# taz.de -- Essays von David Foster Wallace: Die Erkenntnis der Sache | |
> Unter dem Titel „Der Spaß an der Sache“ sind alle Essays von David Foster | |
> Wallace auf Deutsch erschienen. Was macht es mit einem, sie zu lesen? | |
Bild: Schrieb über Tennis, und zwar brilliant: David Foster Wallace | |
Er ist erst kürzlich beerdigt worden. Es gab ein monströses Begräbnis, das | |
auf mehreren Kanälen im amerikanischen Fernsehen übertragen wurde; drei | |
ehemalige Präsidenten waren da, zwei davon hielten Reden. Seine einstigen | |
Widersacher George W. Bush und Barack Obama, befreit vom Druck ihres Amtes, | |
hielten launische, witzige, respektvolle Reden, während der gute alte Bill | |
Clinton mit knuffigem Fozzie-Bär-Gesicht stumm und ergeben in den Reihen | |
der Trauergäste saß. | |
John McCain, der es nie zum Präsidenten gebracht hatte, obwohl er einer der | |
größten Vorzeigerepublikaner der Neuzeit und eine, wie es selbst bei seinen | |
Gegnern hieß, ehrliche Haut war, war kurz vor seinem 82. Geburtstag an | |
Krebs gestorben. Sein Begräbnis fand am 2. September 2018 statt. [1][Ein | |
alter, weißer Mann], ja. Spoiler-Alarm: Da kommen noch mehr alte, weiße | |
Männer. | |
Nahezu zeitgleich, nur zwei Tage später, am 4. September 2018, schied der | |
Tennisspieler Roger Federer, die Nummer zwei der Welt, bei den US Open in | |
New York gegen den auch nicht mehr so jungen Australier John Millman (29) | |
bereits im Achtelfinale aus. Sein erstes Grand-Slam-Turnier hat der | |
mittlerweile 37-jährige Schweizer im Jahr 2003 gewonnen. Mittlerweile hat | |
er 20 Grand-Slam-Titel gesammelt; seinen Rücktritt vom Profitennis hat er | |
immer noch nicht erklärt. | |
Am 11. September 2018 jährten sich die Anschläge auf das World Trade Center | |
zum 17. Mal. Der 12. September 2018 war der zehnte Todestag [2][des | |
Schriftstellers David Foster Wallace] (im Folgenden kurz DFW). Er starb in | |
Folge krasser Depressionen und einer fehlgelaufenen Neumedikation in seiner | |
Arbeitsgarage in Claremont, Kalifornien, im Alter von 46 Jahren. Sein | |
Biograf D. T. Max spricht von einer Form von Rache; DFW hinterließ keine | |
Kinder, aber seine langjährige Frau Karen Green, die ihn finden musste. | |
## Zeitschleifen haben etwas Schräges | |
Roger Federer hat sich DFW 2006 in Wimbledon angesehen. Der Artikel | |
„Federer aus Fleisch und nicht“, den er für die New York Times darüber | |
schreiben durfte, hebt an mit dem Satz: „Praktisch jeder, der Tennis liebt | |
und die Herrenturniere im Fernsehen verfolgt, dürfte in den letzten Jahren | |
sogenannte Federermomente erlebt haben.“ | |
Über den 11. September 2001 hat er einen kurzen, so persönlichen wie | |
überaus merkwürdigen Artikel geschrieben, „Von Mrs Thompsons Warte“. Den | |
Präsidentschaftskandidatenkandidaten John McCain hat er während dessen | |
Vorentscheid-Tour im Februar 2000, in der er (also McCain jetzt) | |
schließlich George W. Bush, dem „Strauch“, unterlag, begleitet. Der Artikel | |
dazu heißt „Hoch, Simba“ (es geht viel um Tonangeln). | |
Es hat schon etwas Schräges. Also diese Zeitschleifen, die sich zeigen. | |
Jetzt, im August und September 2018, lese ich die (meisten) Artikel des | |
großen DFW zum ersten Mal, während parallel Dinge passieren, die | |
unmittelbar auf die Lektüre zurückstrahlen. McCain, Federer, der 11. | |
September. | |
Grund ist der silbern-fette Sampler „Der Spaß an der Sache“ (Kiepenheuer | |
und Witsch, 1.088 Seiten, 36 Euro), der auch äußerlich an den Mammuttrumm | |
„Unendlicher Spaß“ erinnert und „alle Essays“ und Artikel, die zu Lebz… | |
verstreut oder bereits als Einzelbücher erschienen sind, erstmals | |
versammelt. | |
## Ahnt Bestimmtes voraus | |
Dass DFW ein Riesenautor ist und bleibt, auch wenn er bestimmte | |
Entwicklungen nicht vorausahnte, menschlich naturgemäß mindestens schwierig | |
war und tief in den Hochzeiten der Ironie, den neunziger Jahren, steckte, | |
sollte klar sein. Dass diese Essays ihresgleichen immer noch vergeblich | |
suchen: logen. Andererseits markiert das Buch ein Ende, das Ende von DFW | |
als Hype. Was können wir jetzt noch von ihm lernen? | |
DFW schreibt also über Tennis. Er tut das brillant. Weil er von innen nach | |
außen schreibt, weil er sich sowohl auskennt wie Analogien schaffen kann, | |
die treffen – er spielt Tennis, Satz für Satz. DFW schreibt natürlich über | |
Literatur, und er schreibt über Literaturtheorie, was schon nicht mehr so | |
natürlich ist. Oder fällt Ihnen eine deutsche Autorin, ein deutscher Autor | |
ein, die oder der sich ernsthaft mit den Poststrukturalisten oder dem New | |
Criticism auskennt? | |
DFW schreibt über Politik, über den Politbetrieb, die Medien, über | |
Eventkultur im unterhaltungssüchtigen Amerika, und natürlich will er dabei | |
auch unterhalten. Er begibt sich auf eine Kreuzfahrt, schlendert durch | |
Themenfreizeitparks und gigantische Landwirtschaftsmessen, er wohnt einer | |
Preisverleihung der Pornofilmindustrie bei, er beobachtet einen politisch | |
rechts agierenden Radiomoderator bei der Arbeit. | |
Er tut all dies mit der großen, fast naiven Begeisterung eines jungen | |
Nerds, er tut dies, indem er sich mit vollstem Körpereinsatz in die Materie | |
wirft. Er ist im besten Sinne das, was man einen embedded journalist nennen | |
könnte; dass man ihn nicht auf eine Reise in den Irakkrieg geschickt hat, | |
ist womöglich purer Zufall. | |
## Faszination von den jeweiligen Welten | |
DFW ging in seinen Auftragsarbeiten nie oder nur selten von einer These | |
aus, der er lediglich im Realen nachzuspüren suchte, um sich endlich in | |
seinen Annahmen bestätigt zu sehen. Im Gegentum. Er ist von den jeweiligen | |
Welten so fasziniert wie abgestoßen, und entwickelt erst im | |
Bearbeitungsprozess schüchterne Thesen, die er mal mehr, mal weniger | |
offensiv ausformuliert. | |
Überhaupt: Der hier auch vom Verlag benutzte Genrebegriff für diese Texte | |
lautet „Essays“. „Reportagen“ wäre jedoch treffender gewesen. DFW ist … | |
Erzähler, trotz aller Manierismen, der notorisch metastatischen Fußnoten, | |
der inflationär gebrauchten Fremdwörter. DFW ist ein Erzähler, der über | |
Beschreibung in den Flow kommt. | |
Was er zum Beispiel außerordentlich gut kann: Personenbeschreibungen. „Mrs. | |
Edgar ist auf lackierte Weise kühl, gepflegt, hübsch und in dem | |
undefinierbaren Alter, das man ‚die besseren Jahre‘ nennt. Ihr tragischer | |
Makel ist ihre Stimme, die sich anhört, als hätte sie Helium inhaliert.“ | |
DFW reportiert also und findet meist erst aus dem Material heraus zum | |
Urteil. Und nur selten liegt er komplett schief. In „Neues Feuerspeien“ | |
meint er tatsächlich: „Bedeutsamer Sex ist Überwindung und Unterwerfung, | |
Transzendenz und Überschreitung, triumphierend, schrecklich, rauschhaft und | |
traurig.“ Zur PC hat er eine nachvollziehbar skeptische Haltung. | |
## Das Depressive und Kaputte fehlt | |
Wer seinen Besuch des Talkradio-Kosmos liest, ahnt, wieso die Neuen Rechten | |
in den USA schon vor Obama gefährlich waren und was da noch alles auf uns | |
zukommen könnte – und wieso das Format „Talkshow“, ob im Radio oder im T… | |
schon strukturell rechtslastig ist. | |
Was in diesen Essays fehlt, ist das Depressive und Kaputte, das er in der | |
Fiktion, besonders in „Unendlicher Spaß“, ausbreitet. Man hätte DFW auch | |
für einen glücklichen Menschen halten können. Dass er das nicht war, | |
schimmert in „Der Spaß an der Sache“ nur hier und da durch oder ist auf | |
entlegener höherer Ebene spürbar. Selbstbefragung ist dabei nicht seine | |
Stärke. Seine ganzen Neurosen und Phobien blühen lustig auf, werden | |
entweder schön ausgemalt oder halbgut versteckt, hinterfragt werden sie | |
kaum. | |
Bei „Medien“ fällt ihm in der Hauptsache das Fernsehen ein, mit dem er eine | |
co-abhängige Beziehung führte, was in den Ergebnissen irgendwie an | |
Medienkritiker à la Virilio oder Neil Postman erinnert: eine Maschine, die | |
süchtig macht. Vom Siegeszug der Serien, vom aufgefächerten Bezahlfernsehen | |
und dem omnipräsenten Internet auf Taschentelefonen ahnte er nichts. | |
Es könnte indes wieder wichtiger werden, den Blick – ob nun als | |
Journalistin oder Schriftsteller – nach außen hin zu verschärfen; sich der | |
Gesellschaft so hinzugeben, wie sie sich präsentiert. Ich erinnere mich an | |
Berichte von Helene-Fischer-Konzerten, die in die Richtung führten, aber | |
selbst diese kamen oft ideologisch daher; besser wäre es, die Dinge selbst | |
sprechen zu lassen. | |
## Was geht in heutiger Eventkultur | |
Eventkultur gibt es da draußen jedenfalls en masse. Gerade hat wieder das | |
Oktoberfest angefangen, und zwar in abertausend Klonen rund um die ganze | |
Welt. Das ist nur ein Beispiel. Es könnte auch um Weihnachtsmärkte, um | |
Schützenfeste, um Yogaseminare, um den 11. im 11. gehen. Was läuft da | |
eigentlich? Wie fühlt es sich an? Was suchen, was wollen die Leute da? Und | |
was sind das für Leute? | |
Ja, die weiße Mittel- bis Unterschicht. Am Samstag, den 8. September 2018, | |
verlor Serena Williams das Finale der Damen-Konkurrenz bei besagten US Open | |
und [3][zeigte sich als schlechte Verliererin]. Auch sie war 2003 bereits | |
Grand-Slam-Siegerin, sogar mehrfache. Am 26. September wird auch sie 37. | |
Über Williams schreibt DFW kaum etwas; er hält sich lieber an Tracy Austin, | |
die er als Spielerin bewunderte, als Autorin aber verachtete. | |
Im Finale von 2018 gewann mit Naomi Ōsaka erstmals eine Japanerin. Ōsaka | |
erklärte, sie habe von den Kontroversen rund um Williams und den | |
Schiedsrichter kaum etwas mitbekommen. Sie habe sich weggedreht: „Ich weiß, | |
dass sie wirklich den 24. Grand-Slam-Titel wollte, richtig?“, so Ōsaka nach | |
ihrem Erfolg. | |
Vielleicht ist man in einem zweiten Schritt schlauer als DFW: Indem man | |
vorher, nachher oder gleichzeitig die Reise ins eigene Ich antritt – und | |
davon genauso schreibt. Und versucht, die eigenen blinden Flecke | |
auszuleuchten – ob diese mit Identität oder psychischen Defiziten zu tun | |
haben, ist dabei beinahe egal. Worum es schließlich gehen sollte, ist | |
Erkenntnis. | |
30 Sep 2018 | |
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## AUTOREN | |
René Hamann | |
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