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# taz.de -- Demokratischer Umgang mit Rechten: Meinungsfreiheit ist nicht belie…
> Die Politikwissenschaft hat die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus
> vernachlässigt. Das zeigt sich im Umgang mit AfD und Pediga.
Bild: Klar gegen Rechts Stellung beziehen ist gar nicht so schwer
Die Demokratie: 1955 beschrieb sie Ernst Fraenkel in einem Vortrag nicht
nur als „die komplizierteste“, sondern auch als „die gefährdetste aller
Regierungsmethoden“. Damals hatte der Politikwissenschaftler mehrere Jahre
im amerikanischen Exil verbracht und war nach Deutschland zurückgekehrt,
auch um eine demokratische Politikwissenschaft zu etablieren. Als Grund für
seine Diagnose der gefährdeten Demokratie argumentierte Fraenkel mit der
Notwendigkeit in eine Einsicht: die Einsicht in die „Bewegungsgesetze des
demokratischen Willensbildungsprozesses“, ohne die die Demokratie sich
selbst dahinmorde.
Fraenkel hatte während des Nationalsozialismus eine der zwei fulminanten
politikwissenschaftlichen Analysen über das NS-System vorgelegt: Neben dem
„Behemoth“ (engl. zuerst 1942) von Franz L. Neumann war Fraenkels
„Doppelstaat“ (engl. zuerst 1941) eine systematische Analyse der
Funktionsweisen des NS-Politik- und Rechtssystems, das auf einer
Doppelstruktur von „Normenstaat“ und „Maßnahmenstaat“ beruhte. Vereinf…
gesagt: einer Parallelstruktur, bei der sich die Nazis der rechtlichen
Normen bedienten, wo sie ihnen nutzten, und ansonsten einer
institutionellen Parallelstruktur den Vorzug gaben, in der der
Ausnahmezustand und damit Gewalt und Willkür auf Dauer gestellt waren.
Recht wurde damit vom politischen Willen gebrochen, Letzterer erhielt im
Zweifel stets den Vorzug, sodass immer durchsetzbar war, was die
NS-Bewegung wollte.
Wirft man einen Blick auf die aktuellen Strategien der extremen Rechten,
dann ist diese Erkenntnis erschreckend aktuell: AfD, Pegida und Co. nutzen
das demokratische Recht der Meinungsfreiheit, wo immer es ihren Zielen
nutzt, und verwerfen es dort, wo es ihrem politischen Willen zuwiderläuft.
Zugleich eiern die demokratischen Parteien, mehr noch die demokratischen
Medien dieser rhetorischen Strategie hinterher und reproduzieren den –
falschen – Glauben, rassistische und völkische Positionen würden aufgrund
der Meinungsfreiheit zu Unrecht ausgegrenzt. Statt zu erkennen, dass die
Meinungsfreiheit aufgrund zahlreicher Grundgesetzartikel, aber auch
strafrechtlicher Regelungen mitnichten ein Beliebigkeitsrecht ist, nachdem
nach Herzenslust diskriminiert werden dürfe, begreift man nicht die
strategische Nutzung eben einer Doppelstruktur: Recht immer nur dann zu
nutzen, wenn es einem nutzt.
## Die Falle
Damit tappt die Demokratie in genau jene Falle, vor der Fraenkel 1955
warnte. Sie verkennt ihre eigenen Willensbildungsprozesse – und ignoriert,
dass es zu ihrem Wesenskern gehört, Positionen, die den demokratischen
Grundkonsens bekämpfen, nicht nur als solche zu benennen, sondern
konsequent auszugrenzen. Und zwar aus Verantwortung gegenüber allen
Bürgerinnen und Bürgern, aber auch als substanzieller Demokratieschutz.
Dass es heute eine öffentliche Minderheitenposition ist, antidemokratischen
Vorstellungen wie Rassismus, völkischen Nationalismus und Antisemitismus
nicht in jeder Fernsehtalkshow eine Werbebühne bieten zu wollen, hat auch
mit einer schleichenden Entantwortung der Politikwissenschaft in
Deutschland zu tun. Erst kürzlich hat der Politikdidaktiker Joachim Detjen
in einem Mammutwerk auf den genuinen Zusammenhang von Politikwissenschaft
und politischer Bildung hingewiesen – es ist vielleicht die wichtigste,
zugleich aber auch vom Fach am sträflichsten vernachlässigte Aufgabe, das
Wissen über politische Strukturen und ihre Geschichte denen zu vermitteln,
die sie über Generationen weitervermitteln sollen: angehenden Lehrerinnen
und Lehrern.
Die Aufgabenfelder der politischen Bildung gelten aber in der
Politikwissenschaft nicht selten als wenig attraktiv. Politische Bildung
wird gern auf eine reine Vermittlung von Didaktik reduziert, statt zu
sehen, dass der Aufstieg von AfD und Pegida nicht nur, aber auch auf die
schleichende Ignoranz gegenüber einer der politikwissenschaftlichen
Kernaufgaben zurückzuführen ist.
Wer sich das Jahr 1969 anschaut und den drohenden Einzug der NPD in den
Deutschen Bundestag, sieht nicht nur die umfangreichen
außerparlamentarischen Aktivitäten, sondern auch, dass im Vorfeld der Wahl
ein dicker Band mit Analysen zur NPD erschienen war. Er war entstanden
unter Federführung des Politologen Reinhard Kühnl, stellte zahlreiche
Bezüge zum Nationalsozialismus her und schuf damit wissenschaftliche
Grundlagen für die politische Kritik. Auch wenn man mit den heutigen
Erkenntnissen vieles von dem, was Kühnl historisch argumentiert hat,
revidieren muss, lag er mit einem Grundansatz für den letztlich
erfolgreichen Kampf gegen die NPD zweifelsfrei richtig: Wer
Politikwissenschaft betreibt, muss dies unter Einbeziehung einer
Herrschaftsanalyse des Nationalsozialismus tun, um Ziele, Strategien und
Taktiken der extremen Rechten der Gegenwart zu verstehen.
Dass die geschichtswissenschaftliche Forschung heute allein aufgrund ihrer
Methoden deutlich mehr Erkenntnisse zum Nationalsozialismus zu bieten hat
als die politikwissenschaftliche, ist offenkundig. Die Politikwissenschaft
hat aber in dem Moment, als sie irgendwann in den 1990er Jahren das
Forschungsfeld Zeitgeschichte geräumt hat, ihren demokratischen
Grundauftrag entkernt: Dass der Nationalsozialismus heute nicht mehr zum
Kerncurriculum politikwissenschaftlicher Lehre gehört und bestenfalls hier
und da noch von engagierten Lehrbeauftragten in Einzelveranstaltungen
angeboten wird, ist Teil des Problems, das jetzt mit [1][12,6 Prozent im
Bundestag sitzt].
23 Oct 2017
## LINKS
[1] /Umgang-mit-der-AfD-im-Plenarsaal/!5454399
## AUTOREN
Samuel Salzborn
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