# taz.de -- taz-Serie Verschwindende Dinge (8): Die Masse will nicht mehr | |
> Zum Tanzen geht man nicht in die Disco. Man geht in einen Club. Zeit | |
> also, sich von den Großraum-diskotheken zu verabschieden. | |
Bild: Tanzen in der Menge macht man gern. Nicht aber unbedingt in der Großraum… | |
Freitagnacht am Moritzplatz: Menschen Mitte zwanzig stehen in einer langen | |
Schlange, sie wollen in den Club Prince Charles, feiern gehen. Vor eins ist | |
man aus Prinzip nicht da, die Zeit davor haben viele mit Vortrinken | |
verbracht. Drinnen läuft Techno, Kennern sind die DJs bekannt. Auf zwei | |
Floors wird getanzt, an der Bar viel Wodka-Mate getrunken, überall | |
geraucht. Wie lange es heute geht, ist offen. Wenn viele Leute bleiben, | |
vielleicht bis neun Uhr. Ganz gewöhnlich für einen Berliner Club. | |
Diskothek sagt man dazu bewusst nicht. Schließlich besteht gefühlt ein | |
riesiger Unterschied. Denkt man bei einer Diskothek nicht an mehrstöckige | |
Gebäude, Schlager und Chartsmusik, Alkohol-Flatrates und Animation durch | |
halbnackte Tänzerinnen? Zum Abgleich kann ein YouTube-Video aus dem | |
ehemaligen Q-dorf herhalten: Über den Köpfen der tanzenden Menschen zucken | |
bunte Scheinwerferlichter in Rot, Grün, Blau. Aus den Boxen dröhnt ein | |
deutscher Nummer-eins-Hit, die Leute reißen die Arme in die Luft, grölen | |
mit. Es gibt extra Raucherbereiche, Bühnen für Stripteasetänzerinnen. Ja, | |
die „Disse“ ist ganz anders als der Club. Anspruchsloser irgendwie. | |
Gibt es wirklich noch Leute, die dort hingehen? Die Lust auf Schaumpartys | |
und Bierautomaten haben, auf Musikacts, die DJ Werner oder DJ Angel heißen, | |
auf Eventnamen wie „Boombastic“ und auf Atzenbrillen (die mit Streifen)? | |
Scheinbar kaum. „Großraumdiskotheken sterben aus“, sagt Lutz Leichsenring | |
von der Berliner Clubcommission. Zahlen des Amts für Statistik | |
Berlin-Brandenburg belegen: In den vergangenen zehn Jahren meldeten 22 | |
Tanzlokale in Berlin Insolvenz an. Wie viele genau davon | |
Großraumdiskotheken waren, ist zwar unklar. Zweifellos sind aber einige | |
bekannte Namen von der Bildfläche verschwunden: 2012 das Kontrast in | |
Hoppegarten, 2013 das Schabernack in Schöneweide, 2015 das Pulsar in | |
Hellersdorf. Auch das Halli Galli in Reinickendorf und das Treasure Garden | |
in Marzahn machten zu. Wen wundert das? Die Namen sprechen für sich. Die | |
Orte auch. | |
## Auch das Q-dorf hat dicht gemacht | |
Zuletzt hat sogar die Großraumdiskothek schlechthin, das Q-dorf in der Nähe | |
des Kurfürstendamms, die Pforten dichtgemacht. Jahrelang ist die Disco eine | |
der letzten großen Adressen in der City-West gewesen, hat mit vier | |
Tanzflächen und 18 Bars gelockt. Weil fast jeder reinkam, war das Q-dorf | |
auch bei Touristen sehr beliebt. Ob trotzdem die Einnahmen nicht stimmten | |
und die Disco deshalb 2015 schloss, darüber gibt der ehemalige Betreiber | |
keine Auskunft. Fest steht jedoch: Mit dem Q-dorf verabschiedete sich eine | |
der letzten Großraumdiskotheken aus der Innenstadt. Und Lutz Leichsenring | |
zufolge haben auch die meisten anderen Läden keine Zukunft. | |
„Diskotheken“, sagt er, „wollen die ganze Breite abdecken, anders als | |
Clubs, die bestimmte Nischen bedienen.“ In den letzten Jahren sei das | |
zunehmend schwerer geworden: „Es gibt immer weniger Läden, die es schaffen, | |
ein Massenpublikum anzusprechen.“ Das ist wenig überraschend. Denn | |
abgesehen davon, dass es „die Breite“ in Berlin einfach nicht (mehr) gibt: | |
Wer will schon Teil der Masse sein? In einer Stadt, in der maximale | |
Selbstverwirklichung und individuelle Lebensführung oft an oberster Stelle | |
steht. | |
Auch der Jugendkulturforscher Matthias Rohrer findet: „Es gibt immer mehr | |
Jugendszenen, die immer kleinteiliger sind. Junge Menschen machen sich | |
bewusst auf die Suche nach Angeboten, die in ihre Lebenskultur reinpassen.“ | |
Discos mit Massenbespaßungsprogramm sind da fehl am Platz. Stattdessen wird | |
die Ausgehkultur spezifizierter, verteilt sich mehr auf Bars, Clubs und | |
Kneipen, sagt Rohrer. | |
Das zeigt sich in der hiesigen Ausgehkultur. Es gibt kleine Clubs und große | |
Clubs, Clubs für Techno, Clubs für HipHop, Clubs für Schwule, Clubs für | |
Mottopartys, Clubs an der Spree und solche auf Hochhäusern. Gibt’s nicht | |
gibt’s nicht. Auch das Internet hat zu dieser Vielfalt beigetragen. Es | |
„erleichtert es massiv, die Angebote zu finden, die zu einem passen“, sagt | |
Rohrer. Vor diesem Hintergrund erscheinen Diskotheken wie ein Relikt aus | |
analogen Zeiten. Ein Ort, an den man ging, weil es eben nichts Besseres | |
gab. Oder eher: Weil man nichts davon wusste. | |
## Massenbespaßung ist out | |
Andererseits – warum finden wir nichts mehr an Animation, Alkohol-Flatrates | |
und knapp bekleideten Tänzerinnen? Mit Individualisierung und | |
Digitalisierung hat das doch nichts zu tun. Der Jugendkulturforscher ist | |
überzeugt: Der Trend geht hin zu einem „qualitätsvolleren Ausgehen“. | |
Jugendliche würden heute lieber für qualitätsvolle Dinge als für | |
wöchentliche Quantität bezahlen. Und Ersteres können Clubs eben eher bieten | |
als Discos. | |
Bleibt die Erkenntnis: Massenbespaßung ist out. Discos damit auch. | |
Stattdessen mag jeder individuell ausgehen. | |
Doch klar, auch Techno ist mittlerweile irgendwie Mainstream – wenn auch | |
nicht so Mainstream wie die deutschen Charts. Und ja – Berlin ist mit | |
seiner besonders heterogenen Bevölkerungsstruktur natürlich ein Extremfall. | |
Vielleicht sterben in Restdeutschland die Discos nicht aus. Da zeigt es | |
sich wieder einmal: Berlin ist immer noch eine Insel. | |
7 Jan 2017 | |
## AUTOREN | |
Leonie Schlick | |
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