# taz.de -- Roman „Corregidora“: Diese Stimme singt den Blues | |
> „Corregidora“ von Gayl Jones erschien im Original bereits 1975. Nun liegt | |
> der Roman über die schwarze Bluessängerin auf Deutsch vor. | |
Bild: Gayl Jones als junge Studentin im Fachbereich Koiné (Altgriechisch) an d… | |
Eines der wichtigsten Mittel, um Romanfiguren glaubwürdig erscheinen zu | |
lassen, ist in der modernen Literatur der innere Monolog. Die Schilderung | |
des inneren Erlebens einer Figur lässt sie plastisch werden und erlaubt | |
einer Autorin, ihre Menschenkenntnis virtuos darzustellen. | |
Viel schwieriger verhält es sich mit der wörtlichen Rede. Es ist nicht nur | |
so, dass es schnell gestelzt wirkt, wenn Figuren allzu eloquent ihr Inneres | |
nach außen kehren. Enorm schwierig ist es auch, die Stimme eines Menschen, | |
seine Eigenheiten in Formulierungen und Timbre wiederzugeben. Die | |
Nachahmung von Dialekt misslingt oft oder wirkt herabwürdigend. Probleme | |
allenthalben. | |
Nach der [1][Lektüre des Romans „Corregidora“ von Gayl Jones], der bereits | |
1975 in den USA erschien und nun erstmals in der deutschen Übersetzung von | |
Pieke Biermann vorliegt, besteht Anlass, diese Fragen neu aufzurollen. | |
Sie sind keineswegs abstrakt, denn in der Geschichte der Bluessängerin Ursa | |
Corregidora, die sich in den 1940er Jahren in Kentucky mit Gigs in | |
örtlichen Lokalen durchschlägt, verbindet sich auf sensationelle Weise ein | |
politisches Anliegen, das seit der Erstveröffentlichung eher an Brisanz | |
gewonnen hat. | |
## Schwarze Kultur | |
Schwarze Kultur über das Medium der Stimme zu repräsentieren, mag für die | |
Musik naheliegend sein, für die Literatur ist es das viel weniger. | |
„Corregidora“ geht nun dennoch direkt ins Ohr. In fünf Teilen erzählt Ursa | |
Corregidora von ihrem Leben. Mit Anfang 20 ist sie die Frau des | |
gewalttätigen Mutt, der sie aus Eifersucht nach einem Auftritt in der Bar | |
Happy’s so attackiert, dass sie die Treppe zum Hintereingang herunterfällt. | |
In der Folge verliert sie im Krankenhaus ihre Gebärmutter und ihre | |
Schwangerschaft. | |
Unterschlupf findet sie nach ihrer Entlassung erst beim Inhaber von | |
Happy’s, später bei einer Nachbarin, von deren Pflegetochter sie sexuell | |
belästigt wird. Ursa versucht, ihre Genesung zu beschleunigen, um wieder | |
singen zu können, denn „ich singe, weil ich einfach muss“, lässt sie dire… | |
in den ersten Sätzen des Romans wissen. | |
Um wieder auf die Beine zu kommen, gibt sie dem Fürsorgeversprechen von | |
Tadpole, Wirt von Happy’s, nach, heiratet ihn und versucht in der Ehe vor | |
allem, seinen sexuellen Bedürfnissen gerecht zu werden, trotz aller | |
Schmerzen, die sie nach ihrer Operation noch immer verspürt. Es geht nicht | |
gut. | |
Sie findet Tadpole schließlich mit einer noch jüngeren Sängerin im Bett und | |
geht ihren eigenen Weg, der sie letztlich fast zwanzig Jahre später zu Mutt | |
zurückführt. Daran wird nichts beschönigt, die Gewalt von damals setzt sich | |
fort, die Anziehungskraft zwischen den beiden ist geblieben, ihre | |
Intimität, die nur wenig Worte braucht, ebenfalls. | |
## Das Leben der Vorfahrinnen | |
Ursas Erlebnisse werden von Jones mit denen ihrer Vorfahrinnen | |
parallelisiert. Der gesamte Roman ist mit den Erzählungen über ihr Leben | |
durchsetzt, an die sie sich in Gesprächen oder allein mit sich erinnert. | |
Dabei handelt es sich eben nicht um innere Monologe, in denen sie mit sich | |
selbst über ihre Geschichte ins Reine zu Kommen versucht, sondern eher um | |
Anrufungen ihrer Vorfahrinnen. Was macht unsere Geschichte aus, deren | |
Verlauf wir so wenig selbst bestimmen konnten?, lautet die Frage, die durch | |
den Roman mäandert. | |
Die Suche beginnt bei dem Nachnamen, den Ursa und ihre Vorfahrinnen bis zur | |
„Ur-Ooma“ tragen: Er stammt von demjenigen portugiesischen Sklavenhalter, | |
dessen Herrschaft ein Trauma in die Generationenfolge eingebrannt hat: „Der | |
alte Corregidora, portugiesischer Sklavenzüchter und Hurenschieber. (Nennt | |
man die so?) Hat seine eigenen Huren gefickt und seine Zucht aufgemacht. | |
Sie haben das Ficken erledigt und ihm das Geld abliefern müssen. Meine | |
Großmamma war eine Tochter von ihm, aber die hat er auch gefickt. Sie hat | |
gesagt, als da unten Schluss mit der Sklaverei war, haben die alle Papiere | |
über die Sklaverei verbrannt, damits so aussieht, als hätte es die nie | |
geben.“ | |
## Papiere über die Sklaverei verbrannt | |
Mit „da unten“ ist Brasilien gemeint, und diese Dokumentenvernichtung ist | |
ein historisches Faktum, das Jones, die sich 1973 in Creative Writing an | |
der Bown University promovierte, hier verarbeitet. Ihr Roman ist nicht nur | |
selbst Widerstand gegen die Vernichtung dieser Geschichte, sondern | |
entwickelt eine eigene Ästhetik für die Mündlichkeitstradition der | |
afroamerikanischen Kultur, wie man sie auch bei Autorinnen wie Toni | |
Morrisson oder Alice Walker findet. | |
Das ist nicht allein Ergebnis eines subjektiven Ausdruckswillens, sondern | |
eine spezifisch Schwarze Erweiterung des methodischen Repertoires von | |
Literatur überhaupt. Eine Eins-zu-eins-Transkription gesprochener Sprache | |
eignet sich für soziologische Untersuchungen, nicht aber für die Literatur. | |
Jones hat in ihrem Roman das Kunststück vollbracht, eine naturalistische | |
Sprache ihrer Figuren zu entwerfen, die deshalb überzeugend ist, weil sie | |
vollkommen künstlich ist – und Pieke Biermann hat das nicht unbedingt | |
kleinere Kunststück vollbracht, dieses Idiom im Deutschen nachzubilden. | |
In ihrem sehr lesenswerten Nachwort zum Roman erläutert Biermann, wie sie | |
dabei vorging, „die repetitions, die call-and-response-Elemente, die blues | |
breaks“, die Jones zur Rhythmisierung ihres Textes verwendet, ins Deutsche | |
zu bringen. | |
## Schwarze Umgangssprache | |
Man müsse dazu das Deutsche quasi renovieren, schreibt Biermann, was sie | |
dadurch gelöst habe, dass sie das black vernacular, also die Schwarze | |
Umgangssprache, in ein Deutsch gebracht habe, das die Lesegewohnheiten | |
dadurch herausfordert, dass beispielsweise die Namen von Ursas Vorfahrinnen | |
so geschrieben werden, wie man sie spricht – also eben „Ur-Ooma“ oder | |
„Mamma“. | |
Das Ergebnis ist dabei ein Text, der in seinen klar getroffenen und gut | |
begründeten Entscheidungen ästhetisch zwar schlüssig ist, aber es bleibt: | |
ein Text deutscher Sprache. Ein Dilemma, das nicht aufzulösen ist. Das, was | |
Jones im Englischen gelingt, nämlich einen Text den Blues singen zu lassen, | |
muss im Deutschen verloren gehen. | |
Beim Lesen stellt sich nicht selten der Wunsch ein, das Ganze als Film mit | |
Untertiteln schauen zu können, das Deutsch verbannt in die Schrift, das | |
Englisch parallel dazu präsent in der Tonspur. | |
Nicht auszudenken allerdings, was passiert wäre, wenn eine weniger | |
versierte Übersetzung des Textes vorläge, eine, die sich vor den vielen | |
Brutalitäten gedrückt hätte und die Geschichte des Schwarzen | |
Befreiungskampfes über vier Generationen mit falscher Dezenz angegangen | |
wäre. | |
Eine der vielen Stärken von Jones’ Roman sind die Sexszenen, in denen das, | |
was zwischen Ursa und ihren Partnern passiert, nicht dadurch gelingt, dass | |
mitgeteilt wird, wer wen wo und wie anfasst, sondern maßgeblich durch den | |
Dialog, der dabei geführt wird. „Ist das gut?“ – „Ja“ – „Ist das… | |
Baby?“ – „Ja, ja.“ – „Es soll sich geil anfühlen, Baby. Ich will n… | |
es geil für dich ist.“ Das ist nicht besonders ausdifferenziert. Sex ist | |
das aber wohl auch oft nicht. | |
## Identität zusammenpuzzeln | |
Dabei ist mit dieser Sparsamkeit nur ein Register unter den vielen genannt, | |
die Jones in ihrem Roman zieht. Neben dem Versagen der Sprache in der | |
Intimität gibt es deren Überborden in der Erinnerung, beispielsweise, wenn | |
Ursa es im vierten Teil des Romans endlich gelingt, ihre Mutter zum | |
Sprechen zu bringen und ihr die Teile der Familiengeschichte zu entlocken, | |
die ihr bislang noch fehlen, um ihre Identität zumindest halbwegs | |
vollständig zusammenzupuzzeln. | |
Die Geschichte darüber, wie sich schon die Großmutter versuchte, mittels | |
ihrer Sexualität und deren Kraft zumindest zentimeterweise aus der Kralle | |
des Sklavenhalters Corregidora zu befreien, ist flankiert von den | |
Geschichten all jener Sklaven, denen das nicht gelang. Es ist flankiert von | |
dem Versprechen, das sich alle Frauen in der Familie gaben, ihre Geschichte | |
weiterzuerzählen, „Generationen zu machen“, die im gesprochenen Wort | |
erhalten, was ihnen angetan worden ist. | |
Ursa Corregidora wird dieses Versprechen nach ihrer Hysterektomie nicht | |
erfüllen können. Die enttäuschte Hoffnung auf ihre Reproduktionsfähigkeit | |
ist dabei jedoch vielleicht der stärkste Widerstand gegen die | |
entmenschlichenden Erwartung an das Gebären Schwarzer Frauen, das sich auch | |
in den Lebensgeschichten ihrer Freundinnen spiegelt. | |
Die Frage, wie sie nun die Erfahrungen weitergeben wird, die ihre Familie | |
gemacht hat, beantwortet sie, indem sie singt. Ihre Geschichte liegt in | |
ihrer Stimme. Jones hat sie in ihrem Roman für uns hörbar gemacht. | |
23 Oct 2022 | |
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## AUTOREN | |
Hanna Engelmeier | |
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