| # taz.de -- Neuer Roman von Altmeister Don DeLillo: Die Sprachfetzen einsammeln | |
| > Auch nach einer Katastrophe wird die Welt schon irgendwie weitermachen. | |
| > Don DeLillos neuer Roman „Die Stille“ handelt von einer Apokalypse. | |
| Bild: Schmale Romane nach den Großwerken: Schriftsteller Don DeLillo | |
| Zugegeben, es ist etwas mager. Knapp 105 luftig bedruckte Seiten, die vom | |
| Verlag großmütig „Roman“ genannt werden, aber bei Licht betrachtet nicht | |
| viel mehr als eine Novelle darstellen. Don DeLillo, fast 84 Jahre alt, hat | |
| noch einmal ein Buch vorgelegt, das ist die eigentliche Nachricht hinter | |
| dem jetzt erschienenen „Roman“ „Die Stille“. | |
| Der Großmeister der New Yorker Postmoderne, der ungefähr die Schnittstelle | |
| zwischen Thomas Pynchon und dem schon gestorbenen Philip Roth bildet, ja | |
| doch, hat seit den frühen Achtzigern mehrere Großwerke zustande gebracht, | |
| darunter „Mao II“ und „Unterwelt“. [1][„Null K“,] das 2016 erschien… | |
| eigentlich schon seine Abschlussarbeit, die noch einmal alle Punkte seines | |
| Werks zusammenbrachte, inklusive einem milden Ausblick auf eine unendliche | |
| Lebensverlängerung dank Einfrieren. | |
| Aber jetzt eben „Die Stille“: ein Unterbrechen der Stille, ein | |
| Thematisieren der Stille, eine Vorausschau auf die endgültige Stille. Die | |
| Stille ist hier zunächst eine elektronische: Die Bildschirme bleiben | |
| schwarz. Irgendwo gab es einen Stromausfall oder Ärgeres. Ganz klar wird | |
| das nicht. Alle Netze sind heruntergefahren, ausgefallen, nirgendwo gibt es | |
| mehr Strom. Ein Flugzeug stürzt ab, und eine Kleingruppe Menschen, die sich | |
| zum Super Bowl in einem New Yorker Apartment verabredet hatten, guckt in | |
| die Röhre. | |
| Nun haben schon andere New Yorker Autoren über das New Yorker | |
| Apokalypse-Szenario eines umfassenden Stromausfalls geschrieben, zuletzt | |
| etwa Ben Lerner in „22:04“ (super Buch, sollte man lesen). DeLillo selbst | |
| ist immer wieder angetan von Katastrophenszenarios, sein gesamter Ansatz | |
| ist so erklärbar: Da gibt es Turbulenzen in der äußeren Welt, die uns | |
| unmittelbar angehen, auch weil sie Kaskaden von Wörtern, Sprachfetzen, | |
| Sätzen produzieren und eskalieren; diese Wörter, Fetzen, Sätze müssen | |
| eingesammelt und in einem neuen Kontext ausgestellt werden, fertig ist die | |
| Welterklärung. | |
| So funktioniert die DeLillo’sche Literatur; das ist das immer noch | |
| Postmoderne seines Ansatzes. So hat zum Beispiel auch [2][„Falling Man“] | |
| funktioniert, sein nicht ganz so schmales Buch über den 11. September 2001. | |
| ## Man schreibt 2022 | |
| Insofern ist auch „Die Stille“ wieder ein typischer DeLillo und ein gutes | |
| Buch; fast egal, dass weder auf Handlungsbögen noch auf Figurentiefe auch | |
| nur irgendwie Wert gelegt wird. Viel mehr als Schablone sind die Figuren | |
| hier tatsächlich nicht. Auffällig sind lediglich der vermutlich | |
| schizophrene Physiker und Einstein-Leser Martin sowie die dunkelhäutige und | |
| stets mit Notizbuch bewaffnete Lyrikerin Tessa. Fehlen noch Max und Diane, | |
| die beiden Gastgeber des Fernsehabends, und Jim, der blass bleibende | |
| Ehemann der Dichterin, dann hat man das Personal schon zusammen. | |
| Das Setting, hier ein Apartment, dort die Außenwelt, die vom Flughafen über | |
| eine Klinik sehr öffentliche Orte abhandelt, ist gewöhnlich. Man schreibt | |
| das Jahr 2022, ein bis zwei Jahre nach Corona, so steht es in dem Buch, das | |
| kein direkter Kommentar zur Seuche, zum Lockdown, zur Gesellschaft sein | |
| will. Aber ein indirekter ist, naturgemäß. | |
| So weist Tessa auf das hin, „was wir alle noch frisch in Erinnerung haben, | |
| das Virus, die Seuche, Corona, die Märsche durch die Flughäfen, die Masken, | |
| die entleerten Straßen der Städte“. Aber es gibt auch weniger direkte | |
| Stellen: „Die Pausen wurden zu Schweigephasen und fühlten sich allmählich | |
| an wie die falsche Art von Normalität“, heißt es in der Mitte, auf Seite | |
| 65. „Das Einfache und Erklärende, wo war das alles hin?“ Und: „Martin | |
| sagte: Leben wir in einer provisorischen Wirklichkeit? Habe ich das schon | |
| gesagt? In einer Zukunft, die noch gar keine Gestalt annehmen sollte?“ | |
| ## Der typische DeLillo-Sound | |
| Es gibt Leserstimmen, die recht enttäuscht waren von dem Buch. Es bietet ja | |
| auch nicht viel an: Es greift die Probleme dieser Zeit auf, tippt Diskurse | |
| an, ohne sie zu vertiefen. Stattdessen gibt es den stark komprimierten | |
| typischen DeLillo-Sound, den man auch selbstimitierend finden kann. | |
| Ein lustiges Hin und Her von seltsamen Sätzen, meist in direkter Rede. Es | |
| gibt Kommentare zum US-Sport, zum Finale der amerikanischen | |
| Football-League, zur letzten Fußball-WM. Und Metakommentare über das | |
| Bildschirmleben dieser Welt und das vorsichtige Ausloten dessen, was es | |
| bedeuten kann, dass sie jetzt ausgefallen sind. | |
| Und vielleicht war es das jetzt, vielleicht auch nicht. Don DeLillo lässt | |
| das Ende des Buchs genauso offen wie das gesamte Setting. Und das Ende | |
| seines eigenen Schreibens diesmal auch: Es wird Stille geben, irgendwann | |
| einmal, vielleicht auch jetzt schon, es ist alles sehr still, die | |
| Bildschirme sind schwarz. | |
| ## Seinem Werk angemessen | |
| Sein letztes Wort muss das aber noch nicht gewesen sein. Und wenn es das | |
| doch war, dann ist es eines, das seinem sonst so überbordenden Werk dennoch | |
| angemessen ist. | |
| Die Welt wird schon irgendwie weitermachen, selbst wenn sie in eine | |
| Katastrophe fällt. Solange gesprochen wird, werden Wörter anfallen, die | |
| dann aufgeschrieben werden müssen. Das wird seine Lehre gewesen sein. | |
| 15 Nov 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| René Hamann | |
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