| # taz.de -- Neuer Roman von Christoph Höhtker: Fanbriefe an die Pharmaindustrie | |
| > In seinem Roman „Schlachthof und Ordnung“ metzelt Christoph Höhtker auf | |
| > inhaltlicher wie formaler Ebene. Eine Droge hält dabei alles zusammen. | |
| Bild: Irgendwo hier muss doch auch das gute Marom500 liegen | |
| Ein Wundermittel hat die Herrschaft über die Welt erlangt. Marom R500 heißt | |
| die intelligente Droge, die die Menschen reihenweise abhängig macht. Der | |
| Wirkstoff, Marazepam, löst nicht nur Ängste und euphorisiert die Nutzer, | |
| sondern sorgt auch dafür, dass sie effektiver handeln, ihre [1][Sucht] | |
| bereitwillig akzeptieren und dass sie gar politisiert werden. Eine | |
| chemische Allzweckwaffe. Und ein Traum für die Herstellerfirma Winston | |
| Pharmaceutics, die in Nordhessen eine Dependence unterhält. | |
| Das fiktive Medikament und die fiktive Firma stehen im Mittelpunkt von | |
| „Schlachthof und Ordnung“, dem vierten Roman des in Genf lebenden | |
| Schriftstellers Christoph Höhtker. Sein bis dato erfolgreichster Roman war | |
| „Das Jahr der Frauen“, der es 2017 auf die Longlist des Deutsches | |
| Buchpreises schaffte. Sein neues Werk ist zwischen den Genres Satire, | |
| Dystopie und Gegenwartsroman anzusiedeln – in Coronazeiten soff dieses | |
| abgedrehte Stück Prosa zu Unrecht etwas ab. | |
| Die Droge hält die Handlung von „Schlachthof und Ordnung“ zusammen, | |
| ansonsten aber gibt es haufenweise Protagonist:innen und unzählige | |
| ineinander verwobene Erzählstränge. | |
| Einer erzählt von dem maromabhängigen Investigativjournalisten Marc | |
| Toirsier, der eine Reportage über den titelgebenden Schlachthof eines | |
| französischen Fleischkonzerns schreibt und einen Entzug beginnt; ein | |
| nächster von dem linken Terroristen Thorsten Kray, der „primär ostdeutsche | |
| Nachwuchs-Nationalsozialisten liquidiert“, wie es im Buch heißt; ein | |
| weiterer erzählt von dessen Schwester Nele Hoffleit, die unter | |
| Angstzuständen litt, nun aber dank Marazepam dauerhaft in Hippiesphären | |
| schwebt und Fanbriefe an Winston Pharmaceutics schreibt: „Es ist, als hätte | |
| Marom in mir eine wärmende, unauslöschliche Flamme entzündet; manchmal | |
| glaube ich sogar, Marom selber ist diese Flamme.“ Und dann wäre da auch | |
| noch die Geschichte des Arztes Dr. Bunnemann, der „übermenschlich alt“ ist, | |
| aber seltsamerweise noch praktiziert. | |
| ## Durchdrehen im Wartezimmer | |
| Seinen Ausgangspunkt hat die Gesamthandlung im Wartezimmer dieses Arztes: | |
| Dort sitzt der – ebenfalls abhängige – Joachim A. Gerke, ein „Romanautor | |
| (keine Veröffentlichungen)“ und „Empfänger staatlicher Transferleistungen… | |
| der an einem fiktiven Text arbeitet. | |
| Der Leser hat nun teil daran, wie dieser Gerke sukzessive in seine eigene | |
| Handlung hineingleitet, während er sehnsüchtig auf Medikamentennachschub | |
| wartet. Und dann verwehrt Bunnemann ihm auch noch seine Ration! | |
| Höhtkers Roman wird selbst nach und nach zu einem wahnhaften Text. Die | |
| erfundene Droge hilft dem Autor, seine Figuren zu überzeichnen: So lässt er | |
| Gerke im Wartezimmer durchdrehen („Ich berufe mich nach Artikel 19 Absatz | |
| 23 folgend auf Befehlsnotstand in Tateinheit mit einsetzendem | |
| Tablettenwahnsinn. Plädoyer meines Pflichtverteidigers: schuldunfähig. | |
| Empfehlung des Gerichts: medikamentös flankierte Therapie“), er erfindet | |
| Terrororganisationen wie die A.N.N.E. (laut „Wikipedia“: „Aktive Neo-Nazi | |
| Entfernung, auch Advanced Neo-Nazi Extermination, Anaerobe | |
| Nach-Nationale-Elemente“), und er lässt einen Schlachthof-Manager | |
| Schweinenasen abtrennen und daraus Lustgewinn ziehen, um nur einige | |
| Beispiele zu nennen. | |
| Gemetzelt wird nicht nur auf inhaltlicher, sondern auch auf formaler Ebene. | |
| Neben sehr vielen verschiedenen Textformen – Briefe, Threads aus | |
| Internetforen, Fußnoten, Gedichte, dramatische Dialoge –, gibt es extrem | |
| viele Erzählebenen und „Realitätslevel“, wie Höhtker sie nennt. | |
| Aufgrund der Abgründigkeit, aber auch dem Humor, mit dem er schreibt, | |
| könnte man ihn in einer Tradition von Autoren wie Michel Houellebecq (ohne | |
| die Philosophie) und Frédéric Beigbeder (ohne den Yuppie-Aspekt) sehen, bei | |
| der kühl und clean beschriebenen Grausamkeit, die es im Buch gibt, mag | |
| einem auch Bret Easton Ellis in den Sinn kommen. | |
| Höhtker aber geht eigentlich noch einen Schritt weiter: Er macht sich über | |
| den Nihilismus, den er ausstellt, sehr offensiv selbst lustig. So muss man | |
| bei den Dialogen in Bunnemanns Praxis oft eher lachen, wenn dort etwa über | |
| Suizid gesprochen wird. | |
| Was ihn auf jeden Fall mit den genannten Autoren eint: Die Figuren sind zum | |
| Teil echte Arschlöcher, politisch korrekte Zeitgeist-Literatur ist das | |
| sicher nicht. Aber es ist Literatur, die unterhält, die einem das Hirn | |
| anknipst, die einen über diese schrägen Figuren und das Geschehen sinnieren | |
| lässt. Literatur, bei der man froh ist, dass sie unvermittelt und ganz ohne | |
| Beipackzettel daherkommt. | |
| 29 Jun 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Jens Uthoff | |
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