| # taz.de -- Impfen gegen die Sucht: Das Immunsystem überlisten | |
| > Die Entwicklung von Impfstoffen gegen Opioidsucht steckt noch in den | |
| > Anfängen. Die bisher vorliegenden Ergebnisse sind nicht | |
| > erfolgversprechend. | |
| Bild: Drogenkonsumraum: Hier gibt es auch Hilfe, um aus der Sucht auszusteigen | |
| In den letzten Jahren rückte der Kampf gegen Opioidmissbrauch mehr und mehr | |
| in den Fokus der Wissenschaft. Der Ansporn dazu kommt aus den [1][USA], wo | |
| der Konsum von Opioiden wie Heroin, Fentanyl und Oxycodon immer weiter | |
| zunimmt. Besonders erschreckend sind die zunehmenden Todesfälle durch | |
| Überdosis. Dafür gibt es verschiedene Gründe, von persönlichen Schicksalen | |
| über allgemeine Politik bis zum Gesundheitssystem. Dennoch zeigt es den | |
| Forschern: Neue Therapien sind dringend nötig. | |
| In Deutschland veränderte sich der Konsum von Opioiden in den letzten 25 | |
| Jahren kaum. Trotzdem versuchen auch deutsche Forscher, Sucht effektiver zu | |
| behandeln. | |
| Ein Ansatz dabei ist es, das körpereigene Immunsystem zu nutzen. Anders als | |
| bei herkömmlichen Impfungen erkennt der Körper die Drogen nicht automatisch | |
| als Eindringling. Deshalb tricksen die Wissenschaftler. Sie koppeln die | |
| Droge an andere Impfstoffe, zum Beispiel an das Mittel gegen Tetanus. So | |
| lernt das Immunsystem, Antikörper dagegen zu bilden, die daraufhin jedes | |
| Molekül – jedes Drogenteilchen – im Blut einfangen sollen. | |
| Gelangen die Drogen nicht ins Gehirn, können sie auch ihre Wirkung nicht | |
| entfalten. Denn die Effekte kommen erst dann zustande, wenn die Drogen an | |
| Andockstellen im Gehirn kommen, an die Rezeptoren. | |
| Die Sucht verschwindet durch die Impfung allerdings nicht einfach. Bei | |
| Abhängigen haben sich Prozesse und Verknüpfungen im Gehirn verändert, | |
| wodurch sie beispielsweise das heftige Verlangen („craving“) nach der Droge | |
| spüren. Wenn die Wirkung nun nach der Impfung ausbleibt, kann es passieren, | |
| dass die Betroffenen so viel nehmen, bis es nicht mehr genügend Antikörper | |
| gibt. Denn dann gelangen doch wieder Teile der Droge ins Gehirn, und es | |
| kommt möglicherweise sogar zu einer Überdosis. | |
| Eine weitere Gefahr ist, dass die Abhängigen auf ein anderes Opioid | |
| umsteigen. Die Impfungen sind so spezifisch, dass jede nur gegen eine | |
| bestimmte Substanz wirkt. Möchte man gegen verschiedene Drogen impfen, | |
| müssen entsprechend viele Impfstoffe entwickelt, getestet und für die | |
| medizinische Nutzung freigegeben werden: ein langwieriger Prozess. Das ist | |
| einer der Gründe, warum Wolfgang Sommer, Psychiater und Suchtforscher am | |
| Zentralinstitut für Seelische Gesundheit (ZI) in Mannheim, die Impfungen | |
| kritisch sieht: „Es werden immer wieder neue Opioidderivate entwickelt. So | |
| schnell kann man gar nicht für alles neue Impfstoffe testen und | |
| herstellen.“ | |
| Die amerikanischen Wissenschaftler Matthew Banks (Virginia Commonwealth | |
| University) und Marco Pravetoni von der University of Minnesota glauben | |
| jedoch, dass die Impfungen dennoch einen wichtigen Beitrag leisten können. | |
| Sie forschen jeweils an verschiedenen Impfstoffen und sehen die Chance vor | |
| allem in der Kombination mit bestehenden Therapien. | |
| Die Einstellung der Abhängigen sei entscheidend, glaubt Banks. „Die Person | |
| muss wirklich motiviert sein, ihre Erkrankung zu behandeln“, erklärt er. | |
| Egal mit welcher Behandlung – wer high werden will, findet einen Weg. | |
| Bislang gibt es zwei verschiedene Arten, Opioidsucht zu behandeln. Zunächst | |
| einmal sind da die Medikamente Naltrexon und Naloxon. Sie kommen an die | |
| gleichen Andockstellen im Gehirn wie die Opioide und verhindern so ihre | |
| Wirkung. Naltrexon wird dabei langfristig verabreicht. Doch es eignet sich | |
| nur bei sehr motivierten Patienten, da es das Verlangen nach den Drogen | |
| nicht verringert. Naloxon wird vor allem bei einer Überdosis eingesetzt, | |
| denn es wirkt schnell, aber kurzzeitig. | |
| Die zweite Art der Behandlung ist die sogenannte Substitution, die | |
| Drogenersatztherapie. Das heißt, die Patienten ersetzen ihre Droge durch | |
| andere Opioide. Das hat verschiedene Vorteile, beispielsweise | |
| kontrollieren die Ärzte die Dosis, und die Medikamente sind „sauber“ – | |
| anders als manche Drogen, die man auf der Straße bekommt. | |
| Das Substitutionsmittel Methadon lindert Schmerzen, löst aber keinen | |
| starken Rausch aus, und hilft so beim Entzug. Allerdings kann man auch von | |
| Methadon abhängig werden, und eine Überdosis ist genauso gefährlich wie | |
| bei Heroin. Buprenorphin unterdrückt das Verlangen nach Heroin und mildert | |
| Entzugserscheinungen. Außerdem wirkt es besonders schmerzstillend. | |
| ## Normaler Alltag ist schwierig | |
| Es mag merkwürdig klingen, eine Droge absichtlich durch eine andere zu | |
| ersetzen. Doch Substitutionstherapien helfen vielen Opioidabhängigen. Sie | |
| leben gesünder, können mit ihrem sozialen Umfeld besser umgehen und haben | |
| oft eine höhere Lebenserwartung. Allerdings müssen die Patienten auch hier | |
| ständig – teilweise täglich – in die Klinik, um ihre Medikamente zu | |
| bekommen. Allein das macht einen normalen Alltag schwierig, und viele haben | |
| nicht die Möglichkeit, die Energie oder die Motivation, es durchzuhalten. | |
| Ob die Impfungen es tatsächlich auf den Markt schaffen, um die bestehenden | |
| Therapien zu unterstützen, ist die große Frage. Marco Pravetoni und Matthew | |
| Banks sind zuversichtlich. Doch bisher wurden alle Impfstoffe gegen Opioide | |
| nur im Tierversuch getestet, bis auf eine wenig seriöse Ausnahme. Pravetoni | |
| und seine Gruppe wollen mit eigenen klinischen Tests in den USA starten. | |
| Bis zur Zulassung wird es aber noch einige Zeit dauern, auch wenn der | |
| Impfstoff sicher ist. | |
| Impfungen gegen Nikotin und Kokain sind hingegen schon weiter. Dafür | |
| existieren bereits fortgeschrittene klinische Studien. Doch selbst hier | |
| gibt es noch einige technische Probleme. Beispielsweise braucht man ständig | |
| Auffrischungen der Impfungen. Und auch dann bildet nur ein kleiner Teil der | |
| Probanden genug Antikörper, um die Drogen tatsächlich zu neutralisieren. | |
| Die Impfstoffe haben also bisher eine recht geringe Effizienz. Ein | |
| amerikanisches Forscherteam, das wenig begeisternde Ergebnisse in einem | |
| klinischen Versuch erzielte, fragt sich außerdem, wer die Impfungen | |
| eigentlich nutzen würde. Denn um 300 Teilnehmer für ihre Studie zu finden, | |
| benötigten sie 17 Monate – kein Anzeichen für großes Interesse der | |
| Abhängigen. | |
| Impfungen werden die Drogentherapie also vermutlich nicht revolutionieren. | |
| Abgesehen von den technischen Fragen, fasst Wolfgang Sommer es so zusammen: | |
| „Die Impfungen würden nicht die eigentlichen Probleme behandeln, weder die | |
| Ursachen für die Drogensucht noch die körperliche Abhängigkeit.“ Dennoch | |
| ist es möglich, dass sie als Zusatz zu anderen Behandlungen diejenigen | |
| Patienten unterstützen, die einen Weg aus der Drogensucht suchen – in | |
| einigen Jahren und nach vielen weiteren Studien. | |
| 30 Aug 2019 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Opiatkrise-in-den-USA/!5621375 | |
| ## AUTOREN | |
| Stefanie Uhrig | |
| ## TAGS | |
| Sucht | |
| Drogen | |
| Impfstoff | |
| Heroin | |
| Methadon | |
| Kolumne Schnelle Brille | |
| Drogen | |
| Drogenpolitik | |
| USA | |
| Öffentlicher Raum | |
| Drogen | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Opioidkrise: Die Augen werden immer leerer | |
| Fentanyl ist ein tolles Schmerzmittel und eine üble Droge. In Kanada hat | |
| man lernen müssen, damit umzugehen. In Deutschland herrscht Ignoranz. | |
| Opioid-Konzern beantragt Insolvenz: Jetzt wird abgerechnet | |
| Dem Unternehmen Purdue wird vorgeworfen, mit seinem Schmerzmittel Oxycontin | |
| ein Wegbereiter der Drogenkrise in den USA gewesen zu sein. | |
| Drogenbeauftragte der Bundesregierung: Mit Straßen kennt sie sich aus | |
| Daniela Ludwig ist Verkehrspolitikerin. Bald soll sie zu Koks, Gras und | |
| Alkohol arbeiten. Dass sie da keine Expertise hat, findet ein Minister | |
| okay. | |
| Opioid-Urteil in den USA: Ein schwaches Signal | |
| Das Urteil gegen Johnson & Johnson hätte eine Wende einleiten können. | |
| Stattdessen setzt es ein anderes Zeichen: Man kommt davon. | |
| Drogenszene in Berlin-Wedding: Einen Platz für alle schaffen | |
| Viele Trinker und Junkies: Am Leopoldplatz im Wedding kracht es regelmäßig. | |
| Doch die Geschichte des Platzes zeigt auch, wie Zusammenleben klappen kann. | |
| Fentanyl, eine tödliche Droge: Neun Tote in einer Nacht | |
| Das Schmerzmittel Fentanyl sorgt in Kanada als tödliche Droge für volle | |
| Leichenschauhäuser. Behörden sehen die Talsohle beim Opioid-Missbrauch noch | |
| nicht erreicht. |