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# taz.de -- Louise Erdrichs Roman „Jahr der Wunder“: Die Kraft der Sätze
> Erdrich erzählt in „Jahr der Wunder“ wie eine indigene Buchhändlerin mit
> Vergangenheit und Gegenwart ringt und Erlösung in der Literatur findet.
Bild: Die indigene US-Autorin Louise Erdrich
Ich liebe Statistiken, weil sie das, was einem einzigen Bruchteil der
Bevölkerung zustößt, zum Beispiel mir, in globale Zusammenhänge stellen“,
erklärt die Ich-Erzählerin in Louise Erdrichs neuem Roman. Das ist zwar nur
eine Nebensache, erklärt aber, warum der Mittdreißigerin Tookie ein
Freundschaftsdienst zum Verhängnis wurde. Vor Jahren bat ihre beste
Freundin sie, den plötzlich verstorbenen Ex-Mann der Freundin aus dem Haus
seiner Affäre zu holen. Tookie ließ sich breitschlagen, allerdings
unterliefen ihr zwei Fehler.
Zum einen ließ sie den Toten im zweckentfremdeten Kühlwagen zurück, zum
anderen hatte sie dessen Achselhöhlen nicht kontrolliert. In denen fand die
Polizei Drogen, und Tookie musste in den Knast. „Ich stand statistisch auf
der falschen Seite. Indigene sind in amerikanischen Gefängnissen die am
stärksten überrepräsentierte Bevölkerungsgruppe“, kommentiert sie zu Begi…
dieser unterhaltsamen Geistergeschichte lakonisch.
Die 1954 in Minnesota geborene Louise Erdrich ist eine der bekanntesten und
erfolgreichsten indigenen US-Autor:innen. Für ihren (damals bereits 14.)
Roman „Das Haus des Windes“ erhielt sie 2012 den National Book Award. Es
folgten zahlreiche weitere Preise, bevor sie 2021 für „Der Nachtwächter“
den Pulitzerpreis erhielt.
## Fulminantes Native-Epos
In diesem fulminanten Native-Epos greift sie die Biografie ihres Großvaters
Patrick Gourneau auf, der den Protest gegen die Enteignung der
US-amerikanischen Ureinwohner:innen bis nach Washington trug. Ihr
gerade erschienener Roman „Jahr der Wunder“ stand 2022 auf der Shortlist
für den Women’s Prize for Fiction.
In ihrem Romane, Gedichte, Kinder- und Sachbücher umfassenden Werk setzt
sich die 69-jährige Autorin immer wieder mit der indigenen Wirklichkeit in
der geschichtsvergessenen US-amerikanischen Gegenwart auseinander. So auch
in dem aktuellen Roman mit dem doppeldeutigen Originaltitel „The Sentence“,
was sowohl „Strafe“ als auch „Satz“ bedeuten kann. Mit der Strafe hält…
dieser Roman nur kurz auf, schnell wendet er sich den Sätzen zu, die die
Weltliteratur bedeuten.
Denn Tookie fängt, vorzeitig entlassen, mit Mitte Vierzig bei Birchbark
Books an, einer Buchhandlung, die im Roman als „schlichter kleiner Laden“
beschrieben wird, in dem eine blaue Tür in den „Verkaufsraum mit
Abteilungen für indigene Literatur, Geschichte, Lyrik, Sprachen,
Biografien“ führt.
## Die kleine Buchhandlung
Diese Buchhandlung gibt es wirklich, Louise Erdrich hat sie vor Jahren in
Minneapolis gegründet. Sie werde „von beherzten Menschen betrieben, die an
die Kraft guten Schreibens, die Schönheit handgemachter Kunst, die Stärke
der indigenen Kultur und die Bedeutung kleiner, intimer Buchhandlungen
glauben“, heißt es auf der Website [1][birchbarkbooks.com].
Der Roman liest sich in weiten Teilen wie eine Verneigung vor den beherzten
Menschen, die Literatur an die Leser:innen bringen. „Ich bin
Buchhändlerin – das ist eine Identität, eine Lebensweise“, sagt Tookie ba…
und spricht nicht nur hier vielen ihrer nicht-fiktiven Kolleg:innen aus
der Seele. Als Erzählerin begibt sie sich auf Bücherpfade und erzählt
davon, wie das Lesen ihr Leben prägt.
Sie stellt in kleinen, aber höchst unterhaltsamen Vignetten dankbare und
herausfordernde Kund:innen vor, führt eindrucksvolle Leselisten und
berichtet von den skurrilen Seiten des Buchhandels. Nichts toppt aber die
Ereignisse, die nach dem Tod von Flora, einer der nervigsten Kundinnen,
eintreten. Wenn Tookie den Laden morgens betritt, sind „Papier- und
Bücherstapel verschoben, als hätte jemand sie durchgeblättert“. Kratzen,
Rascheln und Rumoren scheinen Floras geisterhafte Präsenz in der
Buchhandlung zu bezeugen.
Hinter dem Spuk steckt die düstere US-amerikanische Geschichte im Umgang
mit der indigenen Bevölkerung, die „jahrhundertelang ausgetilgt und dazu
verurteilt wurde, in einer Ersatzkultur zu leben“. Erdrich, die diese
Geschichte schon so oft erzählt hat, erweitert hier die Handlung um zwei
zentrale Ereignisse, die sie im „Jahr der Wunder“ 2020 hautnah erlebt hat:
die Pandemie und den Mord an George Floyd.
## Pandemie und der Mord an George Floyd
Während der Laden in den Pandemiebetrieb wechselt und Tookies Mann Pollux
in einer Coronaklinik um sein Leben ringt, gerät dessen Tochter bei den
Protesten gegen die rassistische Polizeigewalt in Gefahr.
Hier wirkt das Buch zuweilen etwas überladen, die Harmonie der
magisch-realistischen Erzählung droht unter die Räder der bitteren Realität
zu geraten. Das verzeiht man aber diesem Roman, der auf so vielen anderen
Ebenen – literarisch, politisch, historisch und kulturell – den Horizont
erweitert. Jenen, die es nach der Lektüre nicht in die Buchhandlung des
Vertrauens zieht, ist nicht zu helfen.
Erdrichs deutsche Übersetzerin Gesine Schröder beweist einmal mehr das
sprachliche Geschick, die Leichtigkeit und Komik, aber auch die
Ernsthaftigkeit des Originals sowie seine zahlreichen kulturhistorischen
Verweise elegant im Deutschen nachzubilden.
29 Jul 2023
## LINKS
[1] https://birchbarkbooks.com/
## AUTOREN
Thomas Hummitzsch
## TAGS
Pulitzer-Preis
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