# taz.de -- Biografie über Philip Roth: Tango tanzt hier nur einer | |
> Blake Bailey analysiert den Schriftsteller Philip Roth in seiner | |
> Biografie nur unzureichend. Dessen Neurosen schildert Bailey aus allzu | |
> großer Nähe. | |
Bild: Der US -Amerikanische Autor Philip Roth | |
Weil ihr Autor Blake Bailey sexueller Übergriffe bezichtigt wurde, ist die | |
Philip-Roth-Biografie in den USA inzwischen vom Markt genommenen worden, in | |
Deutschland ist kürzlich ihre Übersetzung erschienen. Bailey rühmt sich in | |
der Einleitung einzigartiger Nähe zu seinem Thema: „An einem schönen, | |
sonnigen Nachmittag saß ich auf dem Sofa in seinem Studio, hörte, wie unser | |
größter lebender Schriftsteller seine Blase entleerte, und dachte, besser | |
könne man es als amerikanischer Literaturbiograf kaum haben.“ | |
Philip Roth hatte [1][vor seinem Tod im Jahr 2018] dem Autor seine Archive | |
geöffnet und ausführliche Interviews gegeben; das Buch kann als eine wenn | |
nicht autorisierte, so doch begünstigte Biografie gelten. Anders, als | |
Bailey glaubt, offenbart sich in der zitierten Szene jedoch nicht die | |
Stärke, sondern die Schwäche seines Buchs. | |
Sie liegt einerseits in einer Vorherrschaft des Anekdotischen. Bailey hat | |
Zugang zu so vielen vermeintlich authentischen (medizinischen, erotischen, | |
finanziellen, karrieretechnischen) Lebenseinzelheiten des großen Romanciers | |
bekommen und ist so beschäftigt damit, sie auszuplaudern, dass er nicht | |
mehr dazu kommt, die großen geistesgeschichtlichen Linien sachgerecht zu | |
beleuchten, die Roths einzigartiges Werk in Wirklichkeit hervorgebracht | |
haben. | |
So erfahren wir zwar mehr Einzelheiten über seine studentischen Dates, als | |
irgendjemanden interessieren müsste; aber so gut wie nichts über die – für | |
die amerikanische Bildungs- und Literaturgeschichte hochwichtige – | |
Konzeption der University of Chicago unter Robert Maynard Hutchins und die | |
damals von ihr ausgehende „Great Books Tradition“. | |
## Literarische Leistung zu wenig gewürdigt | |
An Einzelheiten aus dem Haushalt in Newark ist kein Mangel; unterbelichtet | |
aber bleibt die – tatsächlich epochale – Leistung Philip Roths, gemeinsam | |
mit Saul Bellow und Bernard Malamud die zeitgenössische jüdische Lebenswelt | |
in die literarische Moderne eingeführt zu haben. Aber auch die | |
minderheitensoziologisch hochbedeutenden Konflikte Roths mit der | |
offiziellen amerikanischen Judenheit – Stichwort: jüdischer Selbsthass – | |
werden seltsam kursorisch behandelt. | |
Auf welche seiner Studentinnen im Creative-Writing-Programm der University | |
of Iowa seine Frau eifersüchtig war, wissen wir nach der Lektüre von | |
Baileys Buch; aber wenig darüber, wie das didaktische Verfahren der | |
Iowa-Schreibwerkstätten die seine, die amerikanische und dann die | |
Weltliteratur (übrigens besonders: die deutsche) bis heute so stark | |
beeinflusst hat, dass man die Literaturgeschichte nach 1945 mit Grund als | |
„The Program Era“ bezeichnet hat (so lautet der Titel eines wichtigen Buchs | |
des amerikanischen Literaturwissenschaftlers Mark McGurl). | |
Wer was wann über „Portnoys Beschwerden“ gesagt, geschrieben oder | |
insinuiert hat, zeichnet Bailey in ermüdender Ausführlichkeit nach; aber | |
auf welche gesellschaftliche Lage dieses Buch 1969 traf und warum es in | |
dieser Lage den bekannt überwältigenden Erfolg gehabt hat, bleibt bei der | |
Lektüre dunkel. | |
Die Details und exklusiven Informationen, die Bailey aufgrund seines | |
exklusiven Zugangs zu Roth und durch die Befragung von ungefähr 200 anderen | |
Personen erhalten hat, überwuchern die eigentlich interessanten | |
biografischen Koordinaten dieses Lebenswerks und die großen Linien seiner | |
Entwicklung und Rezeption fast völlig. | |
## Unangemessen parteilich | |
Mit dem Grundfehler des exzessiv Anekdotischen eng verknüpft ist die zweite | |
Schwäche von Baileys Buch, eine dem biografischen Genre unangemessene | |
Parteilichkeit in der Schilderung der Roth’schen Lebensumstände. Da Bailey | |
die – ihn vor allem interessierenden – persönlichen Informationen und | |
Indiskretionen vorwiegend von Roth selber erfahren hat, ist der | |
Gerechtigkeitsgrundsatz des „Man höre auch die andere Seite“ ungenügend | |
beachtet und es gelingt dem Biografen folglich nicht wirklich, zum Beispiel | |
die beiden hochtoxischen Ehen des Schriftstellers in der Vertracktheit und | |
Gegenseitigkeit darzustellen, die in Wirklichkeit das Grundgesetz solcher | |
Verstrickungen ausmacht. | |
„It takes two to tango“, sagt man in Amerika; Bailey dagegen malt die Sicht | |
Roths, die der Schriftsteller schon in den Romanen „Mein Leben als Mann“ | |
oder „Mein Mann, der Kommunist“ literarisch verarbeitet und in der | |
Autobiografie „The Facts“ geschildert hatte, mit nachgelieferten Details | |
illustrativ aus, ohne dass wir etwas darüber lernen, wie es sich | |
tatsächlich zugetragen haben könnte. Es entsteht kein plausibleres | |
Krankheitsbild als dasjenige des berühmten Unfallbeteiligten selber: | |
nämlich das wenig plausible Porträt zweier gestörter Frauen, die einsam auf | |
der Bühne Tango tanzen, während ihr Opfer unschuldig und fassungslos | |
zusieht. | |
Eine ähnliche Distanzlosigkeit waltet in Baileys biografischer Behandlung | |
des sexuellen Eroberungszwangs, der den Schriftsteller zeitlebens in | |
zerstörerischer und selbstzerstörerischer Weise umtrieb. Statt dieses | |
Verhalten auf seine lebensgeschichtlichen, psychologischen, soziologischen | |
und Gender-Voraussetzungen zu befragen, behandelt er es augenzwinkernd als | |
„boys will be boys“-Selbstverständlichkeit. | |
Eine detaillierte und problembewusste Auseinandersetzung mit Philip Roths | |
neurotischer Krankheitsgeschichte – sein New Yorker Psychoanalytiker Hans | |
J. Kleinschmidt hat sie 1967 (anonymisiert, aber erkennbar) in einem | |
wissenschaftlichen Aufsatz niedergelegt – ist ebenfalls nur in Ansätzen und | |
Spurenelementen zu erkennen. | |
## Spielart literarischen Klatschs | |
Heuristischen Wert für die Literaturwissenschft hat Baileys Buch somit als | |
die bisher wohl ausgedehnteste Stoffsammlung zu Philip Roths Leben. Fans | |
des Schriftstellers und seines Werks wird das Buch zudem als eine Spielart | |
höheren literarischen Klatschs erfreuen – ein Vergnügen, dem man sich | |
gerade im Fall eines Autors ohne übertriebene Skrupel hingeben kann, der | |
sein eigenes Leben und das der ihm Nahestehenden stets als Rohstoff des | |
Schreibens verstanden und benutzt hat. | |
Beides ist nicht unbedingt geringzuschätzen, wobei freilich das | |
Lesevergnügen an der deutschen Ausgabe durch eine Übersetzung gemindert | |
wird, der eine – zum Teil sinnentstellende – Wörtlichkeit offenbar | |
wichtiger gewesen ist als flüssiger und plausibler Stil in der Zielsprache. | |
23 Jun 2023 | |
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## AUTOREN | |
Stephan Wackwitz | |
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