# taz.de -- Film zum deutschen Techno: Gegen den Tag | |
> In „Denk ich an Deutschland in der Nacht“ schaut Romuald Karmakar DJs wie | |
> Ricardo Villalobos und Roman Flügel über die Schulter. | |
Bild: Immer auf der Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Herzschlag | |
Bei Minute 55 geht es richtig ab: Mit diesem inspirierten Solo, diesem | |
angetörnten Hochseilakt hat man trotz allem nicht gerechnet! Wie es sich | |
für eine gute Komposition gehört, wird nach zwei Dritteln neue Energie | |
gezündet. In Romuald Karmakars „Denk ich an Deutschland in der Nacht“ | |
sorgen erst wenig bewegte, ultratriftige Einstellungen zwar für den | |
Eindruck von einer höheren piktorialen Ordnung, doch nicht nur die Musik, | |
um die es die meiste Zeit geht, arbeitet dem entgegen. Die | |
Protagonist_innen des Films, DJs/Musiker_innen, sind so gewinnend, dass es | |
in und unter der Ordnung brodelt. | |
Am Anfang wird Ricardo Villalobos noch still beim Studium alter | |
Minus-Delta-t-Werke beobachtet. Von Einstellung zu Einstellung füllen die | |
Redner_innen diese mehr und mehr aus; etwa Ata, wenn er laid back und | |
soulful seine Teppichmetapher für so ziemlich alles, was in der Welt der | |
Musik breit, unübersichtlich, organisch und vernetzt ist, ausrollt. | |
Trotzdem vergeht das Gefühl nicht, dass der Film das Verhalten der | |
Agierenden am langen Bande sympathisierenden Redenlassens dennoch genau | |
antizipiert. | |
Bis zum Solo. Da stapft David Moufang durchs Grün und hebt sehr nachhaltig, | |
wie ein sich langsam auf Touren bringender Helikopter in einem Heidelberger | |
Obstgarten, ab. Selten wurde die entspannte Dynamik cooler | |
Selbstbegeisterung so schön festgehalten: die Euphorisierung durch den | |
Gegenstand der Rede – Musik. | |
## Hörbare Hefezellteilung | |
Von den hörbar gemachten Algorithmen der Hefezellteilung über Sun Ra, die | |
Beatles und Miles Davis und immer wieder rauf in den Makrokosmos und | |
runter in den Mikrokosmos bis zu den psychedelischen Erfahrungen – alles | |
ist eins, aber das eine ist dann doch wieder so vieles. So unnarzisstisch | |
klingt ein so langer Monolog nur, wenn er sich aus sich selbst heraus, eben | |
musikalisch entfaltet. Szenenapplaus wie beim Jazz-Solo! | |
Vom Rhythmus her müsste der Cut kommen. Stattdessen hört man den Regisseur | |
erstmals aus dem Off, und er weist allen Ernstes den Improvisator auf den | |
Apfelbaum hin, neben dem er steht. Und, wow! Dann geht es noch mal los, | |
eine feine kleine Coda, in der auch das Paradies vorkommt. | |
Danach darf sich das Musikalische vom Band des filmischen Konzepts | |
losmachen. Statt all der superprofessionellen Momente all dieser schon | |
lange nicht mehr jungen DJs kommt jetzt auch die spätere Nacht zu ihrem | |
Recht und es darf ein bisschen aus dem Off gelallt werden. Es wird noch mal | |
ernst: Anschläge und Auflegen in derselben Stadt, wie geht Roman Flügel | |
damit um? | |
Fast alles stimmt. Einige Analysen sind so inspirierend, wie sie ganz | |
selbstverständlich daherkommen: etwa wenn Villalobos erklärt, dass es bei | |
der „Wertegemeinschaft“ der Nacht eben nicht darum geht, wie in früheren | |
Phasen und anderen Modellen von Kunst, dem Individuum gerecht zu werden, | |
sondern darum, einer bereits hochindividualisierten und atomisierten Crowd | |
den kleinsten gemeinsamen Nenner anzubieten – und, würde ich hinzufügen, | |
was für [1][eine wahnsinnige Kunst] die langfristige Bestimmung dieses | |
Nenners im Laufe einer Nacht darstellt! Und was für eine Dialektik: die | |
totale Genauigkeit beim großen Gemeinsamen! | |
In diesem schönen, treffenden Film wird weder die Geschichte eines Musikers | |
noch die Entstehung eines Werkes, sondern ein Stand der Dinge zu gleichen | |
Teilen vergegenwärtigt wie analysiert, in Bildern und Sätzen. Warum | |
Deutschland in der Nacht? | |
Es geht zum Glück weniger um das, auch in diesem Film einmal anklingende, | |
national- ideologische Standard-Narrativ der deutschen Elektronik, die sich | |
angeblich linear über Stockhausen-Krautrock-Kraftwerk-Afroamerika-Techno | |
zum höheren Ruhm der deutschen Technik und des deutschen DJ entwickelt hat. | |
(Believe me, Afrika Bambaataa hätte es auch ohne Kraftwerk geschafft.) Eher | |
soll die adverbielle Bestimmung „Nacht“ vom Ort des Denkens (Ich, Heine | |
etc.) zum Ort des Bedachten (Deutschland) verschoben werden. | |
Against the day: ein Dank an die Leute, die die Utopie der Nacht am Leben | |
halten. Doch zeigt der nomadisch von Festival zu Festival durch ganz Europa | |
marodierende Film auch, dass das Beste an deutschen Nächten ist, dass sie | |
sich von rumänischen oder walisischen kaum unterscheiden. | |
16 Feb 2017 | |
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## AUTOREN | |
Diedrich Diederichsen | |
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