# taz.de -- Ausstellung im ZKM Karlsruhe: Ins Herz des Klimawandels | |
> Die Ausstellung „Critical Zones“ erzählt von einem radikal neuen | |
> Naturverständnis als Basis einer radikal neuen Politik. | |
Bild: Bruno Latour im Videocall mit Kuratorin Bettina Korintenberg | |
Das Wasser säuselt, tropft, schlägt auf. Der Strengbach liegt in den | |
Vogesen und gibt der dort angesiedelten hydrochemischen Forschungsstation | |
(OHGE) ihren Namen. 165 Kilometer weiter nordwestlich ist der Fluss im | |
Karlsruher Zentrum für Kunst und Medien (ZKM) in Form einer Hörstation | |
präsent. | |
Seine Stimme wird zum Soundtrack für ein lange vorbereitetes Unternehmen, | |
das die besten Kräfte aus Wissenschaft, Kultur und Medientechnologie | |
bündelt. So viel lasst sich schon sagen über die Ausstellung „Critical | |
Zones – Horizonte einer neuen Erdpolitik“, die coronabedingt erst aus der | |
zentralen Installation, dem „Observatorium“ und der virtuellen | |
Ausstellungsplattform, besteht. | |
Das Observatorium sei das Grundprinzip der gesamten Ausstellung, sagt | |
Bettina Korintenberg vom KuratorInnen-Team der ZKM-Ausstellung. Observare | |
heiße beobachten, aber auch für etwas Sorge tragen, etwas achten, etwas | |
wertschätzen. Es gehe also nicht darum zu kontrollieren, also | |
anthropozentrisch zu versuchen, die Natur umzuformen, sie sich untertan zu | |
machen, was im Zeitalter des Anthropozän zum Klimawandel geführt habe. | |
Vielmehr sollten Prozesse verstehbar werden, um einen neuen Umgang mit dem | |
zu entwickeln, was wir gewohnt sind, Natur zu nennen. | |
Wir sollen uns daran gewöhnen, Wald, Feld, Wiese, See, Gebirge und Meer als | |
interaktive Systeme sich bedingender Faktoren zu begreifen, die sich | |
ständig verändern. Im „Observatorium“ solle Landschaft durch die Linse von | |
Messinstrumenten dargestellt werden, sagt die Architekturhistorikerin | |
Alexandra Arènes, wir alle müssten uns als Faktoren solcher Datenflüsse | |
begreifen. | |
## Die Raum gewordene Erzählung | |
Zusammen mit dem Architekten Soheil Hajmirbaba entwickelte sie auf der | |
Basis des geologischen Profils des Freilichtlabors Strengbach eine Raum | |
gewordene Erzählung dieses Vorzeigeprojekts französischer Umweltforschung. | |
Metallleisten deuten das Erdniveau an, das sich bis ins nächste Stockwerk | |
des Lichthofs schraubt. Wasserauffangbecken und mit Folien überzogene | |
Holzgestelle stehen für die Messstationen, mit denen seit 1985 in | |
Strengbach der Lifestatus der Flüsse, die Zusammensetzung des | |
Niederschlags, der Vegetation und der Luft gemessen wird. | |
Wer die Ausstellung betritt, befindet sich quasi unter Erdniveau. Das | |
Wasser gurgelt, auf schultafelgroße Platten sind Videos von der | |
Forschungsstation gebeamt. Es sind jedoch nicht irgendwelche Aufnahmen. Sie | |
stammen von Sonia Levy, einer auf die Zusammenarbeit mit | |
NaturwissenschaftlerInnen spezialisierten Künstlerin, die 2016 bei dem von | |
Bruno Latour konzipierten experimentellen Programm für politische Künste in | |
Paris teilgenommen hat. Sie filmte die ForscherInnen bei der Kontrolle der | |
Messgeräte im Schnee, umgeben vom sich dunkel abzeichnenden Baumbestand. | |
Auch die Geochemikerin Marie-Claire Pierret, Leiterin der OHGE, ist am | |
virtuellen Eröffnungstag am vergangenen Freitag zugeschaltet. Sie betont, | |
wie wichtig es gewesen sei, viel Zeit miteinander verbracht zu haben, viel | |
miteinander gesprochen zu haben. Seit Langem bringt der Wissenschafts- und | |
Techniksoziologe und [1][Philosoph Bruno Latour] Kultur- und | |
Naturwissenschaftler ins Gespräch. | |
Erstmals trägt der Dialog auch nach außen hin sichtbar Früchte. Von der | |
Umweltpolitik sei er enttäuscht, sagt Bruno Latour, deshalb habe er dieses | |
Projekt in Karlsruhe gestartet. Uns fehle das Empfinden für die | |
Dimensionen, in denen der Klimawandel die Grundlagen des Lebens auf der | |
Erde bedrohe. Über das „Vehikel der Kunst“ wäre es vielleicht möglich aus | |
unserem Zustand der Desorientierung „zu landen“, terrestrisch zu werden, | |
sich endlich als Teil der Natur zu begreifen. | |
## Eine neue imaginäre Kartografie der Kritischen Zone | |
In den vergangenen zwei Jahren erkundete er in einem Forschungsseminar mit | |
Kunstwissenschaftlern und Medienkünstlerinnen an der Hochschule für | |
Gestaltung Karlsruhe experimentell sprachliche, aber auch körperlich | |
erfahrbare Wege für das große Umdenken. Alle während dieser Zeit | |
entstandenen Projekte fließen in die Ausstellung, den Katalog oder die | |
virtuelle Variante von „Critical Zones“ ein. | |
Mit Alexandra Arènes und dem Geophysiker Jérôme Gaillardet arbeitet er an | |
einer neuen imaginären Kartografie, die das, was die von Wissenschaftlern | |
so benannte „Kritische Zone“ ausmacht, sichtbar werden lässt. Die Kritische | |
Zone umfasst den fragilen Bereich zwischen dem Grundwasser bis zu den | |
Baumwipfeln, die menschliches Leben ermöglicht. Diese Schicht überzieht wie | |
ein dünner Biofilm den Planeten. Der menschliche Lebensraum ist keine | |
Kugel, sondern eine Haut, eine Membran aus interagierenden Organismen. | |
Für dieses Update der menschlichen Vorstellungskraft sucht Bruno Latour | |
nach Bildern und Geschichten. Die Kreativen sollen sie liefern, etwa der | |
erfolgreiche Forscher-Künstler Julian Charrière. In einem Berliner Depot | |
warten seine monumentalen lithiumhaltigen Salzsäulen „Future Fossil Spaces“ | |
aus Bolivien auf ihren Transport in die Karlsruher Ausstellung. | |
Auch optisch weniger spektakuläre Werke wie das Archiv des amerikanischen | |
[2][Ökokunstpioniers Peter Fend] aus den 1970er Jahren sollen zum Umdenken | |
motivieren. Dazu gesellt sich Caspar David Friedrichs düstere Vision | |
„Felsenriff am Meeresstrand“ aus der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe. | |
Vordergründig zeigt es eine Küstenszene, im Verständnis des Malers gibt es | |
seine Empfindung im Angesicht der Landschaft wieder. | |
## Politisches Statement und Feldversuch | |
Ohne den Geist von Strengbach und Bruno Latours verzweigtes Netzwerk würde | |
sich „Critical Zones“ nicht von anderen Ausstellungen unterscheiden, in | |
denen Künstler den Klimawandel thematisieren. So aber ist „Critical Zones“ | |
zugleich politisches Statement und Feldversuch. Latours Lehrstunde des | |
teilnehmenden Beobachtens verspricht die Krönung seines Lebenswerks werden. | |
Im Juli sollen voraussichtlich alle Kunstwerke coronabedingt verzögert im | |
ZKM angekommen, hofft Peter Weibel. Er war derweil mit seinem Team in | |
Karlsruhe nicht untätig. Über den Link zkm.de/de/critical-zones-digital | |
kann man sich jetzt schon virtuell auf die Ausstellung einstimmen. Hinter | |
getaggten Stichworten wie „Politics of Plants“, „Contamination“ oder | |
„Metamorphosis“ verbergen sich datenbasierte 3-D-Videos von atmenden | |
Bäumen, virtuell begehbare unterirdische Höhlen und die Einöde auf dem | |
Mars. | |
Bislang sind zwölf, für die digitale Plattform zum Teil sogar erweiterte | |
künstlerische Arbeiten zu sehen, weitere sollen folgen. Wer sich einloggt, | |
gilt als „Entität“ unter anderen „Entitäten“, die Spuren hinterlässt… | |
Klicks die Choreografie der interaktiven Seite verändert. Eingeblendete | |
Botschaften erinnern jeden und jede daran, dass das Leben zu 99 Prozent aus | |
Organismen besteht und dass im Erdreich von Strengbach Signale des | |
Atlantiks nachweisbar sind. | |
27 May 2020 | |
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## AUTOREN | |
Carmela Thiele | |
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