Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Antisemitismus nach dem Halle-Anschlag: War da was?
> Die deutsche Politik verharmlost den Antisemitismus. Ein Gastbeitrag nach
> dem Terroranschlag von Halle.
Bild: Sachsen-Anhalt, Halle (Saale) im Oktober 2019: Blumen und Kerzen stehen n…
Tun wir einmal so, als würde der Satz von Annegret Kramp-Karrenbauer,
der Terroranschlag von Halle sei ein „Alarmzeichen“ gewesen, nicht
dokumentieren, dass die politische Elite seit Jahren beide Augen zugemacht
hat, als es um Antisemitismus ging. Ignoriert man kurz diese Ignoranz der
deutschen Politik, dann wird die Aussage noch schlimmer: Denn wenige Wochen
nach Halle ist das „Alarmzeichen“ komplett vergessen, der antisemitische
Terror hat Gleichgültigkeit hinterlassen.
Das zeigt, wie sehr die mantrahaft wiederholte Behauptung, Deutschland habe
den Nationalsozialismus und die Shoah aufgearbeitet, die größte Lebenslüge
der Bundesrepublik ist.
Norbert Frei hat in der Süddeutschen Zeitung auf die eigentliche Irritation
nach dem Anschlag von Halle hingewiesen, nämlich, dass Politik und Medien
und „mit ihnen offenbar die meisten Deutschen“ schon nach wenigen Tagen
kaum Diskussionsbedarf mehr hatten – und das „angesichts einer Bluttat, die
mehr hätte auslösen müssen als kurz Bestürzung und Fassungslosigkeit“. Das
Attentat, so Frei, stellt faktisch „die Grundlagen unserer seit 70 Jahren
gewachsenen Demokratie infrage“.
Ein antisemitischer Terroranschlag war, so bitter es ist, nur eine Frage
der Zeit. Antifaschistische Initiativen und jüdische Organisationen weisen
seit Jahren darauf hin, dass die rechtsextremen Radikalisierungsprozesse,
online wie offline, die Verrohung der Gesellschaft und die Zuspitzung
entsprechender Weltbilder in reale physische Gewalt auch terroristischer
Dimensionen münden werden. Und dies gerade vor dem Hintergrund der langen
Geschichte des rechten und antisemitischen Terrors in Deutschland.
## Erschreckende Reaktion: Nachrichtendienste aufstocken
Die Reaktionen darauf sind allerdings erschreckend: Dem
Bundesinnenministerium fällt kaum mehr ein, als die Nachrichtendienste
personell aufzustocken – unfassbar, wenn man die Frage stellt, wie der
Verfassungsschutz in Sachsen-Anhalt eigentlich überhaupt arbeitet, so es
ihm nicht einmal gelingt, die Organisierung und Bewaffnung von Neonazis
wahrzunehmen?
Die Erkenntnisse, die es über Rechtsextremismus in Deutschland gibt, kamen
so gut wie noch nie vom Verfassungsschutz, sondern von antifaschistischen
Initiativen, engagierten Journalist/innen und aus der wissenschaftlichen
Forschung. Das Wichtigste, was der Verfassungsschutz aufgrund seiner
nachrichtendienstlichen Möglichkeiten leisten müsste, wäre die Verhinderung
real ausgeübte Gewalt. Doch dabei versagt er kläglich, zumindest wenn es um
Rechtsextremismus geht.
Ihn personell aufzustocken – statt wissenschaftliche und
zivilgesellschaftliche Organisationen zu stärken, die dauerhaft die Arbeit
des Verfassungsschutzes mit den diesem zur Verfügung stehenden Mitteln
übernehmen könnten – muss alle, die sich gegen Rechtsextremismus und
Antisemitismus engagieren, fassungslos machen.
Stattdessen werden die Finanzmittel, die vom Bundesfamilienministerium zur
Prävention im Bildungsbereich gegen Rechtsextremismus und Antisemitismus
eingesetzt werden, nicht erhöht. Natürlich verhindert man mit Bildung
keinen Terror.
## Antisemitismus hat Schlüsselstellung im rechten Weltbild
Aber um langfristig gegen Antisemitismus zu arbeiten, ist der Ausbau von
Bildungsstrukturen dringend geboten – und zwar nicht im kleinen Stil,
sondern eigentlich in Milliardenhöhe: Es bedarf geregelter Strukturen,
keiner lächerlichen Projektförderung über kurze Förderzeiträume, sondern
dauerhafte, unabhängige Forschungs- und Bildungseinrichtungen, die
Antisemitismus nicht als einen Spiegelstrich neben anderen Formen von
Diskriminierung missverstehen, sondern seine Schlüsselstellung im Weltbild
des Rechtsextremismus begreifen – und, am Rande bemerkt, auch im Weltbild
des Islamismus.
Statt sinnvoll in Prävention und Intervention zu investieren, wird kopflos
in den Bereich der Repression fehlinvestiert. Und das, obgleich Repression
gegen Antisemitismus genauso wichtig ist. Aber: Wo bleiben die
Initiativen zu umfangreichen Gesetzesänderungen, die Antisemitismus
endlich wirksam bekämpfbar machen?
Das Strafrecht ist längst nicht mehr auf der Höhe der Zeit. Es macht die
Leugnung der Schoah strafrechtlich verfolgbar, andere Formen von
Antisemitismus aber bis heute nicht. Die gesellschaftliche Realität hat
sich seit Langem verändert. Es bedarf dringend einer strafrechtlichen
Erweiterung, die jede Form von Antisemitismus ahndet.
Warum die Betreiber sozialer Netzwerke bis heute nicht wirklich für die nur
rudimentär erfolgende Löschung antisemitischer Postings in Regress genommen
werden, obgleich das Netzwerkdurchsetzungsgesetz dafür den rechtlichen
Rahmen geschaffen hat, bleibt ein Geheimnis des Bundesjustizministeriums.
## Reformen in der Ausbildung nötig
Ungeachtet dessen bedarf es der Optimierung der Strafverfolgungsbehörden,
nicht des Verfassungsschutzes, sondern der Reform der Ausbildung von
Staatsanwält*innen, Richter*innen und Polizist*innen zur Sensibilisierung
gegen Antisemitismus – in allen seinen Erscheinungsformen.
Mit der IHRA-Definition (International Holocaust Remembrance
Alliance=Internationales Bündnis für Holocaust Gedenken), die der Deutsche
Bundestag übernommen hat und die sich nach und nach in unterschiedlichen
Bereichen von Politik und Verwaltung etabliert, ist dafür ein erster, wenn
auch kleiner Schritt getan. Die IHRA-Definition ist der Minimalkonsens, von
dem aus ein präzises und aktuelles Verständnis von Antisemitismus
entwickelt und zur Grundlage staatlichen Handelns gemacht werden kann. Sie
ist eine erste Grundlage, um Antisemitismus als Weltbild erfassen zu
können.
Und was passiert, wenige Wochen nach Halle? Da veröffentlichen die
Rosa-Luxemburg-Stiftung und medico international ein Gutachten, das
Antisemitismus drastisch verharmlost und den kleinen Schritt, der mit der
IHRA-Definition in die richtige Richtung gegangen wurde, wieder in Zweifel
zieht. Man darf vermuten, dass es hier auch darum geht, den Antisemitismus
in den eigenen linken Kontexten, der sich zumeist gegen Israel wendet, aus
dem Fokus bringen zu wollen.
Werner Bergmann und Rainer Erb haben dieses Phänomen vor mehr als 30 Jahren
„Umwegkommunikation“ genannt. Und es ist empirisch vielfach nachgewiesen,
dass der Umweg, auf dem sich der als tabuisiert wahrgenommene
Antisemitismus heute zeigt, vor allem der der antisemitischen Schuldabwehr
und der des antiisraelischen Antisemitismus ist – wer das leugnet,
ignoriert nicht nur die Erkenntnisse der empirischen und theoretischen
Forschung, sondern verharmlost Antisemitismus und spielt damit faktisch
allen Antisemit(inn)en in die Hände.
## Antisemitismus ist Antisemitismus – egal woher
Antisemitismus ist Antisemitismus – egal ob er von Neonazis, Islamisten
oder Antiimperialisten formuliert wird und egal ob er religiös (christlich
oder islamisch), völkisch-rassistisch, schuldabwehrend oder antiisraelisch
auftritt.
Lala Süsskind vom Jüdischen Bildungswerk für Demokratie und gegen
Antisemitismus hat kürzlich bei einem Podium davon berichtet, dass sie auf
die Frage, ob sie schon auf gepackten Koffern sitze, gesagt habe: „Nein,
aber wenn, dann weiß ich, wohin ich gehen kann. Und Sie?“
Darüber sollten all jene wenigstens eine Sekunde nachdenken, wenn sie
Öffentlichkeit, Politik und Medien wieder einmal den Antisemit*innen
überlassen. Wohin geht eigentlich ihr, ihr, die ihr aufgebt, jeden
einzelnen Tag wieder aufgebt, wenn ihr eine auch nur noch so kleine
Konzession an AfD, BDS oder andere Antisemit*innen macht – und das ohne
dass euch irgendjemand dazu zwingen würde oder könnte?
5 Dec 2019
## AUTOREN
Samuel Salzborn
## TAGS
Antisemitismus
Rechtsextremismus
Islamismus
Verfassungsschutz
Medien
Diskussion
BDS-Movement
Politiker
Schwerpunkt AfD
Rechtsextremismus
Lesestück Meinung und Analyse
Meinungsfreiheit
## ARTIKEL ZUM THEMA
Israelbezogener Antisemitismus: Jüdischer Stadtrat ausgeladen
Bei der Friedenskonferenz in München hätte der jüdische Stadtrat Marian
Offman ein Grußwort halten sollen. Doch dann luden die Organisatoren ihn
aus.
Soziologe über Angriffe auf Politiker: „Dahinter stehen Wertkonflikte“
Dieses Jahr fanden zahlreiche Angriffe auf Lokalpolitiker statt. Wieso? Der
Soziologe Holger Lengfeld spricht von einem kulturellen Problem.
Rechtsextremismus und AfD: AfD als Matrjoschka-Puppe
Es wird darum gerungen, wie man das rechte Projekt um die AfD
charakterisieren soll – etwa konservativ, populistisch oder rechtsextrem.
What’s right?
Jugendliche in Schleswig-Holstein: Zu viel Kontakt zu Nazis
In Schleswig-Holstein haben 6.200 Jugendliche ein rechtsextremes Weltbild.
Das geht aus einer Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts hervor.
Essay über die Folgen von 9/11: Die antisemitische Revolution
Eröffneten die Terrorangriffe vom 11.9.2001 auf die USA auch eine neue
Offensive des Antisemitismus? Der Autor ist davon überzeugt.
Demokratischer Umgang mit Rechten: Meinungsfreiheit ist nicht beliebig
Die Politikwissenschaft hat die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus
vernachlässigt. Das zeigt sich im Umgang mit AfD und Pediga.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.