| # taz.de -- Autobiografie von Margo Jefferson: Selbstbehauptung gegen den Kanon | |
| > Was es bedeutet, privilegiert und reich zu sein in einer rassifizierten | |
| > Gesellschaft, beschreibt Margo Jefferson in „Constructing a Nervous | |
| > System“. | |
| Bild: Beschreibt, wie fragil Identität ist: Margo Jefferson | |
| Was bedeutet es, reich in den 1950er Jahren aufzuwachsen – aber als | |
| Afroamerikaner*in? Diese Frage steht im Mittelpunkt einer der wichtigsten | |
| Memoiren des letzten Jahrzehnts, des Buches „Negroland“ der | |
| US-amerikanischen Kritikerin Margo Jefferson, das 2015 erschien. In | |
| „Negroland“ widmet sich Jefferson der komplizierten Konstruktion von | |
| Identität – was es bedeutet, wenn man von seiner Umwelt als Schwarz | |
| konstruiert wird, wie es das Lesen, Denken und das Verständnis von | |
| Geschichte verändert. | |
| Noch interessanter für aktuelle Debatten ist allerdings der kürzlich | |
| erschienene Nachfolgeband „Constructing a Nervous System“, in dem die | |
| Autorin die Fäden des ersten Buchs aufnimmt und Fragen stellt zur Rolle, | |
| die Schwarze Menschen in der mehrheitlich weißen Literaturgeschichte | |
| spielen. | |
| Dabei gehören dazu besonders Texte wie Louisa May Alcotts [1][„Little | |
| Women“] und Willa Cathers „Das Lied der Lerche“, in denen klugen jungen | |
| Frauen Identifikationsangebote gemacht werden – sofern sie weiß sind. Die | |
| Frage im Zentrum des zweiten Buchs ist: Wie bilde ich mir ein Selbstbild, | |
| wenn ich dafür nur Autor*innen und Vorbilder habe, die entweder weiß | |
| sind – oder von weißen Kritikern herabgesetzt werden? | |
| Margo Jefferson ist seit Jahrzehnten eine der führenden Kulturkritikerinnen | |
| und -figuren in den USA. Als sie 1995 mit dem Pulitzerpreis für Kritik | |
| ausgezeichnet wurde, hatte sie bereits über zwei Jahrzehnte lang für | |
| Zeitungen von Newsweek bis New York Times geschrieben und an | |
| unterschiedlichen Universitäten unterrichtet. Im Jahr 2006 veröffentlichte | |
| Jefferson ihr erstes Buch, [2][ein Popkulturessay über Michael Jackson], in | |
| dem neben Diskussionen von Jacksons Kindheit auch und besonders Jacksons | |
| Begriff von Männlichkeit dekonstruiert wurde; es ist das einzige Buch der | |
| Autorin, das bislang auf Deutsch vorliegt. | |
| ## Brüche in der Identitätsbildung junger Schwarzer Menschen | |
| Dieses Projekt, Michael Jackson nicht in seiner Zeit zu verorten, sondern | |
| quer dazu, im Widerspruch zu Begriffen von Männlichkeit und Pop-Stardom zu | |
| verstehen, mit Anleihen bei anderen Stimmen wie Little Richard, passt zu | |
| dem größeren Projekt in Margo Jeffersons Werk: dem Aufspüren von | |
| kulturellen Querverbindungen und der Darstellung von Brüchen in der | |
| Identitätsbildung junger Schwarzer Menschen. | |
| Nun also ihre Memoiren. In „Negroland“ fand Jefferson für die | |
| Widersprüchlichkeiten einer Kindheit, die sonst eher selten im Mittelpunkt | |
| steht, eine eigene Form. Zu den Themen des Buchs gehört die Schulzeit in | |
| einer mehrheitlich weißen Schule ebenso wie die damals hohe Selbstmordrate | |
| unter jungen Afroamerikaner*innen, aber zentral, und in immer neuen | |
| Anläufen, geht es um die Frage, was es eigentlich bedeutet, privilegiert | |
| und reich zu sein in einer rassifizierten Gesellschaft. | |
| Die Frage ist der 1947 geborenen Autorin wichtig, denn sie wurde in Chicago | |
| als Kind reicher Eltern geboren. Margo Jefferson führt hier eine | |
| Unterscheidung ein zwischen den Begriffen privilege und entitlement, die in | |
| etwa dem Unterschied zwischen Privilegien und einer Anspruchshaltung | |
| entspricht, die aus der Geschichte abgeleitet wird. | |
| Privilegien, so schreibt Jefferson, sind vorläufig. Sie können verweigert, | |
| vorenthalten, zähneknirschend angeboten und entzogen werden. | |
| Anspruchshaltungen hingegen fußen auf einer Tradition, die von Rassismus | |
| durchzogen ist und deshalb umso schwerer zu erschüttern ist. | |
| Dabei sucht Jefferson immer wieder Anschlüsse zur – oft weißen – Literatu… | |
| In beiden Bänden ihres autobiografischen Schreibens gibt es viele andere | |
| Stimmen, Texte und Ideen, und Jefferson findet neue Verbindungen – und | |
| Trennungen zu Schriftstellern und Denkern, die sie ihr Leben lang gelesen | |
| und über die sie nachgedacht hat. | |
| ## Die überragende Bedeutung Ella Fitzgeralds | |
| Wir erfahren von dem Schock, „Gone with the Wind“ im Kino gesehen zu haben | |
| und sich repräsentiert zu sehen von Hattie McDaniel, aber wir lernen auch, | |
| wie schwierig die Lektüre von Autoren wie James Baldwin ist, dessen Essays | |
| sich an zwei unterschiedliche Leserschaften richten – eine weiße und eine | |
| Schwarze. | |
| Wie Schwarze Künstler*innen in der weiß dominierten Kultur dargestellt | |
| werden, beschäftigt die Kritikerin Jefferson durchgehend. Von Schwarzen | |
| Komponisten, die von Willa Cather ausgelassen werden, bis hin zu Ella | |
| Fitzgerald, die für Jefferson eine überragende Bedeutung hat, deren | |
| Körperumfang und Neigung zum Schwitzen aber öfter [3][im Zentrum der | |
| Berichterstattung gestanden habe als ihre musikalische Genialität.] | |
| Jefferson weist präzise nach, dass es sich oft um gezielte Auslassungen, | |
| Übertreibungen, Umschreibungen handelt. | |
| Margo Jeffersons Memoiren sind vielstimmig: Sie paraphrasiert, zitiert, | |
| schreibt um. Sie positioniert sich zwischen großen und klassischen | |
| Autor*innen, wie sie zuletzt in einem Aufsatz schreibt, weil ihr Schreiben | |
| ohne sie undenkbar ist, und nicht nur trotz der Auslassungen und Probleme | |
| in ihren Werken, sondern zum Teil auch wegen dieses Hintergrunds. | |
| Bei Jefferson lernen wir, wie fragil Identität ist, wie präsent Rassismus | |
| in der literarischen Tradition, und wie Lesen und Schreiben für viele | |
| Menschen eine Selbstbehauptung mit und gegen einen großen Kanon | |
| literarischer Stimmen ist. | |
| 15 Feb 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Marcel Inhoff | |
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