| # taz.de -- Mitbestimmung künftiger Generationen: Demokratie wird altersschwach | |
| > Die Alten entscheiden, die Folgen tragen künftige Generationen. Wie | |
| > lassen sich Interessen von Menschen vertreten, die noch gar nicht geboren | |
| > sind? | |
| Bild: Die Kläger:innen im Fall Juliana v. United States kämpfen um ihre Zukun… | |
| Die Anzahl der Menschen, die über eine Zukunft entscheiden, die sie kaum | |
| noch betreffen wird, wächst. Denn alte Menschen stellen zwar einen | |
| überdurchschnittlich großen Teil der Bevölkerung dar, leben aber gar nicht | |
| mehr so lange. Ihre politischen Interessen sind oft andere als die von | |
| jungen Menschen. Die Entscheidungsmacht größerer Bevölkerungsgruppen ist in | |
| einer Demokratie naturgemäß größer als die von Minderheiten. Aber ist das | |
| für zukünftige [1][Generationen wirklich gerecht]? | |
| Waren 1970 noch gut 11 Prozent der Deutschen 67 Jahre oder älter, so sind | |
| es heute etwa 20 Prozent. Der demografische Wandel führt dazu, dass die | |
| Zahl der Alten im Verhältnis anschwillt. Bis 2070 dürfte die Kohorte laut | |
| Statistischem Bundesamt auf über ein Viertel anwachsen. Entsprechend | |
| stärker werden ihre politischen Interessen von den Parteien aufgegriffen | |
| und vertreten. | |
| Wie sich das auf junge Menschen auswirkt, wird insbesondere am Klimawandel | |
| deutlich. Dessen langfristige Auswirkungen zu begrenzen ist für sie | |
| geradezu überlebenswichtig. Ältere Menschen können sich solidarisch | |
| ebenfalls für [2][eine klimafreundliche Politik] einsetzen, unmittelbar | |
| betreffen tut sie das Thema aber in vielen Teilen der Welt nicht. | |
| ## Generationen der Zukunft haben Interessen und Bedürfnisse | |
| Am stärksten wird der Klimawandel voraussichtlich diejenigen treffen, die | |
| noch gar nicht geboren sind. Die Anzahl der Menschen, die unter seinen | |
| Folgen leiden werden, könnte die derjenigen, die bisher gelebt haben, um | |
| ein Vielfaches übertreffen. | |
| Die Sorge um ebenjene künftige Generationen beschäftigt in der | |
| philosophischen Debatte vor allem die Vertreter des longtermism. Sie werden | |
| von der Überzeugung geleitet, dass die Leben der kommenden Generationen | |
| moralisch ebenso relevant sind wie die der heute lebenden Menschen. | |
| Longtermism-Philosophinnen denken deshalb viel darüber nach, welche | |
| existenziellen Risiken das Überleben der Menschheit gefährden – | |
| Klimawandel, Atomkrieg oder Pandemien – und welche Ressourcen wir aufwenden | |
| sollten, um sie zu minimieren. Dabei stoßen sie auf die Schwierigkeit, | |
| verlässlich vorherzusagen, wie wahrscheinlich die einzelnen | |
| Bedrohungsszenarien überhaupt sind. | |
| ## Keine Repräsentation zukünftiger Generationen | |
| Die Menschen der Zukunft, die diesen Bedrohungen ausgesetzt sein werden, | |
| werden ebenfalls moralische Ansprüche, Interessen und Bedürfnisse haben. | |
| Aber wie lassen sie sich heute schon in politische Entscheidungen | |
| einbeziehen? | |
| Zumindest auf dem Papier werden künftige Menschen schon mitgedacht. 2015 | |
| verabschiedeten die Vereinten Nationen die 2030-Agenda für Nachhaltige | |
| Entwicklung. Darin heißt es etwa, eine nachhaltige Lebensweise sei | |
| notwendig, „damit die Erde die Bedürfnisse der heutigen und kommenden | |
| Generationen decken kann“. | |
| Doch unser politisches System ist nicht darauf ausgelegt, künftige Personen | |
| zu repräsentieren. Unter vager Berufung auf einen „Generationenvertrag“ | |
| geben Politiker zwar vor, die Mitbürgerinnen von morgen mitzudenken. Wenn | |
| es aber darum geht, für Rechte und Interessen einzutreten, braucht es heute | |
| real existierende Menschen, die sich der Sache annehmen. | |
| ## Die Schutzpflicht des Staates | |
| Junge Menschen, die oft noch kein Wahlrecht haben, gehen deshalb nicht nur | |
| for future auf die Straße, sondern streiten dafür auch vor Gericht. 2020 | |
| klagte eine Gruppe junger Menschen vor dem Bundesverfassungsgericht, weil | |
| sie das Klimaschutzgesetz der Bundesregierung aus dem Vorjahr für zu | |
| schwach hielten. Im Frühjahr 2021 gaben ihnen die Richter in Karlsruhe | |
| teilweise recht. | |
| Das Gesetz verletze die Freiheitsrechte der Klägerinnen, da es die Lasten | |
| der Emissionsminderungen unumkehrbar auf die Zeit nach 2030 verschiebe. Für | |
| diese Zeit danach ergebe sich daher das Risiko „schwerwiegender | |
| Freiheitseinbußen“ für die jungen Menschen von heute. Die Regierung | |
| [3][musste nachbessern] und zog etwa das Ziel der Klimaneutralität um fünf | |
| Jahre auf 2045 vor. | |
| Die Karlsruher Richter sprechen in ihrer Begründung von einer Schutzpflicht | |
| des Staates „auch in Bezug auf künftige Generationen“. [4][In den USA] sind | |
| diese bereits im Gerichtssaal vertreten, wie in der Klage Juliana v. United | |
| States. 2015 warf eine Gruppe Jugendlicher der US-Regierung vor, das Recht | |
| der jungen Generation auf „Leben, Freiheit und Eigentum“ zu verletzen, | |
| indem sie die Verbrennung fossiler Brennstoffe fördere. | |
| ## Die Natur besitzt Rechte | |
| Der Klimawissenschaftler und -aktivist James Hansen, dessen Enkelin eine | |
| der Beschwerdeführerinnen war, schloss sich der Klage an als sogenannter | |
| guardian for future generations („Beschützer der künftigen Generationen“). | |
| Das amerikanische Rechtssystem zeigt sich dabei nicht nur offener für die | |
| Abbildung kommender Menschen im Gerichtssaal. Bemerkenswert – wenn nicht | |
| unumstritten – ist die Praxis, der Natur auf kommunaler Ebene gewisse | |
| Rechte zuzuschreiben. Seen oder Flüsse können somit vor Gericht klagen, | |
| gleichfalls repräsentiert durch eine Interessenvertreterin, die sich für | |
| ihre Unversehrtheit einsetzt. In Ländern wie Ecuador und Kolumbien sind | |
| solche Rechte der Natur sogar bereits in der Verfassung festgeschrieben. | |
| Im Fall der Klimaklage Juliana v. United States schien sich James Hansen | |
| als Vormund für die künftigen Generationen anzubieten. Er hatte den | |
| US-amerikanischen Kongress bereits 1988 in einer viel beachteten Rede vor | |
| dem Klimawandel gewarnt und konnte als Klimatologe mit der Autorität der | |
| Wissenschaft vor dem fossilen Status quo warnen. | |
| ## Herrschaft durch Wissen | |
| Eine ähnliche Idee entwickelt der Autor Kim Stanley Robinson in seinem | |
| Roman „Das Ministerium für die Zukunft“. Ebenjenes Ministerium wird im Jahr | |
| 2025 von den Unterzeichnerstaaten des Pariser Klimaabkommens ins Leben | |
| gerufen, „um sich für die künftigen Generationen von Weltbürgern | |
| einzusetzen“. | |
| Die Beamten in Robinsons Roman lassen sich durch ihre wissenschaftliche | |
| Expertise leiten. Sie sind, mit anderen Worten, Technokratinnen, die ihre | |
| Herrschaft durch vermeintlich neutrales wissenschaftlich und technisches | |
| Wissen legitimiert sehen. | |
| Doch aus demokratischer Sicht ist eine solche technokratische | |
| Selbstermächtigung fragwürdig. In der extremen Konsequenz könnten die | |
| Herrschenden unter Berufung auf wissenschaftliche Prognosen einfach an den | |
| heutigen demokratischen Mehrheiten vorbeiregieren. | |
| ## Teilhabemöglichkeiten für Jüngere stärken | |
| Dabei stoßen sie auf ein ähnliches Problem wie die Vertreter des | |
| longtermism: Ebenso wie sich die Risiken der Zukunft nicht perfekt | |
| vorhersagen lassen, kann man auch die Ansprüche und Wünsche kommender | |
| Menschen nicht perfekt modellieren – und damit auch schwer umsetzen. | |
| Wissenschaftliche Vertretungen für zukünftige Generationen gestalten sich | |
| unter diesen Bedingungen also als schwierig. Näher liegt stattdessen, dass | |
| die Jüngsten unserer Gesellschaft nicht nur am ehesten für ihre eigene | |
| Zukunft, sondern auch für die der Folgegenerationen eintreten können. | |
| Wie also ihrer Sorge Rechnung tragen? Womöglich, indem Gesellschaften ihnen | |
| nicht nur den Weg des Protestes oder der Klage lassen, sondern handfest | |
| ihre politischen Teilhabemöglichkeiten stärken. | |
| ## Das Wahlalter senken | |
| Diskutiert wird zum Beispiel das Familienwahlrecht, bei dem Eltern für ihre | |
| Kinder wählen gehen könnten. Die Idee ist, dass die Eltern bei der | |
| Stimmabgabe das Wohl ihres Nachwuchses mitbedenken und entsprechend wählen. | |
| Allerdings würde das eben nicht die Teilhabe der Kinder selbst stärken, | |
| sondern nur die ihrer Vormünder – und die Anschauungen von Eltern und | |
| Kindern über die Zukunft gehen oft weit auseinander. | |
| Mit Abstand am meisten Aufmerksamkeit bekommen Forderungen für eine | |
| Absenkung des Wahlalters. In manchen Staaten, wie Brasilien, gibt es das | |
| Stimmrecht ab 16 bereits. Einige Vordenkerinnen gehen aber so weit, [5][die | |
| Altersgrenze noch früher ziehen zu wollen oder sie ganz abzuschaffen]. | |
| Kinder könnten dann, sobald sie sich dazu in der Lage fühlen, bei der | |
| Stimmabgabe über ihre Zukunft entscheiden. | |
| 28 Aug 2023 | |
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| [3] /Reform-des-Klimaschutzgesetzes/!5939024 | |
| [4] /Historischer-Prozess/!5940691 | |
| [5] /Philosophin-ueber-Wahlrecht-fuer-Kinder/!5954485 | |
| ## AUTOREN | |
| Leon Holly | |
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