# taz.de -- Nachruf auf US-Autor Philip Roth: Er war nicht allen geheuer | |
> Seine Figuren umtrieb ein Wunsch: Ein Leben, das von anderen unbeurteilt | |
> bleibt. Philip Roth war ein Großer, dem die größte Huldigung verwehrt | |
> blieb. | |
Bild: Klar, man konnte von seinen Beschreibungen, vom Lecken, Kauen, Kotzen, au… | |
Verräter, Antisemit, zionistischer Agent, jüdischer Selbsthasser, | |
Dilettant, Voyeur, geiler Bock – der dritte Roman des damals 36-jährigen | |
Autor Philip Roth bescherte ihm ein Image, das er zeit seines Schreibens | |
nie wieder ganz los wurde. | |
Eine Fernsehmoderatorin kündigte damals an, ihn in ihre TV-Show einzuladen, | |
ihm aber nicht die Hand zu geben. Die Tschechoslowakei erteilte ihm | |
Einreiseverbot. Kritiker wie Gershom Scholem oder auch Marcel Reich Ranicki | |
warfen ihm damals vor, Rechtfertigungen für die antisemitische | |
Wahnvorstellung zu liefern. „Ich habe ein paar Witze über Piepelspielchen | |
in Newark gerissen, aber man könnte glauben, ich hätte die Knesset in die | |
Luft gesprengt“, kommentierte Roth Jahre später die Aufregung über sein | |
Buch „Portnoys Beschwerden“ von 1969. | |
Es sollte sein größter Erfolg werden: Die Bekenntnisse des in die Leber | |
fürs Abendessen onanierenden Alexander Portnoy wurden über sechs Millionen | |
Mal gekauft. Der jugendliche Titelheld erzählt darin in einem grotesken | |
Monolog seinem Analytiker von seinen nicht zu unterdrückenden sexuellen | |
Begierden. Portnoy glaubt, dass diese eine Folge seines Kampfes mit den | |
Regeln seiner jüdisch-amerikanischen Familie und der Emanzipation von | |
seiner übersorgsamen Mutter sind. | |
Es ist der Kampf gegen all die Projektionen auf den Juden, von außen wie | |
von innen. Die amerikanisch-jüdische Mittelklasse, die mit ihrer zwar | |
spezifischen Geschichte sich in Kleingeist und Borniertheit von | |
christlichen Mittelklassefamilien aber kaum unterscheidend, in den | |
Mittelpunkt einer Geschichte zu stellen, in denen der jüdische Protagonist | |
kein bemitleidenswertes Opfer oder eine rettende Erlöserfigur ist, sondern | |
ein vor Selbstmitleid und Anklage zerbeultes Wrack, das hatte sich nach der | |
Shoah bislang kein namhafter Autor getraut. Und das in den 60er Jahren! | |
Statt sich mit dem Vietnamkrieg zu beschäftigen, schrieb Roth über | |
Haarausfall und einen wichsenden jüdischen Jungen mit Identitätskonflikt. | |
## Viel onanieren | |
So wie „Portnoys Beschwerden“ spielen die meisten von Roths Romanen in | |
Newark, New Jersey, wo er geboren ist. Und so wie die meisten seiner Romane | |
ist auch Portnoy in einer Mischung aus Parodie, Burleske, Slapstick, | |
Lächerlichkeit, Beleidigung, Schmähung, Spott, Frivolität sowie den | |
Methoden und Mustern der Komödie verfasst. Und so wie bei Portnoy zieht | |
sich durch sämtliche Figuren von Roths Romanen immer nur der eine Wunsch: | |
ein Leben zu führen, das von anderen oder von ihm selbst nicht beurteilt | |
wird. Ein Leben, das eine Protagonistin in „Die Anatomiestunde“ so | |
schildert: „Viel malen. Viel im Garten arbeiten. Viel onanieren.“ | |
Auch wenn Roth seit etlichen Jahren zu den wichtigsten US-Schriftstellern | |
des 20. Jahrhunderts gezählt wird und immer wieder für den Nobelpreis | |
gehandelt wurde – so richtig umschwärmt wurde er, vor allem in Europa, nie | |
so richtig leidenschaftlich. Marcel Reich-Ranicki hielt ihn für einen | |
Dampfplauderer, aber auch in den USA war er gerade am Anfang seiner | |
Karriere nicht allen geheuer. Roths Image als sonderbarer, zwielichtiger, | |
menschenscheuer, wenn auch äußerst talentierter Autor blieb. Und das, | |
obwohl er sich mit Journalisten traf und Interviews gab und immer wieder | |
auf charmante Weise erläuterte, dass er selbst, Mr. Roth, nicht identisch | |
sei mit den Mistern, die er als Autor in seinen Romanen beschrieb. | |
Früher war er mal witzig, im Alter wurde er ernst – so in etwa beurteilen | |
seit Jahren die Kritiker sein Werk. Dass es falsch sei, seine Arbeiten in | |
komisches Früh- und melancholisch-moralisches Spätwerk zu unterscheiden, | |
hatte der Autor allerdings schon in einem Interview mit der | |
Schriftstellerin Joyce Carol Oates 1974 klargestellt: „Meine engsten | |
Freunde waren schon immer die pure Heiterkeit und das Todernste“. | |
Zwar bilden in seinem Spätwerk sowohl in der Trilogie, „Amerikanisches | |
Idyll“ (1997), „Mein Mann, der Kommunist“ (1998) und „Der menschliche | |
Makel“ (2000) als auch in „Verschwörung gegen Amerika“ (2004) tatsächli… | |
politische Ereignisse – der Vietnamkrieg, die McCarthy-Zeit, akademische | |
Debatten um Politcal Correctness – den Rahmen der Erzählungen. Die | |
Inspektion der Konflikte des Egos bleiben trotzdem Roths Thema. Und das | |
geht bei ihm gar nicht ohne Slapstick, denn die Probleme des Egos sind nun | |
mal ein einziger Slapstick. Wer sie zu ernst nimmt, läuft Gefahr sie nicht | |
zu überleben. | |
## „Was werden die Leute dazu sagen?“ | |
Ohne Rücksicht auf Opferstatus, Gruppen-, Klassen- oder | |
Geschlechterzugehörigkeit war sein Schreiben darum bemüht, so genau wie | |
möglich zu inspizieren, was uns so quält, wenn wir glauben, mit uns alleine | |
zu sein. Denn wir sind es ja nie. Immer sitzt irgendein drohendes Urteil | |
neben uns und mahnt: „Was werden die Leute dazu sagen?“ oder „Was werden | |
die Leute über dich denken?“ Sein Interesse galt den tabuisierten | |
Konflikten und Kämpfen der Individuen, die jenseits der großen Erzählungen | |
von Krieg und Kapitalismus geführt, aber den Alltag, die Geschichte, die | |
Handlung, das Denken, das Welt- und Lebensgefühl des Einzelnen bestimmen | |
und in vielen Fällen bei der Sexualität anfangen und enden. | |
Von so einem Autor könnte man erwarten, dass ihm der Aufruhr um seine | |
Autorenschaft nur Recht gewesen sei, schließlich wäre es kein Tabubruch, | |
bliebe die Empörung aus. Doch Roth ging die Kritik an seinem Portnoy sehr | |
wohl nahe. Für die deutsche Ausgabe schrieb er sogar ein Vorwort, in dem er | |
sich vor etwaigem Missbrauch der Geschichte verwahrte: Es handle nicht von | |
Menschen, die in einem totalitären System wie Tiere behandelt werden, | |
sondern von Menschen, die man in einer freien Republik wie Menschen | |
behandelt. | |
1979 nimmt er sich dann aber doch eine Figur vor, die direkt von der Shoah | |
betroffen war: In „The Ghostwriter“ hat Anne Frank die Nazis überlebt und | |
ist nun Schriftstellerin, die um Anerkennung als Künstlerin kämpfen muss.“ | |
„Einmal werden wir auch wieder Menschen und nicht bloß Juden sein“, sagt | |
sie, weil sie als Autorin immer auf ihre persönliche Geschichte reduziert | |
wird. „Geschmacklos“ lautete das Urteil der Kritiker. Aber wie Recht hatte | |
Roth schon damals, dass die obsessive Beschäftigung und Vermarktung der auf | |
dem Foto immer lächelnden Anne Frank vor allem zur eigenen Erbauung und | |
Bändigung des Schreckens diente. | |
Als der mittlerweile auf die 70 zugehende Philip Roth zunehmend ältere | |
Männer in den Fokus seiner Erzählungen stellt, wird er dem Publikum noch | |
suspekter. Viele sehen jetzt nur noch Altherrenerotik. Roth gilt als alter | |
Sack. Warum aber sollte ein alter Herr, der als junger Mann über die | |
Illusionen, Begierden, Frivolitäten und Perversionen junger Männer | |
geschrieben hatte, nicht über die Illusionen, Begierden, Frivolitäten und | |
Perversionen alter Männer schreiben? Und so unangenehm die Lektüre sein | |
mag, so nah kommt sie den Psychen der weißen, alten Männer. | |
Freilich, man konnte von Roths Beschreibungen, vom Lecken, Kauen, Kotzen, | |
Pinkeln, Ejakulieren, Aussscheiden, Verstopfen, auch irgendwann genug | |
haben. Aber Philip Roth war und blieb einer, der das Unangenehme beschrieb | |
und damit nie ganz verdaubar war. Und genau dieses Unverdaubare machte ihn | |
als Autor so interessant, so gut und so groß. | |
23 May 2018 | |
## AUTOREN | |
Doris Akrap | |
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