# taz.de -- Drogencheck in Zürich: Die Vermessung des Rausches | |
> Extrem hoch dosierte Drogen sind eine wachsende Gefahr. In Zürich können | |
> Konsumenten die Stoffe legal und gratis testen lassen. | |
Bild: Rosa und gefährlich: Ecstasy-Pillen enthalten immer öfter zu viel Wirks… | |
ZÜRICH taz | Sie ist rot wie eine Himbeere, etwas abgewetzt, aber der | |
Schriftzug ist noch zu erkennen. „Dove“, wie die Seife. Ein | |
Rauschversprechen. Den Botenstoff Serotonin soll die Pille im Übermaß | |
zwischen die Synapsen spülen, später in dieser Nacht. Eine synthetische | |
Extraportion Glück, weit geöffnete Sinne. Drei, vier Stunden vielleicht, | |
bis im Gehirn wieder alles auf Normalmaß absackt und die Party ein Ende | |
hat. So könnte es laufen. Wenn in der roten Pille das drin ist, was drin | |
sein soll. | |
Zehn Minuten haben die drei jungen Männer angestanden, jetzt sind sie dran. | |
Anfang zwanzig, Typ Azubis, weite Hosen, die Gesichter noch frisch. „Wir | |
nehmen öfter mal was, deswegen sind wir hier“, sagt einer von ihnen. Er | |
reicht die rote Ecstasy-Tablette herüber und schaut erwartungsvoll, als | |
lasse er den Wert einer alten Uhr schätzen. Daniel Allemann, 61, Chemiker | |
beim pharmazeutischen Kontrolllabor des Kantonsapothekeramts in Bern, hockt | |
vor einem Glastisch auf seinem Stuhl, mitten in der Eingangshalle des Clubs | |
X-TRA am Züricher Limmatplatz. | |
55 Franken kostet der Eintritt zum Psychedelic Carneval, Techno-DJs aus | |
Ottawa und London sind gekommen, vier Tanzflächen, 14 Stunden soll es | |
gehen. Kurz vor Mitternacht sind 2.000 Gäste da, der Bass lässt die Wände | |
beben. Allemann gibt der länglichen roten Pille die Probennummer G36. Er | |
legt sie unter eine Lampe, drückt den Auslöser einer Spiegelreflexkamera | |
und beginnt die Tablette zu zerkleinern. | |
Acht Mal im Jahr rückt Allemanns Team mit Chemikern und Sozialarbeitern im | |
Auftrag des kommunalen Drogeninformationszentrums (DIZ) in Zürich auf | |
Partys wie dieser an. Den Rest des Jahres können Konsumenten ihre Drogen im | |
DIZ-Büro zum Test abgeben. „Die Leute nehmen die Drogen so oder so“, sagt | |
DIZ-Projektleiter Christian Kobel. „Aber sie sollen wissen, was sie tun.“ | |
Streckmittel, Hochdosierungen, andere Wirkstoffe: Das, so sagen Fachleute | |
wie Kobel, sind die Risiken des Drogenkonsums auf einem unregulierten | |
Markt. Stoffe, die niemand kontrolliert, weil sie verboten sind. „Safer | |
Use“ ist Koblers Antwort. Bewusster, informierter Konsum. | |
Schadensminderung. | |
## Bestens informiert | |
Alle möglichen Drogen geben die Besucher im Laufe der Nacht bei Allemann | |
und seinen Kollegen ab: das als Speed bekannte Amphetamin, Kokain, das | |
halluzinogene 2CB, kleine Pappen mit LSD, Ecstasy-Tabletten und deren | |
Reinwirkstoff MDMA in Form kleiner, brüchiger Kristalle. Bis zum Morgen | |
arbeiten drei Chemiker die Proben ab. Ihr Bereich in der Eingangshalle des | |
X-TRA sieht aus wie ein Messestand mit angeschlossenem Labor. Kobel und | |
sein Team haben Stehtische und Flachbildschirme vor schwarzen Ledersofas | |
aufgestellt, vier Sozialarbeiterinnen stehen mit iPads parat wie Hostessen, | |
sie verteilen Ohrenstöpsel, Infobroschüren, Kondome. | |
„Die Konsumenten kaufen in der Regel vor der Party bei Dealern im privaten | |
Umfeld“, sagt Kobel. Meist für den ganzen Freundeskreis. So auch die drei | |
jungen Männer mit der „Dove“-Pille. Wie viel sie gekauft haben, wollen sie | |
nicht sagen. Der Drogen-Gütetest ist kostenlos und dauert eine halbe | |
Stunde. Wer das Ergebnis wissen will, muss sein Konsumverhalten offenlegen. | |
Eine Sozialarbeiterin fragt einen ganzen Katalog ab: Was nehmen Sie? Wie | |
viel geben Sie dafür aus? Wo kaufen Sie? Wie leben Sie? Die Antworten | |
landen direkt auf dem Server des Schweizer Instituts für Sucht- und | |
Gesundheitsforschung. | |
Seit 16 Jahren gibt es den Drogencheck des Züricher „Safer Party“-Projekts. | |
Tausende Proben wurden analysiert, archiviert, jedes Mal haben die | |
Konsumenten Auskunft gegeben. Kein Staat der Welt ist deshalb genauer über | |
Konsumtrends und den Drogenmarkt im Bilde wie die Schweiz. Kobels | |
Datenreihen zeigen zum Beispiel genau, seit wann Kokain mit dem | |
Tierentwurmungsmitteln Levamisol gestreckt wird, dass LSD-Käufern immer | |
öfter der erst kürzlich an der FU Berlin entdeckte Stoff NBOMe | |
untergeschoben wird. Und dass heute jede zweite Ecstasy-Pille zu stark | |
dosiert ist. | |
Wie ein Uhrmacher sitzt Allemann vor der Glasplatte auf seinem Tisch. Er | |
schaut durch eine Lupe, zerstößt die rote Tablette. Die Ziffern auf der | |
Digitalwaage schwanken durch die Vibration der Musik. 0,02 Gramm jeder | |
Probe nimmt Allemann ab, den Rest bekommen die Konsumenten zurück. 0,01 | |
Gramm reichen für die Analyse, der Rest ist für den Fall, dass weitere | |
Untersuchungen nötig sind. Ultraschall löst die Krümel in Alkohol, ein | |
Filter siebt Partikel heraus, dann ist die Lösung bereit. | |
## 211 Sekunden für „Dove“ | |
Rund 100.000 Euro kostet ein Hochdruckflüssigchromatograf. Zwei davon hat | |
Allemann so umbauen lassen, dass sie transportfähig sind. Die Geräte sehen | |
aus wie ein Stapel alter Computer, darauf stehen Flaschen, aus denen die | |
Maschinen durch Schläuche Methanol saugen. Im Innern steckt ein kleiner | |
Metallstab, gefüllt mit Kieselgel. Mit 200 Bar presst das Gerät die | |
Drogenproben durch den Stab. Jeder Wirkstoff braucht unterschiedlich lang, | |
um den Stab zu passieren. Amphetamin nur 140 Sekunden, das Schmerzmittel | |
Ibuprofen dagegen 17 Minuten. Zwischen 90 und 150 Franken kostet die Stadt | |
eine Analyse. „Günstiger als Psychiater oder Notfallmedizin“, sagt Kobler. | |
Nach 211 Sekunden treten die Moleküle der „Dove“-Pille wieder aus dem | |
Analysestab heraus. Die charakteristische Passierzeit von MDMA, dem | |
Wirkstoff der Droge Ecstasy. Die rote Pille enthält davon 236,2 Milligramm. | |
Der Computer zeigt an: Sie ist rein, aber in ihr steckt rund doppelt soviel | |
MDMA, wie ein Mensch verträgt. Das ist kein Einzelfall: Seit Jahren steigt | |
die Zahl solcher extrem hoch dosierter Ecstasy-Tabletten. Schon 2014 | |
warnten Europol und die EU-Drogenbehörde EMCDDA davor. Warum das so ist, | |
ist unklar. „Das Risiko lässt sich nicht am Aussehen festmachen“, sagt | |
Kobel. Der Wirkstoffgehalt ist für die Konsumenten nicht erkennbar. | |
Ein Drucker speit das Messergebnis der Probe G36 aus, Assistent André | |
Mürner heftet das Blatt in einer Klarsichthülle ab. „Massiv überdosiert“, | |
sagt Mürner, er zeigt den drei jungen Männern das Untersuchungsergebnis auf | |
seinem Monitor. „Nehmt auf keinen Fall mehr als die Hälfte.“ Sie hätten im | |
Übrigen auch nichts davon, sagt er. „Ab rund 90 Milligramm steigt die | |
Wirkung nicht mehr.“ Die Nebenwirkungen machten sich dafür umso mehr | |
bemerkbar. Die drei nicken und verschwinden im Dunkel der Tanzfläche. | |
## Warnungen ermöglichen | |
Und wenn sie doch eine ganze Tablette nehmen?„90 Prozent der Leute halten | |
sich dran“, sagt Kobel. „Vereinzelt gibt es welche, die sagen: Egal. Aber | |
das ist die Ausnahme. Die meisten wollen eine gute Zeit haben, deswegen | |
geben sie die Probe ja bei uns ab.“ Wenn akut gesundheitsgefährdende Stoffe | |
festgestellt werden, rückt Kobel den Rest der Probe nicht wieder heraus. | |
„Aber die Leute besitzen meist noch mehr davon, deswegen ist das Gespräch | |
so wichtig.“ | |
Wenn besonders gefährliche Stoffe auftauchen, geben auch die Medien | |
Warnungen weiter. Im April 2014 etwa berichteten Schweizer Zeitungen | |
darüber, dass Kobels Leute eine falsche Ecstasy-Pille mit dem | |
lebensgefährlichen Stoff PMMA entdeckt hatten. In keinem anderen Land sind | |
solche Warnungen möglich. In Deutschland ist der Drogencheck illegal. | |
Warnungen, die hierzulande verbreitet werden, basieren immer auf Allemanns | |
Analysen. An über 500 Fachstellen, auch im Ausland, mailt das DIZ jede | |
Woche seine Untersuchungsergebnisse. | |
Die Schweiz verbietet Konsum, Besitz und Handel mit Drogen. Für die | |
staatlich betriebenen Tests in Zürich und Bern gibt es kein Gesetz, „aber | |
auch keines, das sie verbietet“, sagt Kobel. Dass es das Projekt überhaupt | |
gibt, liegt an der Geschichte Zürichs: Anfang der 1990er Jahre bildete sich | |
auf dem Platzspitz-Park die größte offene Drogenszene Europas. „Verheerende | |
Zustände“, sagt Kobel. Tausende verelendete Junkies, teils mussten | |
Sanitäter 25 Menschen wegen Heroin-Überdosen wiederbeleben – pro Tag. | |
„Das ließ sich polizeilich nicht in den Griff kriegen, die Erinnerung daran | |
ist in allen Parteien noch vorhanden“, sagt Kobel. So gebe es bis heute im | |
rot-grün dominierten Zürich ein Bewusstsein für die Notwendigkeit | |
progressiver Drogenpolitik. Auch die Polizei akzeptiere die Arbeit des DIZ: | |
„Die könnten sich natürlich mit Zivilfahndern danebenstellen. Das tun sie | |
aber nicht, dann würde unser Angebot nicht mehr funktionieren.“ | |
## „Unter Fachleuten unumstritten“ | |
Was ist mit Minderjährigen? „Wir würden einen 16-jährigen nicht abweisen�… | |
sagt Kobel. „Unser Angebot dient der Schadensminderung gerade bei | |
Jugendlichen.“ Natürlich finden „die Rechtsbürgerlichen das nicht gut“, | |
sagt Kobel. „Die sagen, das sei verharmlosend und ein Konsumanreiz. Dabei | |
gibt es dafür keinen Beleg, unter Fachleuten ist das unumstritten.“ | |
Einer der Gegner ist der Nationalrat der rechten Schweizerischen | |
Volkspartei (SVP) Toni Bortoluzzi, Mitglied der parlamentarischen Unter | |
fachleuiten unumstritten“Gesundheitskommission. „Ich bin gegen diese | |
Einrichtung, weil sie den illegalen Konsum begünstigt“, sagte er kürzlich. | |
Es sei „absurd“, dass illegales Verhalten durch eine öffentliche | |
Einrichtung unterstützt werde. Wer durch Drogen mystische Erlebnisse suche, | |
könne „auch in die Kirche gehen“. | |
Auf den Segen der SVP kann Kobel verzichten, die Clubbetreiber aber müssen | |
mitspielen. „Am Anfang mussten wir viel Überzeugungsarbeit leisten“, sagt | |
Kobel. „Manche Clubs wollten das nicht.“ Sie fürchteten, bei den Behörden | |
und Medien als Drogenumschlagplätze stigmatisiert zu werden. Im Laufe der | |
Zeit sei es aber gelungen, dies umzukehren. „Heute gelten Clubbetreiber bei | |
der Stadt gerade als verantwortungsvoll, wenn sie unser Angebot | |
wahrnehmen.“ | |
Bis zum Morgen haben Allemann und seine Leute knapp 50 Proben analysiert. | |
Um sechs Uhr bauen sie ihr Labor zusammen und tragen die Geräte aus dem | |
dröhnend-heißen Club hinaus in die Kälte. Das Ergebnis stellt Kobel wenige | |
Tage später auf die DIZ-Webseite: Unter den 50 Proben waren 5 zu „hoch“ und | |
3 „extrem hoch“ dosierte Ecstasy-Tabletten. „Viele Menschen haben eben ein | |
Bedürfnis nach Risiko und Rausch“, sagt Kobel. „Damit muss man versuchen | |
pragmatisch umzugehen.“ | |
7 Jan 2017 | |
## AUTOREN | |
Christian Jakob | |
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