| # taz.de -- Film über folgenreichen Lynchmord: Wille zur Würdigung | |
| > US-amerikanische Bürgerrechtsbewegung: Chinonye Chukwu erzählt die | |
| > Ermordung Emmett Tills in „Till – Kampf um die Wahrheit“ nach. | |
| Bild: Mamie Till Mobley (Danielle Deadwyler) und Emmett Till (Jalyn Hall) | |
| Seine Geschichte ist hierzulande nur den Wenigsten bekannt. Dabei haben | |
| weltberühmte Künstler wie James Baldwin, Toni Morrison und [1][Bob Dylan] | |
| sein schockierendes Schicksal in zahlreichen Romanen, Theaterstücken und | |
| Songs verarbeitet. Auch das unbeirrte Engagement seiner Mutter ist, | |
| zumindest in Deutschland, den meisten nicht geläufig. Dabei wird ihrer | |
| Courage eine zentrale Bedeutung für die Bürgerrechtsbewegung in den USA | |
| beigemessen. | |
| Das größte Verdienst von Regisseurin und Co-Autorin Chinonye Chukwu könnte | |
| darin bestehen, das zu verändern. Darin, die Namen Emmett und Mamie Till | |
| noch mehr Menschen bekannt zu machen, sie vielleicht sogar einen Platz im | |
| kollektiven Gedächtnis finden zu lassen. „Till – Kampf um die Wahrheit“ … | |
| schon allein deswegen ein sehenswerter, ein wichtiger Film. | |
| Umso mehr, als dass die nigerianisch-amerikanische Filmemacherin Chukwu im | |
| Erzählen über den brutalen Lynchmord, der im August 1955 an Emmett Till | |
| begangen wurde, zumindest zu Beginn eine besondere Sensibilität erkennen | |
| lässt. Bevor es zur Tat kommt, nimmt sich das Drama den Raum, um sowohl den | |
| 14-jährigen Jungen als auch seine Mutter ausführlich zu charakterisieren, | |
| in ihre Lebenssituation in Chicago einzuführen. | |
| In der Auftaktsequenz fahren sie gemeinsam mit dem Auto in die Stadt, um | |
| noch ein paar Dinge für seinen Besuch bei Verwandten in Mississippi zu | |
| besorgen. Im Auto hören sie Musik und scherzen zusammen, die beiden umgibt | |
| eine Wolke aus Zärtlichkeit. Zumindest Mamies Unbeschwertheit ist dahin, | |
| als ein Kaufhausmitarbeiter ausschließlich sie – als einzige schwarze | |
| Kundin – ungefragt auf das Sortiment im Keller hinweist. | |
| ## Ständige Diskriminierung | |
| Chinonye Chukwu nutzt die ersten Szenen ihres zweiten Langfilms nach | |
| „Clemency“, um zu unterstreichen, dass das Leben auch im Norden der USA | |
| ständig von rassistischer Diskriminierung geprägt ist und selbst in | |
| unscheinbaren Situationen potenziell Bedrohliches lauert. „Till – Kampf um | |
| Gerechtigkeit“ behält diese Daueranspannung bei, lässt sein Publikum zu | |
| keinem Zeitpunkt in Zuversicht verfallen oder Hoffnung fassen. | |
| Dass die Situation im Süden des Landes dennoch eine unvergleichbar andere | |
| ist, dass dort für Schwarze andere Regeln gelten, versucht Mamie ihrem Sohn | |
| mit Nachdruck klarzumachen. „Wenn du dort bist, mach dich klein“, | |
| appelliert sie an ihn. Den Kopf einziehen, die Füße stillhalten – das ist | |
| eigentlich ein grausamer Ratschlag, insbesondere wenn er von einer Mutter | |
| kommt. Er wird zu einem der herzzerreißenden Sorte, wenn er sich als | |
| gerechtfertigt, gar als überlebensnotwendig herausstellt. | |
| In Money, der kleinen Ortschaft, in der Emmett auf den Vorschlag seiner | |
| Großmutter Alma (eine nicht wiederzuerkennende Whoopi Goldberg) Verwandte | |
| besuchen will, herrschen bis zum Civil Rights Act (1964) wie überall in den | |
| Südstaaten die Jim-Crow-Gesetze und damit Rassentrennung. | |
| Welche skurrilen Ausmaße diese Zweiteilung der USA mitunter annimmt, hebt | |
| Chinonye Chukwu mit einem besonders wirkungsvollen Moment hervor. Als der | |
| Zug, mit dem Emmett anreist, die Mason-Dixon-Linie passiert, tippt ihm ein | |
| Schaffner auf die Schulter. Wie die anderen schwarzen Passagiere steht | |
| Emmett daraufhin auf, um in ein hinteres Abteil zu wechseln. | |
| ## Die Folter bebildert Chukwu bewusst nicht | |
| Seine Euphorie trübt das allerdings nicht. Die omnipräsente Gefahr scheint | |
| zu Emmett in seiner jugendlich-überschwänglichen Art, so die Auslegung des | |
| Films, nicht durchzudringen. In einem Lebensmittelladen kommt es so zur | |
| folgenreichen Begegnung mit der weißen Verkäuferin Carolyn Bryant (Haley | |
| Bennett). In seiner Arglosigkeit versucht er, ein Gespräch mit ihr zu | |
| führen, schäkert ein bisschen. Ihre wortlose Entgeisterung beantwortet er | |
| mit einem Pfiff. | |
| Wenig später werden bewaffnete Männer des Nachts gegen die Tür von Emmetts | |
| Onkel hämmern, sich gewaltsam Zutritt verschaffen und den Jungen aus seinem | |
| Bett zerren. Die Folter, die ihm angetan wird, bebildert Chinonye Chukwu | |
| ganz bewusst nicht. Ebenso wenig wie den darauffolgenden Mord. Was „Till – | |
| Kampf um die Wahrheit“ dem Publikum stattdessen zeigt, ist das, was Mamie | |
| Till die Welt schon damals sehenlassen wollte: den geschundenen Körper | |
| ihres Sohnes, der zuvor von seinen Mördern in den Tallahatchie River | |
| geworfen wurde und nun nahezu nicht mehr zu erkennen ist. | |
| Aufgebläht und mit violett-bläulicher Haut liegt er auf dem | |
| Präparationstisch des Bestattungsinstituts, während die Kamera dem Blick | |
| der Mutter von den verquollenen Füßen bis zum vollständig deformierten | |
| Gesicht folgt. Zähne fehlen, eine Kugel hat seinen Schädel durchbohrt. | |
| Die Leiche in diesem schreckenerregenden Zustand von der Presse | |
| fotografieren und ihn anschließend in einem offenen Sarg aufbahren zu | |
| lassen, soll der Öffentlichkeit die drastischen Folgen des Rassenhasses vor | |
| Augen führen. Tatsächlich sind die so entstandenen Bilder bald auf | |
| Titelseiten zu sehen, Zehntausende erscheinen zur Trauerfeier. | |
| ## Menschliche Schwäche wird ausgeblendet | |
| Diese durchdachte Balance aus Feingefühl und Kühnheit, die Chinonye Chukwus | |
| Inszenierung bis hierhin, besonders rund um die Gewalt an Emmett erkennen | |
| lässt, gerät ab dem Zeitpunkt, zu dem sich der Film einzig der Perspektive | |
| der Mutter zuwendet, bedauerlicherweise zusehends aus dem Gleichgewicht. Im | |
| spürbaren Willen, ein möglichst Oscar-taugliches Biopic zu sein, | |
| präsentiert „Till – Kampf um die Wahrheit“ seine Protagonistin | |
| ausschließlich als Heldin und verliert so bald jede Nähe zu ihr. | |
| Ganz so, als würden Mamie Tills Verdienste geschmälert, würde man | |
| menschliche Schwächen an ihr erkennen, drängen konventionell inszenierte | |
| Szenen mit tapfer gehaltenen Reden und mutigen Ansprachen die persönliche | |
| Tragödie in den Hintergrund. Der überbordende Score des Komponisten Abel | |
| Korzeniowski [2][(„Nocturnal Animals“)], der hauptsächlich aus dramatischer | |
| Streichermusik besteht, fordert in seinem Bombast Emotionalität eher ein, | |
| anstatt sie zu erzeugen. | |
| Selbst der Prozess, für den Mamie nach Mississippi reist, wird in „Till – | |
| Kampf um die Wahrheit“ zu einem eher formelhaften Gerichtsdrama, | |
| altbekannte Bilder treffen auf hölzerne, forciert wirkende Dialoge. Dabei | |
| ist die Verhandlung eine außerordentliche Farce: | |
| Ein Sheriff behauptet, dass es sich bei der Leiche vermutlich gar nicht um | |
| Emmett handele und der Prozess nur ein öffentlichkeitswirksamer Coup sei; | |
| man versucht, die Glaubwürdigkeit der Mutter durch den Vorwurf eines | |
| vermeintlich unsteten Lebenswandels anzuzweifeln – und eine nur mit Weißen | |
| besetzte Jury verhindert, dass es zu einer Verurteilung kommt. | |
| ## Ermordung befeuerte die Bürgerrechtsbewegung | |
| So sind es vor allem das Wissen darum, das die Geschehnisse auf wahren | |
| Ereignissen beruhen, und das mitreißende Spiel Danielle Deadwylers, das der | |
| poliert wirkenden zweiten Hälfte des Films noch eine gewisse Vehemenz und | |
| Dringlichkeit verleihen. | |
| Es wirkt, als wäre das Bewusstsein von der Bedeutsamkeit des Erzählten der | |
| Filmemacherin letztlich zum kreativen Hemmnis geworden. Leider deutet das | |
| Drehbuch, das neben Chinonye Chukwu von Keith Beauchamp und Michael Reilly | |
| verfasst wurde, ebenjene Bedeutung nur an. | |
| Erst durch finale Texttafeln wird vermittelt, welche Wirkung von Emmett | |
| Tills Ermordung und Mamie Tills Engagement auf die Bürgerrechtsbewegung | |
| ausging und wie lange es dauerte – 67 Jahre –, bis die USA im Jahr 2022 | |
| Lynchjustiz mit dem „Emmett Till Antilynching Act“ endgültig zu einem | |
| Straftatbestand erklärten. | |
| Damit ist „Till – Kampf um die Wahrheit“ ein Film, der sich vor allem dur… | |
| die erzählte Geschichte und ihr bis heute relevantes, anklagendes Potenzial | |
| gegenüber Hass und systemischem Rassismus auszeichnet. Weniger dadurch, wie | |
| er diese Geschichte erzählt. Die schablonenhafte Würdigung wird dem | |
| individuellen Vermächtnis von Mamie Till nur bedingt gerecht. | |
| 25 Jan 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Arabella Wintermayr | |
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