennen, die alle von der sie umgebenden Tristesse durchdrungen
sind.
Da ist etwa die junge Joan Kowalski, die eine Website mit Nachrufen
betreut, ohne dabei auf einen grünen Zweig zu kommen. Ein älteres Ehepaar
hat die Kontrolle über das eigene Leben längst verloren, und eine Mutter
gruselt sich vor den Augen ihres gerade geborenen Sohnes. Dazu kommen die
drei Mitbewohner der Heldin, die ihre kindlichen Traumata an der Tierwelt
auslassen.
## Verzückung wie ein Wirbelsturm
Diese Figuren tauchen im Laufe des Romans immer mal wieder auf, einige als
Zaungäste der Handlung, andere als Akteure einer Nebenerzählung, die von
dem einstigen Kinderstar Elsie Blitz beziehungsweise ihrem grollenden Sohn
handelt. Als die von ihren Fans vergötterte Serienheldin stirbt, holen
Moses Blitz die Geister seiner Vergangenheit ein.
Im Kern dreht sich die Geschichte aber um Blandine, die eigentlich Tiffany
Jean Watkins heißt. Ihre Aufmerksamkeit gilt christlichen Mystikerinnen wie
der deutschen Äbtissin Hildegard von Bingen. Denn für die war „das Beten
wie ein Fluchtwagen, die Kathedrale wie ein Kaninchenbau, das Leiden wie
ein Wunderland, die göttliche Verzückung wie ein Wirbelsturm, der sie in
eine Welt der Farben brachte“, wie sie neidisch feststellt. Auch Blandine
will raus aus der sie umgebenden Ödnis, die Gunty in eindrucksvollen
Bildern als gleichermaßen kapitalistisch, kleinbürgerlich und
(post-)industriell kontaminiert beschreibt.
Zu all dem Verfall kommt noch ein #MeToo-Erlebnis, in dessen Folge aus
Tiffany – in Anlehnung an eine frühchristliche Märtyrerin – eben Blandine
wurde. Wie wir in einem Rückblick erfahren, machte Tiffanys unterkühltes
Verhältnis zu ihren Pflegeeltern die 17-Jährige empfänglich für Avancen
aller Art. Das trieb sie in die Arme ihres Musiklehrers, der seine
Schülerin nach einer gemeinsamen Nacht ghostete. Die schmiss daraufhin die
Schule, verkroch sich im Carroll’schen Kaninchenbau ihrer WG und sucht
seither ihr Seelenheil in anderen Sphären. Ihre davon verzerrte Wahrnehmung
prägt auch den Roman.
## Von #MeToo bis #BlackLivesMatter
Tess Gunty kennt die seelenlose Wirklichkeit im Rust Belt aus eigener
Erfahrung, entsprechend facettenreich breitet sie sie hier aus. Dafür wählt
sie mit umwerfender Souveränität formal und inhaltlich verschiedene Wege.
Während die realistische Erzählung von einer Perspektive in die nächste und
wieder zurück kippt, reißt die Autorin in Zeitungsartikeln, Blogeinträgen,
Aphorismen, Chatforen und Bildgeschichten unzählige Themen an – von
#eattherich bis #savetheplanet, von #MeToo bis #BlackLivesMatter.
Sophie Zeitz hat diese opulente Flut in ein freches und in alle Richtungen
hin offenes Deutsch übertragen, das den bissigen Dialogen, surrealen
Szenerien und einfallsreichen Wendungen mehr als gerecht wird. So
funktioniert auch die deutsche Übertragung wie TikTok, ist modern und
verspielt, aber auch vollkommen überfrachtet. Auf jeder Seite schreit es,
schau her, hier spielt die Musik. Die Lektüre wird so schon mal zum
unkontrollierten Binge-Watching der Diskurse unserer Zeit.
Aber in dem Durch- und Nebeneinander der Motive finden sich immer wieder
Miniaturen, Vignetten und Dialoge, die literarisch hell leuchten. Ob
relevant oder profan, Gunty beschreibt diese Welt mit einem unheimlichen
Gespür für das Konkrete, etwa wenn sie die perfiden Strategien im Internet
seziert. „Sie beuten die Einsamkeit der Leute aus, indem sie Gemeinschaft,
Anerkennung, Freundschaft versprechen. Ehrlich, da sind soziale Medien
genau wie Scientology. Oder [2][QAnon]. Oder Charles Manson.“
Dieser ambitionierte und immer wieder auch überdrehte Roman greift die
überbordende Gegenwart in einer Art endlosem Stream auf, allerdings ohne
darin eine Ordnung zu finden. „Im Allgemeinen spürt sie zu viel oder zu
wenig, interagiert sie zu viel oder zu wenig – nie die richtige Dosis“,
heißt es über Blandine auf den ersten Seiten. So geht es einem auch mit
diesem Text, der zwar nie die richtige Dosis findet, aber die komplexe
Gleichzeitigkeit der Wirklichkeit damit wohl perfekt trifft.
19 Aug 2023
## LINKS
[1] /Essays-von-David-Foster-Wallace/!5536400
[2] /QAnon/!t5708711
## AUTOREN
Thomas Hummitzsch
## TAGS
Literatur
Provinz
Kapitalismus
Soziale Medien
Geschlechterrollen
USA
Pulitzer-Preis
Roman
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