# taz.de -- Wissenschaft und Forschung: Kollektive Experimente | |
> In der Nacht auf Sonntag ist Bruno Latour gestorben. 1998 erschien dieses | |
> Essay von ihm in der taz. Über Wissenschaft und Gesellschaft: | |
Bild: Wie beschreibt man am besten den „New Deal“ zwischen Forschung und Ge… | |
Die wissenschaftliche Entwicklung in den letzten eineinhalb Jahrhunderten | |
war atemberaubend, aber auch das Verständnis dieses Fortschritts hat sich | |
dramatisch gewandelt. Die Kultur der „Wissenschaft“ geht über in eine | |
Kultur der „Forschung“. Wissenschaft bedeutet Gewissheit, Forschung | |
Unsicherheit. Wissenschaft gilt als kalt, klar und entrückt, Forschung ist | |
warm, engagiert und riskant. Wissenschaft beendet Streit, Forschung erzeugt | |
Kontroversen. Wissenschaft schafft Objektivität, indem sie sich bemüht, den | |
Fesseln von Ideologie, Leidenschaften und Gefühlen zu entkommen; Forschung | |
bedient sich all dessen, um ihre Untersuchungsgegenstände bekannt zu | |
machen. | |
Im traditionellen Modell war die Gesellschaft das Fleisch eines Pfirsichs | |
und die Wissenschaft ihr harter Kern. Die Wissenschaft sah sich umgeben von | |
einer Gesellschaft, der die Funktionsweise der wissenschaftlichen Methode | |
fremd blieb: Die Gesellschaft konnte die Ergebnisse der Wissenschaft | |
zurückweisen oder akzeptieren; sie konnte deren praktischen Konsequenzen | |
gegenüber feindlich oder freundlich eingestellt sein. Aber es gab keine | |
direkte Verbindung zwischen wissenschaftlichen Erkenntnissen und dem | |
größeren Zusammenhang einer Gesellschaft. | |
Galilei beschäftigt sich mit dem Schicksal fallender Körper in einem | |
Palast, während in einem anderen Kardinäle und Philosophen sich mit dem | |
Schicksal der menschlichen Seele befassen. Wie anders sieht die Verbindung | |
von Wissenschaft und Gesellschaft heutzutage aus! Denken Sie an jene Gruppe | |
von Patienten, die in Frankreich einen Verein gegen Muskeldystrophien (AFM) | |
gegründet haben, der rund 150 Millionen Mark durch Spenden über eine | |
Fernsehshow aufgetrieben hat. Weil die Krankheit, die die Behinderung | |
hervorruft, genetischen Ursprungs ist, hat der AFM 15 Jahre lang in die | |
Molekularbiologie investiert. Das Geld wurde dazu verwendet, eine neue | |
Methode der Chromosomkartographierung zu entwickeln. Als dies erreicht war, | |
haben sie die hierfür notwendigen Labors aufgelöst. Alle ihre Bemühungen | |
waren nun darauf gerichtet, eine Gentherapie zu entwickeln. | |
## Das Risiko der Forschung | |
Es ist jenes Gebäude in Ivry, südlich von Paris, wo der AFM seine Zentrale | |
hat, das die Grenzen jener Metapher veranschaulicht, die die Wissenschaft | |
von einer außen vor bleibenden Gesellschaft trennen möchte: im ersten Stock | |
Patienten in Rollstühlen, im nächsten Labors, im dritten Verwaltung. Wo ist | |
die Wissenschaft? Wo die Gesellschaft? Sie sind nun so weit ineinander | |
verwoben, dass sie nicht mehr zu trennen sind. Die Patienten warten nicht | |
länger darauf, dass die Ergebnisse der Wissenschaft auf sie | |
herunterrieseln. Sie haben ihr Schicksal selbst in die Hand genommen. Sie | |
haben sich eine Wissenschaftspolitik geschneidert, die dem angepasst ist, | |
was sie als ihr Bedürfnis wahrnehmen. Weit davon entfernt, Gewissheit von | |
der Wissenschaft zu erwarten, haben sie akzeptiert, dass sie auch das | |
Risiko der Forschung teilen müssen. | |
Wie beschreibt man am besten diesen „New Deal“ zwischen Forschung und | |
Gesellschaft? Die Vorstellung eines „kollektiven Experiments“ könnte | |
geeignet sein, diesen neuen Geist der Zeit zu bezeichnen. Vor 150 Jahren | |
zweifelte der Wissenschaftler nicht daran, dass die Wissenschaft, Stück für | |
Stück, die meisten Übel der Gesellschaft beseitigen würde. Der Fortschritt | |
der Wissenschaft wurde als das Zurückweichen von Armut, Aberglauben und | |
anderer menschlicher Torheiten gesehen. Dieses Verlangen nach Modernität, | |
die jugendliche Inbrunst, mit der Menschen die Sache der Wissenschaft | |
betrieben, war auf diese absolute Gewissheit zurückzuführen. Es wäre | |
nutzlos, die Distanz, die uns von unseren Vorfahren trennt, minimieren zu | |
wollen. Wie anders sehen die Dinge eineinhalb Jahrhunderte später aus! Wer | |
glaubt noch an jene reine Berufung der Wissenschaft? | |
Die Transformation der Gesellschaft durch Wissenschaft hat viele wunderbare | |
Ruinen hervorgebracht, aber keine bessere Gesellschaft. Wir sollten jedoch | |
die gähnende Lücke zwischen Erwartung und Erfüllung nicht falsch | |
interpretieren. Es gibt viele Leute, die behaupten, dass Übel statt des | |
erwarteten Segens hervorgebracht wurden und dass der Pfeil der Zeit nicht | |
länger in Richtung Fortschritt schnellt. Vielmehr ähnle er einem Teller | |
Spaghetti, denn einem geradlinigen Weg in das nächste Jahrhundert. | |
Wissenschaft soll bloßgestellt und entlarvt werden als eine der vielen | |
Illusionen, die durch dieses zersetzendste aller Jahrhunderte zerstört | |
wurden. Meine Interpretation ist eine völlig andere. Wissenschaft mag zwar | |
tot sein, aber es lebe die Forschung! Ich glaube, der Pfeil der Zeit | |
existiert, aber er unterscheidet die Vergangenheit von der Zukunft auf eine | |
neue Weise. | |
In der Vergangenheit waren die Dinge und die Menschen ineinander verwoben; | |
in der Zukunft werden sie sogar noch mehr ineinander verwoben sein als je | |
zuvor! Zum Beispiel glaubt niemand, dass die ökologischen Kontroversen sich | |
so weit verflüchtigen werden, dass wir uns nicht mehr länger um die Umwelt | |
kümmern müssen. Aktivisten, Wissenschaftler und Politiker erwarten von der | |
Wissenschaft nicht, dass sie die Komplexität ihres Lebens reduziert. Sie | |
erwarten im Gegenteil, dass die Forschung die Zahl der Gegenstände, mit | |
denen sie sich alle beschäftigen müssen, vervielfacht. An diesem Punkt | |
entfaltet die Vorstellung eines „kollektiven Experiments“ seine volle | |
Bedeutung. Europa lebt seit mehreren Jahren im Schatten des sogenannten | |
Rinderwahns. Man erwartet sich einen Fortschritt in allen | |
wissenschaftlichen Fragen, die mit Epidemiologie, tierärztlicher | |
Überwachung, dem Aufspüren von Fleisch und Handelsgesetzgebung zu tun | |
haben. | |
## Alternative zum Tauziehen zwischen Wissenschaft und Gesellschaft | |
Aber niemand glaubt, dass sich der Kern wissenschaftlicher Fakten vom | |
gesellschaftlichen Umfeld der Ideologien, Geschmäcker und Werte jemals | |
trennen lässt. Im Gegenteil: Jeder rechnet mit unerwarteten Folgen, was | |
immer auch in jenem komplexen Netz von Fleisch, Ministern, Knochen, | |
Proteinen, Viren und Rindfleischkonsumenten geschehen mag! Das ist es, was | |
sich am meisten geändert hat. Die Wissenschaft ist nicht mehr dazu da, in | |
einer chaotischen Gesellschaft Ordnung zu stiften und ihre | |
Auseinandersetzungen zu beenden. Wissenschaft wirkt in die Gesellschaft, | |
aber um neue, unsichere Zutaten zu all den anderen Ingredienzen | |
hinzuzufügen, die dieses kollektive Experiment ausmachen. | |
Rückblickend verstehen wir, dass die Definition von Gesellschaft, die | |
bisher als Folie für Wissenschaft benutzt wurde, von Anfang an irreführend | |
war. Das Adjektiv „sozial“ wurde dazu benutzt, den Anspruch der | |
Wissenschaft auf Wahrheit und Gewissheit zu schwächen. Und zu sagen, dass | |
Wissenschaft sozial konstruiert ist, wird von Wissenschaftlern für falsch | |
gehalten. Dieses Tauziehen zwischen Wissenschaft und Gesellschaft, wo einer | |
das gewinnt, was der andere verliert, ist nicht länger das einzige Spiel in | |
der Stadt. Es gibt jetzt eine Alternative. | |
Der alte Slogan der Wissenschaft – je mehr eine Disziplin von der | |
Gesellschaft entfernt ist, desto besser – hallt nun als eine realistischere | |
Aufforderung zum Handeln zurück: Je mehr eine wissenschaftliche Disziplin | |
verwoben ist, desto besser. Das könnte bedeuten, dass wir unsere | |
Epistemologie ändern, unsere politischen Institutionen anpassen und unsere | |
Definition von Sozialwissenschaften untergraben müssen. Wenn wir Galileis | |
in seiner Zelle gemurmeltes „Und sie bewegt sich doch!“ vergleichen mit | |
jenem [1][Treffen in Kyoto], wo Staatsoberhäupter, Lobbyisten und | |
Wissenschaftler in einem Palast versammelt waren, um über die Erde und | |
Umweltfragen zu diskutieren, dann können wir den Unterschied zwischen | |
Wissenschaft und Forschung ermessen. | |
Wissenschaftler haben jetzt die Wahl, das Wissenschaftsideal des 19. | |
Jahrhunderts aufrechtzuerhalten oder ein Forschungsideal auszuarbeiten, das | |
besser an dieses kollektive Experiment angepasst ist, auf das wir uns alle | |
eingelassen haben. | |
Übersetzung: Oliver Hochadel | |
Wissenschaft schafft Objektivität, indem sie sich bemüht, den Fesseln von | |
Ideologie, Leidenschaften und Gefühlen zu entkommen; Forschung bedient sich | |
all dessen, um ihre Untersuchungsgegenstände bekannt zu machen. | |
9 Oct 2022 | |
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[1] /Ergebnisse-der-Weltklimakonferenz/!5077666 | |
## AUTOREN | |
Bruno Latour | |
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