| # taz.de -- Friedenspreis für Osteuropa-Historiker: Die Zeichen der Zeiten les… | |
| > Jahrzehntelang erforschte er die russische Gedankenwelt: Der Historiker | |
| > Karl Schlögel erhält zu Recht den Friedenspreis des Deutschen | |
| > Buchhandels. | |
| Bild: Für viele wurden die Versprechen der Globalisierung wohl nicht eingelös… | |
| Dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2025 wird Karl Schlögel nicht | |
| ganz ohne Bangen entgegengeschaut haben. Denn er ist noch etwas anderes als | |
| die vielen Auszeichnungen, die der 77-Jährige für sein wissenschaftliches | |
| und literarisches Lebenswerk bereits bekommen hat. Der „Friedenspreis“ gilt | |
| seit 1950 als Indikator und Katalysator der politischen und geistigen | |
| Entwicklung der Bundesrepublik, seit 1990 des wiedervereinigten | |
| Deutschlands. Es ist ein Preis mit internationaler Reichweite und | |
| Bedeutung. Jedenfalls liegt eine Verantwortung (ein Hauch von | |
| „Staatsraison“) darauf, der Preisgeber wie Preisträger gerecht werden | |
| müssen. | |
| Die Jury des Friedenspreises ist in den letzten Jahren ziemlich mutig | |
| vorangegangen. 2022, als der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine | |
| begann, [1][wählte sie 2022 Serhij Zhadan], den Dichter-Sänger-Kämpfer aus | |
| Charkiw, der jetzt die Uniform seines Landes trägt. Eine entschiedene | |
| Parteinahme, wie man sie der Bundesrepublik fast schon nicht mehr zugetraut | |
| hatte. Dass diese Wahl von einigen in Zweifel gezogen wurde – ein | |
| Friedenspreisträger, der zum bewaffneten Widerstand aufruft! –, war dabei | |
| „eingepreist“. Ähnlich wie im Fall d[2][er amerikanisch-polnischen | |
| Historikerin Anne Appelbaum], die 2024 geehrt wurde. | |
| Nun also Schlögel. Bei aller erwartbaren Kritik – was ist mit Gaza, Sudan, | |
| Klimawandel oder Migration? – ist diese Entscheidung für Karl Schlögel ein | |
| Zeichen zur richtigen Zeit. Putins Versuch, die Ukraine militärisch zu | |
| annektieren und die mühsam etablierte europäische Staatenordnung komplett | |
| einzureißen, ist noch immer der entscheidende Konflikt der Gegenwart. Er | |
| hat das Potenzial, einen Weltkrieg auszulösen. Ein Unterwerfungsfrieden, | |
| den Putin der demokratischen Ukraine (unter Assistenz der USA und Europas) | |
| diktierte, wäre ein Präzedenzfall für den weiteren Einsatz von | |
| kriegerischen Mitteln auf allen Gebieten. | |
| Im Übrigen ist Schlögel nicht einfach jemand, der „Position bezieht“. Der | |
| Friedenspreis des Buchhandels gilt, wie die Begründung klarstellt, einer | |
| Lebensleistung, die neue Dimensionen und Blickachsen eröffnet hat. Das | |
| betrifft auch die Bereitschaft des [3][Osteuropa- und Russlandhistorikers] | |
| zur schmerzlichen Selbstrevision, die er nach der Annexion von Krim und | |
| Beginn [4][des Kriegs im Donbass 2014 bekundete]. Mit unerschöpflicher | |
| Energie. Und zwar durch Hinfahren, Anschauen, Witterung Aufnehmen (zum | |
| Beispiel im umkämpften Donezk), um so frisch gewonnene Eindrücke mit | |
| früheren Beobachtungen zu vergleichen, die Schlögel in Reportagen, | |
| archäologischen Städtebildern und Geschichtspanoramen entfaltet hatte. | |
| ## Unsere blinden Flecken mit Wissen füllen | |
| Durch seine bereits 2015 erschienene Essay- und Reportagensammlung | |
| „Entscheidung in Kiew“, die viele erst im Jahr der russischen Invasion 2022 | |
| als „Buch der Stunde“ entdeckten, hat er entscheidend daran mitgewirkt, den | |
| blinden Fleck, den die Ukraine in unserer „mental map“ bis dahin bildete, | |
| mit Wissen zu füllen. Er hat uns diese sich formende und findende östliche | |
| Nation als vielgestaltiges „Europa im Kleinen“ nähergebracht. Und er | |
| erinnerte daran, wie sehr die Wahrnehmung der Ukraine als gestalt- und | |
| herrenloser „Lebensraum“, als Rohstoff- und Arbeitskraftreservoir den | |
| düstersten Erbschaften großdeutsch-imperialer Weltmachtansprüche entsprang. | |
| Durch die brennende Ukraine, vorbei an den Massengräbern ihrer jüdischen | |
| Bewohner und den verrottenden Leichen getöteter Rotarmisten und Zivilisten, | |
| sind viele unserer (Ur-)Großväter, Onkel und Väter im Zuge des | |
| „Russlandfeldzugs“ der Wehrmacht nach Stalingrad und weiter in den Kaukasus | |
| marschiert – Schlögels Vater ebenso wie Verwandte von mir. Von vielen | |
| derer, die heute um eines angeblichen „Weltfriedens“ oder „deutscher | |
| Interessen“ willen Kyjiw lieber den großrussischen Ansprüchen Putins als | |
| „Reichsprotektorat“ überlassen würden. | |
| Diese Neujustierung des Blicks hat Schlögel aber keineswegs, wie der | |
| Staatssender Russia TV 2015 giftete, von einem anerkannten Russlandkenner | |
| in einen fanatischen Russlandverächter verwandelt. Es ist genau umgekehrt: | |
| Kaum jemand dürfte sich über vier Jahrzehnte hinweg mit solch | |
| lebensgeschichtlicher Energie und Leidenschaft in die russische und die | |
| sowjetische Welt vertieft und ihren zwischen „Traum und Terror“ | |
| oszillierenden Faszinationen überlassen haben wie er. | |
| Schlögel hat die im großstaatlich-imperialen Zwangsrahmen ausgebildeten | |
| Lebenswelten unermüdlich per Bahn, Bus, als Anhalter und zu Fuß erkundet, | |
| staunend betrachtet und eingehend beschrieben. Mit unerschöpflicher | |
| Wissbegierde hat er sich in Archivalien und Zeitungen, philosophische und | |
| literarische Texte, Kunstwerke und Alltagsgegenstände, architektonische | |
| Entwürfe und Hinterhofrealitäten, in Bilder und Musik, individuelle | |
| Schicksale oder administrative Strukturen vertieft und all dies miteinander | |
| verknüpft. | |
| ## Sankt Petersburg als Laboratorium der Moderne | |
| Durch ihn haben wir 1984 „Moskau lesen“ gelernt. 1987 Sankt Petersburg als | |
| „Laboratorium der Moderne“ entdeckt. 1998 Berlin als den einstigen | |
| „Ostbahnhof Europas“ kennengelernt. Und 2007 das tragisch-pandämonische | |
| „Moskau 1937“ durchmessen und (wie Bulgakows Margarita) aus der | |
| Vogelperspektive betrachtet. | |
| Aber inmitten der Arbeiten an diesen Großpanoramen hat Schlögel immer auch | |
| die Gunst des historischen Augenblicks zu nutzen gesucht, um die Wege und | |
| Formen festzuhalten, in denen sich nach 1990 das zuvor geteilte Europa | |
| inmitten der Energieströme einer sich globalisierenden Welt neu | |
| organisierte. | |
| Er forschte den von niemandem gelenkten sozialen Kriechströmen nach, die | |
| auf einem freien Feld im litauischen Marjampole Mitte der 1990er Jahre | |
| einen gigantischen transkontinentalen Autobasar schufen. Und im „Wunder von | |
| Nishnij“ setzte er darauf, dass die Summe der kleingewerblichen Aktivitäten | |
| in den Städten an der Wolga auf deren Wiederbelebung als russischer | |
| Lebensader hinauslaufen könne, ja müsse. | |
| War dies blauäugiger Enthusiasmus – oder ein Vorschein von Entwicklungen, | |
| die historisch sehr wohl möglich gewesen sind? Erst das Einschwenken | |
| Russlands unter der Ägide Putins und seiner kleptokratischen Machtkohorte | |
| auf den fatalen Weg devisenträchtiger Energie- und Rohstoffexporte, innerer | |
| Gleichschaltungen und äußerer Expansionen hat die Pfade in eine bessere | |
| Zukunft für Russland und seine unmittelbaren Nachbarn verschüttet. | |
| ## 1991 kollabierte das Imperium | |
| Eben deshalb hat Karl Schlögel im Jahr 2017 die herkulische Anstrengung | |
| noch einmal auf sich genommen, ein Gesamtbild des unter tragischen Opfern | |
| und Verlusten geschaffenen und 1991 kollabierten Imperiums zu entwerfen, | |
| unter dem fast provokanten Titel „Das sowjetische Jahrhundert“. Diese | |
| epische „Archäologie einer untergegangenen Welt“ ist in vielem auch ein | |
| Requiem auf die katastrophal vernichteten Kulturleistungen, die – trotz | |
| oder sogar wegen aller Repressionen – in diesem Land der vielen Völker | |
| erbracht worden sind, auf die vernichteten Leben und Menschen, die das | |
| getan und getragen haben. Den Anstoß, dieses große Werk zu schreiben, hat | |
| [5][Putins krimineller Feldzug gegen die Ukraine] geliefert, der auch eine | |
| [6][Selbstzerstörung Russlands und seiner eigenen Vielgestaltigkeit] ist. | |
| So kam es auch, dass ich im Frühsommer 2015 in Dnipropetrowsk (dem heutigen | |
| Dnipro) am Rande einer Tagung über den „Holocaust in der Ukraine“ zwei | |
| Abende lang hinter Karl hergerannt bin, während er mit seinem Radarblick | |
| die ihm vertraute Stadtlandschaft noch einmal im Eilschritt einscannte und | |
| überprüfte. Er steuerte zielsicher die frühere „Insel der Jugend“ an (ei… | |
| Komsomol-Hinterlassenschaft), um an den Buden noch ein Bier zu trinken und | |
| auf die halb erleuchteten Hüttenwerke gegenüber zu schauen, über denen ein | |
| künstlicher Mond (ein Kunstwerk) hing. | |
| Dort hinüber wollte er am nächsten Tag frühmorgens mit der Straßenbahn | |
| fahren, um zu schauen, was in diesem einstigen Zentrum der sowjetischen | |
| Schwer- und Rüstungsindustrie noch in Betrieb war und wo die Stadt in die | |
| Dörfer und Felder überging. Anhand seiner verstreuten Hinweise bekam ich | |
| zumindest eine Ahnung davon, wie viele Zeitschichten und Entwicklungsströme | |
| hier zusammengeflossen sind – die er in seinem Porträt einer „Rocket City | |
| am Dnjepr und Potjomkins Stadt“ entfaltet hat. | |
| Solche Ausgänge aus selbst verschuldeter Ahnungslosigkeit hat der Träger | |
| des diesjährigen Friedenspreises uns allen eröffnet. | |
| 11 Oct 2025 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Dankesrede-Literaturpreisverleihung/!6100536 | |
| [2] /Friedenspreis-fuer-Anne-Applebaum/!6040812 | |
| [3] /Friedenspreis-an-Historiker-Schloegel/!6104006 | |
| [4] /Friedespreis-des-deutschen-Buchhandels/!6099498 | |
| [5] /Irina-Scherbakowa-ueber-Exil-und-Flucht/!6039574 | |
| [6] /Drohnen-statt-Blumen/!6108913 | |
| ## AUTOREN | |
| Gerd Koenen | |
| ## TAGS | |
| Friedenspreis des Deutschen Buchhandels | |
| Osteuropa | |
| Sowjetunion | |
| Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
| Wladimir Putin | |
| Reden wir darüber | |
| Social-Auswahl | |
| Schwerpunkt Frankfurter Buchmesse | |
| Friedenspreis des Deutschen Buchhandels | |
| Schwerpunkt Rassismus | |
| Friedenspreis des Deutschen Buchhandels | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Friedenspreis für Karl Schlögel: Aller Kriegserschöpfung zum Trotz | |
| Viel Beifall für Karl Schlögel, als ihm in der Paulskirche der | |
| Friedenspreis zuerkannt wurde. Der Historiker widmete die Auszeichnung der | |
| Ukraine. | |
| Friedenspreis an Historiker Schlögel: Dialektiker des Ostens | |
| Der Historiker Karl Schlögel erhält den Friedenspreis des deutschen | |
| Buchhandels. Für die Ukraine geht er auch auf die Straße. | |
| Historiker Karl Schlögel über Amerika: Nach Westen, nach Westen | |
| Ein monumentales Buch der Bücher: Der Historiker Karl Schlögel | |
| entschlüsselt die „American Matrix“ – zwischen Technik, Mythen und | |
| Personenregister. | |
| Friedenspreis 2022 für Serhij Zhadan: Schreiben aus der Lunge heraus | |
| Wie geht Menschlichkeit in der Poesie? Und was heißt es, menschlich zu sein | |
| im Krieg? Eine Laudatio auf Serhij Zhadan. |