# taz.de -- Buch über „Seniorendemokratie“: Alte weiße Männer | |
> Der Politikwissenschaftler Emanuel Richter möchte die partizipative | |
> Demokratie stärken. Herrschende Altersbilder seien dabei kritisch zu | |
> durchdenken. | |
Bild: „Eklatante soziale Unterschiede“: Senioren | |
Emanuel Richters Buch über die „Seniorendemokratie“ ist von einem, wie er | |
sagt, „Fluch und Segen“ des Themas geprägt: Es gibt | |
[1][demokratietheoretisch] kaum etwas so Reizvolles wie die Vorstellung | |
von einer umfassend gebildeten Gesellschaft, die oft mit zunehmendem Alter | |
korreliert – und kaum etwas Deprimierenderes, als sich politische | |
Entscheidungsträger/innen allein im fortgeschrittenen Alter vorzustellen, | |
die jenseits der Interessen jüngerer Generationen agieren. | |
Nun gibt es seit Jahren intensive Forschung über die | |
Partizipationskontexte, insbesondere auf kommunaler Ebene, die zeigen, dass | |
direktdemokratische Strukturen vor allem die Klientel der formal | |
gebildeten, gut situierten, zumeist männlichen Menschen im Pensionsalter | |
in Mitbestimmungsprozesse einbinden. Die Idee der Deliberation in | |
Deutschland ist, praktisch umgesetzt, oft die Praxis einer | |
„Seniorendemokratie“. | |
Das dem zugrunde liegende soziale Spannungsverhältnis hat auch Richter im | |
Blick, wenn er auf die „eklatanten sozialen Unterschiede“ unter den | |
Senioren (bedauerlicherweise geht es in dem Buch fast gar nicht um | |
Seniorinnen) hinweist, gar von einem „sozialen Spaltpilz unter den | |
Senioren“ spricht: „Nur die Menschen mit qualifizierten | |
Bildungsabschlüssen, mit dauerhafter Beschäftigung und mit | |
überdurchschnittlichem Einkommen erlangen die Aussicht darauf, im Alter zu | |
den ‚bessergestellten‘ Senioren zu zählen.“ | |
Zugleich droht die „Seniorendemokratie“ aber immer wieder auch ein | |
fundamentales Missverständnis des Demokratischen mit sich zu bringen: | |
nämlich den Glauben, dass es in der Demokratie darum gehen würde, die | |
eigenen egoistischen Partikularinteressen umzusetzen. | |
Dies führt auch zu dem Phänomen, das in der aktivistischen Kritik oft auf | |
die Parole der „[2][alten weißen Männer]“ zugespitzt wird: dem Typus des | |
formal gut gebildeten, durchaus finanziell abgesicherten, aber eben | |
gnadenlos egoistischen und vor allem antiaufklärerisch agierenden Mannes. | |
## Umfassende statistische Daten | |
Richter verbindet in seinem Buch empirische mit theoretischen Dimensionen, | |
man findet gleichermaßen umfassende statistische Daten zur Untermauerung | |
seiner Thesen wie weitreichende, das Themenfeld souverän über Fächergrenzen | |
hinweg überblickende theoretische Reflexionen. | |
Einzig problematisch daran ist, dass Richter sich – obgleich profilierter | |
Demokratietheoretiker – an vielen Stellen von einem Artefakt blenden lässt: | |
der Statistik. Man kann es nicht oft genug betonen, da in statistischen | |
Daten oft so etwas wie ein Zauber zu wirken scheint, der die unverstandene | |
Welt verstehbar macht: Es gibt mindestens zwei fundamentale Fehlannahmen in | |
Bezug auf Statistik. Die eine besteht darin, dass Statistiken stets | |
Kausalitäten – und nicht nur Korrelationen – belegen. | |
Die andere Fehlannahme besteht darin, Statistik eine prognostische Qualität | |
zuzusprechen – auch dies geht fehl, da Gesellschaften eben gerade nicht | |
nach der Logik toter Zahlen operieren, sondern dynamisch sind und sich | |
fortlaufend verändern. | |
Insofern also die Grundannahme einer fortschreitenden Veralterung allein | |
mathematisch-prospektive Qualität hat und damit genauso wahr wie komplett | |
falsch sein kann, ist der Blick auf die theoretischen Überlegungen von | |
Richter umso wichtiger. | |
## Demokratie statt Demenz | |
Im Kern lautet Richters Forderung: „Demokratie statt Demenz“. Es will | |
„bürgerschaftliches Engagement und eifrige politische Mitsprache“ stärken | |
und im Gegenzug „Ausgrenzung aus den sozialen Lebenszusammenhängen oder | |
Isolation mit der Folge gesundheitlicher Beeinträchtigung und | |
pflegeintensiver Abhängigkeit“ reduzieren. Davon erhofft er sich einen | |
„greifbaren demokratischen Gewinn“ und eine „Stärkung der partizipativen | |
Demokratie“, die nicht nur den Senior(inn)en, sondern der gesamten | |
Gesellschaft nutzen soll. | |
Richter hofft darauf, dass von den Senior(inn)en ein „basisdemokratischer | |
Impuls“ ausgehen könnte, bei dem sich ein an die „Überalterung gebundener | |
Demokratisierungsschub entwickeln“ könnte, der „von einer Altersgruppe | |
getragen wird, aber allen Generationen Partizipationsgewinne verschafft“. | |
Ob man die Senior(inn)en dabei allerdings zu den „Hoffnungsträgern einer | |
weitreichenden Demokratisierung der Politik“ erklären sollte, bleibt | |
fraglich. Denn: die Frage ist, ob die „demente“ Demokratie wirklich etwas | |
mit dem Alter zu tun hat – oder ob es nicht vielmehr neben sozialen vor | |
allem fundamentale politische Differenzen sind, die aus der normativen | |
Option einer Partizipationserweiterung real nicht selten den „alten weißen | |
Mann“ hervortreten lassen. | |
Unter diesem Blickwinkel wäre die statistische Frage, ob die Gesellschaft | |
„überaltert“ ist, für demokratische Partizipation unbedeutend, weil nicht | |
Demografie über weltanschauliche Fragen entscheidet, sondern allein die | |
Weltanschauung. | |
31 Jul 2020 | |
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## AUTOREN | |
Samuel Salzborn | |
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