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# taz.de -- Social Media vor 28 Jahren: Bilder wie in einer Zoom-Konferenz
> „Piazza virtuale“ war ein einzigartiges Experiment in der Geschichte des
> deutschen Fernsehens. Das Projekt der documenta 9 nahm Social Media
> vorweg.
Bild: Der Künstler Hermann Josef Hack machte für Van Gogh TV Telefonkonferenz…
Im Juni 1992 tauchte im Vormittagsprogramm von 3sat eine merkwürdige
Sendung auf. Es gab keine Moderatoren, keine Ansagen, keine Erklärungen.
Eigentlich überhaupt kein Programm.
Stattdessen konnte man eine eingeblendete Telefonnummer anrufen. Und wenn
man Glück hatte und durchkam, war man plötzlich auf Sendung und konnte über
den Fernseher zur Welt sprechen. Bis zu vier Anrufer fanden sich so
gleichzeitig in einer merkwürdigen Zufallsgemeinschaft zusammen, konnten
miteinander sprechen oder eine Rede an die Menschheit halten.
Viele Anrufer waren so erschrocken, dass sie gleich wieder auflegten.
Andere brachten wenig mehr als „Hallo“ heraus. Einige versuchten, mit den
anderen Anrufern Konversation zu machen. Andere machten so lange
Furzgeräusche, bis sie aus der Leitung geworfen wurden.
Die Sendung hieß „Piazza virtuale“ und war ein einzigartiges Experiment in
der Geschichte des deutschen Fernsehens. Als Begleitprojekt der documenta 9
wurde es im Sommer 1992 hundert Tage lang in Kassel aus einem
Containerstudio neben dem Fridericianum gesendet.
Veranstaltet von der Künstlergruppe Van Gogh TV, sollte das Programm aus
weitgehend unmoderierten Beiträgen des Publikums bestehen, das durch
Anrufe, per Fax oder Computerchat den Inhalt der Sendung lieferte. Ihr Ziel
war es, Bertolt Brechts berühmte Forderung aus seiner „Radiotheorie“ in die
Tat umzusetzen: Aus Konsumenten sollten Produzenten von Medieninhalten
werden.
## Mit dem Rest der Welt in einer Telekonferenz verbunden
„Piazza virtuale“ war ein Vorläufer der sozialen Medien der Gegenwart. Und
es nahm einige Aspekte der Existenzform vorweg, die die Welt dank der
Coronakrise in den letzten Wochen kennengelernt hat: Man sitzt zu Hause vor
einem Monitor und ist mit dem Rest der Welt in einer riesigen Telekonferenz
verbunden.
Heute ist „Piazza virtuale“ weitgehend vergessen. Aber wer sich die
Sendungen, die vor fast 30 Jahren mehr als drei Monate täglich ausgestrahlt
wurden, heute ansieht, wird verblüffende Parallelen zu unserer vernetzten
Gegenwart entdecken.
Van Gogh TV war ein Zusammenschluss von Künstlern und Hackern, der aus der
Performance-Gruppe Minus Delta T hervorgegangen war. Die hatte schon bei
der documenta 1987 einen Radiopiratensender aufgebaut, der aus einem
„Medienbus“ auf dem Friedrichsplatz sendete. Die Gründer des Kollektivs,
die Künstler Mike Hentz, Karel Dudesek, Benjamin Heidersberger und
Salvatore Vanasco, arbeiteten systematisch daran, den Raum der Medien für
sein Publikum zu öffnen.
Sie versammelten um sich einen Mitarbeiterstab, der aus handelsüblicher
Technik ein komplett computergestütztes Studio baute – zu einer Zeit, als
in den deutschen Fernsehanstalten noch mit magnetischem Videoband und
Livesendungen aus physischen Studios Programm gemacht wurde. Und sie
schufen ein Netzwerk von Förderern und Sponsoren, mit deren Unterstützung
sie 1992 mit „Piazza virtuale“ ihr ambitioniertes Projekt durchführen
konnten.
## Eine Art frühes Start-Up-Unternehmen
Die Kulturbehörde der Stadt Hamburg überließ ihnen Räume, in denen sie ein
Medienlabor einrichteten. Unternehmen wie die Telekom, Apple, Commodore
oder Philips stellten Geräte und Infrastruktur zur Verfügung, Geld kam
unter anderem vom österreichischen Bundeskurator Robert Fleck. Als sie in
Kassel auf Sendung gingen, hatte Van Gogh TV mehr als zwei Dutzend
Mitarbeiter; aus dem Künstlerkollektiv war eine Art frühes
Start-Up-Unternehmen geworden.
Und das veranstaltete ein TV-Programm, das die Computerzeitschrift Wired in
ihrer ersten Ausgabe als „Pfahl im sklerotischen Herz des 50-jährigen
Blutsaugers Fernsehen“ feierte. Kurz vor dem Durchbruch des Internet füllte
die Gruppe das zu dieser Zeit kursierende Schlagwort vom „interaktiven
Fernsehen“ mit Leben.
Herzstück der Sendung war das Programm „Coffeehouse“, bei dem das Publikum
miteinander plaudern sollte wie in einem Wiener Kaffeehaus. Außerdem hatten
sie interaktive Anwendungen programmiert, mit denen das Publikum über die
Tastatur ihres Telefons gemeinsam auf dem Fernsehbildschirm malen und Musik
machen oder in einem elektronischen Beichtstuhl ihre Sünden gestehen
konnte.
## Per Telefontastatur durch taz-Meldungen klicken
Im Containerstudio hing an einer Schiene eine Roboterkamera des Hamburger
Künstlers Nicolas Anatol Baginsky, die per Telefon durch die Räume
gesteuert werden konnte, um einen Blick hinter die Kulissen zu erlauben.
Auch die taz war mit von der Partie: Sie räumte der Gruppe Zugang zu ihrem
neuen digitalen Redaktionssystem ein, und so konnten die Zuschauer sich per
Telefontastatur durch die aktuellen Meldungen der Zeitung klicken – eine
Art Websurfen avant la lettre.
In mehr als zwei Dutzend Städten in Deutschland, Europa und Japan wurden
Ministudios eingerichtet, die mit Bildtelefonen eigene Live-Programme nach
Kassel lieferten – die sogenannten „Piazzettas“, die unter anderem aus
Köln, Berlin, Hamburg, Zürich und Paris sendeten. Aus Göttingen schaltete
sich gelegentlich eine Studenten-WG ins Programm ein. Aber auch aus Moskau,
Prag und Riga kamen Programme, also aus Städten, die noch wenige Jahre
zuvor hinter dem Eisernen Vorhang weggeschlossen waren.
Per Satellit gelang es in einer Sendung sogar, die Städte Belgrad und
Ljubljana miteinander zu verbinden, zwischen denen zu dieser Zeit wegen des
jugoslawischen Bürgerkriegs kein anderer Kontakt möglich war. Der Künstler
Hermann Joseph Hack organisierte Schaltungen zu deutschen
Forschungsschiffen in den Weltmeeren. Wer heute die Mitschnitte dieser
Videostreams aus Büros und Wohnzimmern, aus Galerien und Labors sieht, bei
denen auf Bildschirmen im Bildschirm Leute frontal in die Kamera sehen und
durcheinander reden, fühlt sich an eine Zoom-Konferenz unserer Tage
erinnert.
## Kommunikatives Dauerrauschen
Die Gespräche, die bei „Piazza virtuale“ stattfanden, reflektierten die
politischen Ereignisse dieser Zeit wie die rassistischen Ausschreitungen in
Rostock-Lichtenhagen. Aber genauso oft fanden die Anrufer nur zu
nichtssagenden Gesprächen zusammen oder gaben bloß das ewige „Hallo“ von
sich, das dem Programm den Spitznamen „Hallo TV“ einbrachte. Doch gerade
diese Belanglosigkeiten nehmen auch das kommunikative Dauerrauschen der
Sozialen Medien von heute vorweg.
Bei „Piazza virtuale“ sind viele Elemente der [1][Netzkultur unserer Tage]
in nuce zu beobachten. Wer genau hinguckt, findet Vorläufer von Shitstorms
und Cybersex, von E-Commerce und Spielen mit virtuellen Identitäten, von
Smart Mobs und von einem Zeitalter, in dem anscheinend jeder Mensch sein
eigener Sender werden kann.
Überraschend schnell fand das gewöhnungsbedürftige Programm seine Fans. Was
als Kunstprojekt ohne Erwartung an die Quote gestartet war, wurde von
Hunderttausenden eingeschaltet. Bis zu 110.000 Anrufversuche bei den
vollkommen überlasteten Anschlüssen des Projekts registrierte die Deutsche
Telekom pro Stunde. Besonders begeisterte Fans von „Piazza virtuale“
pilgerten nach Kassel, um als eine frühe „virtual community“ neben dem
Containerstudio miteinander zu grillen.
## Spuren führen zu Disney, Kunstakademien und der taz
Van Gogh TV zerbrach wohl auch als Folge der Überbelastung durch das
gigantomanische Projekt. Seine Gründer sind heute wieder als freie Künstler
tätig. Die Biographien der anderen Mitarbeiter führen zu Disney und
Kunstakademien, zu den Schöpfern des BluRay-Standards und zu Galerien und
Museen, zu IT-Unternehmen und wiederum zur taz.
Die 800 Stunden Videomitschnitte, die Mappen mit Presseartikeln und die
Dutzenden von Aktenordnern mit Briefwechseln und Verträgen, die vom Projekt
blieben, sind die Zeugnisse eines medialen Atlantis, das lange im Meer der
globalen, interaktiven Kommunikation versunken ist.
20 Apr 2020
## LINKS
[1] /Theater-im-Internet-Spy-On-Me/!5670383
## AUTOREN
Tilman Baumgärtel
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