| # taz.de -- Demokratie und Klimastreik: Mehr Macht der Zukunft | |
| > Beim Klimastreik beteiligen sich junge Menschen am politischen Diskurs – | |
| > und machen den Job der Älteren. | |
| Bild: Junge Klimaschützerinnen im November 2019 in Berlin | |
| Kann das so weitergehen? Ich glaube, es ist verrückt – die Art und Weise, | |
| wie im Angesicht der Kinder Generationenungerechtigkeit zur Grundlage von | |
| Politik gemacht wird, halte ich für extrem gefährlich für das Überleben der | |
| Demokratie. Im Extremfall steht die Legitimation dieser Regierungsform | |
| infrage, die so augenscheinlich gegen angewandte Vernunft und ein | |
| Mindestmaß an Verantwortung handelt. | |
| Was wir brauchen, glaube ich, ist eine tiefgreifende Diskussion und eine | |
| chronopolitische Wende – die Einsicht und Umsetzung also, dass heutige | |
| Politik, massiver als je zuvor, das Leben der künftigen Generationen | |
| existenziell prägt. [1][Diese Bringschuld gegenüber der Zukunft] benötigt | |
| eine verfassungsrechtliche Gestalt und eine grundlegende Debatte. Da reicht | |
| es nicht, das Wahlalter auf 16 Jahre zu senken, wie jetzt wieder diskutiert | |
| wird – auch das schon eine anscheinend radikale Forderung in unserer | |
| sklerosen Demokratie. | |
| Das greift zu kurz und bleibt an der Oberfläche der Angst und Unsicherheit. | |
| Die Diskussion ist alt; was sich verändert hat, ist die radikale Einsicht, | |
| dass die derzeit lebenden Generationen für mehr als die Hälfte des | |
| CO2-Ausstoßes verantwortlich ist – seit Beginn der industriellen Revolution | |
| vor mehr als 350 Jahren. Die existenzielle Krassheit dieser Tatsache sollte | |
| allein schon Grund dafür sein, darüber nachzudenken, selbst ungeborenen | |
| Generationen eine Stimme zu geben in der demokratischen | |
| Entscheidungsfindung, wie es etwa einige Völker von Ureinwohnern | |
| Nordamerikas praktizieren. | |
| Der gegenwärtigen Form der liberalen Demokratie jedenfalls fehlt dieser | |
| Aspekt von Künftigkeit, diese auch spirituelle Dimension der Verbundenheit, | |
| mit Natur, mit den anderen, mit den Kommenden und Vergangenen. Sie bleibt | |
| damit in manchem arm, ärmer als notwendig, ärmer als gut. | |
| ## Das Fundament: Jede*r hat eine Stimme | |
| Eine Grundlage dieser Demokratie, die über Jahrhunderte gewachsen ist und | |
| damit auch aus einer konkreten Zeit stammt, mit anderen Vorstellungen von | |
| Vergangenheit und Zukunft, ist die Festlegung, dass jede*r Bürger*in genau | |
| eine Stimme hat; das ist das Fundament von Gerechtigkeit in der Gegenwart, | |
| historisch gewachsen. | |
| Aber was bedeutet die Verlängerung der Gegenwart in die Zukunft für das | |
| Wahlrecht? Ist es so sinnvoll, dass Achtzigjährige genauso viel zu sagen | |
| haben wie Achtjährige? Oder, konkreter, dass sie sehr viel mehr zu sagen | |
| haben, weil sie zahlreicher sind und länger leben und allzu oft eine Art | |
| von Politik unterstützen, die direkt gegen die Interessen der Jugend sind, | |
| was die Bewohnbarkeit des Planeten angeht. Wie bestimmt sich das Verhältnis | |
| von gelebter und ungelebter Zeit? Wie wird aus dieser Zeitkluft | |
| demokratische Praxis und konkrete Politik? Wie kann man Gegenwart | |
| verantwortungsvoll aus der Perspektive der Zukunft heraus denken? | |
| In der aktuellen politischen Diskussion führt das erst mal zu Blockade und | |
| Abwehr. Peter Altmaier hat sofort deutlich gemacht, wie stark | |
| grundsätzliche Gedanken über eine bessere Demokratie überlagert werden von | |
| direkten Machtinteressen – die CDU, zu der Altmaier gehört, würde massiv | |
| verlieren, wenn junge Wähler*innen zugelassen würden; seine Worte, auch | |
| seine Wut nach dem aktuellen Vorstoß der FDP, auch 16-Jährigen das | |
| Wahlrecht zu geben, offenbarte, wie angstvoll veränderungsresistent diese | |
| politische Praxis ist. | |
| ## Angst vor den Jungen | |
| Dabei man muss kein Radikaler sein, um selbst in diesem angestrebten | |
| Wahlalter von 16 Jahren noch eine willkürliche Verengung der demokratischen | |
| Grundlagen zu sehen. David Runciman etwa, Autor des Buches „How Democracy | |
| Ends“ und Politikprofessor an der Cambridge University, findet, dass auch | |
| Sechsjährige wählen sollten. Die Angst vor den Jungen präge die gesamte | |
| Geschichte der Demokratie seit dem antiken Athen; heute allerdings bekommt | |
| sie besondere Dringlichkeit: „Alte Menschen bilden derzeit eine Koalition“, | |
| so Runciman, „die in der repräsentativen Demokratie stark bevorzugt wird.“ | |
| Die Jungen dagegen, so Runciman, würden in der gegenwärtigen politischen | |
| Praxis gleich dreifach diskriminiert: Sie sind nicht in dem Maß im | |
| Parlament vertreten, wie es ihrem Anteil an der Bevölkerung entspricht; sie | |
| werden möglicher Wahlsiege beraubt (Corbyn etwa wäre britischer | |
| Premierminister, wenn auch 16- und 17-Jährige hätten wählen dürfen); und | |
| sie sollen dann auch noch die Rolle der Alten übernehmen und damit die | |
| Verantwortung gegenüber der Zukunft. | |
| Für die Demokratie bedeutet das ein strukturelles Ungleichgewicht, das sich | |
| nur schwer mit Argumenten kaschieren lässt. Die Geschichte der Demokratie | |
| selbst ist davon geprägt, dass dieses Ungleichgewicht Stück für Stück | |
| aufgehoben wird, durch die Erweiterung ihrer Basis, durch die | |
| Demokratisierung ihrer selbst. In den USA, der ältesten Demokratie: Die | |
| Sklaven, die Einwanderer, die Frauen – die demokratische Geschichte ist | |
| eine von Exklusion und Inklusion, bestimmt durch die herrschenden Mächte. | |
| Die Grenze zu den Kindern, die Grenze in der Zeit ist eine weitere | |
| Möglichkeit der demokratischen Vertiefung. | |
| ## Streik für politische Partizipation | |
| Die Klimakrise ist dabei nur der dringlichste, existenziellste Anlass für | |
| diese Diskussion – die Zerstörung der Erde als Zerstörung der Zukunft. Die | |
| Covid-19-Pandemie etwa hat gezeigt, dass eine alternde Gesellschaft in | |
| vielen Bereichen vor grundlegende Fragen im Verhältnis der Generation | |
| gestellt wird, mit sehr realen sozioökonomischen, moralischen, praktischen | |
| Konsequenzen. Die Welt funktioniert anders heute; es fehlen die | |
| strukturellen Antworten auf diese neue Welt – infrastrukturell, | |
| institutionell, verfassungsrechtlich, mental. | |
| Der Klimastreik ist damit auch ein [2][Streik für politische Partizipation | |
| und Teilhabe]. Veränderung kommt in der Demokratie immer von den Rändern. | |
| In diesem Fall sind es die Kinder und Jugendlichen, die ihr Recht | |
| einfordern. | |
| 24 Sep 2020 | |
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| Georg Diez | |
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