# taz.de -- Essay über die Folgen von 9/11: Die antisemitische Revolution | |
> Eröffneten die Terrorangriffe vom 11.9.2001 auf die USA auch eine neue | |
> Offensive des Antisemitismus? Der Autor ist davon überzeugt. | |
Bild: Die Auswahl der Ziele der Anschläge von 9/11 galt der westlichen Welt al… | |
Schon vor 9/11 haben militärische und paramilitärische Auseinandersetzungen | |
zunehmend eine asymmetrische Form angenommen. In dieser führen nicht mehr | |
eindeutig und rational voneinander abgrenzbare Kriegsparteien unter der | |
Ägide einer durch das Völkerrecht formalisierten Kriegsorganisation | |
miteinander Krieg. Vielmehr üben zunehmend nichtstaatliche Akteure jenseits | |
völkerrechtlicher Übereinkünfte parapolizeiliche, paramilitärische und | |
terroristische Handlungen aus, die sich nicht gegen reguläre Streitkräfte | |
als Kombattant(inn)en, sondern kollektivistisch und identitär gegen | |
Zivilist(inn)en und damit gegen jeden Menschen richten, der nicht als Teil | |
des eigenen Kollektivs unterstellt wird. | |
Damit kämpfen die beteiligten Parteien nicht um die Geltung einer | |
staatlichen Verfassung – selbst bei Bürgerkriegen lag das Ziel vor allem | |
darin, die jeweils gültige durch eine andere, eine alternative Verfassung | |
zu ersetzen. Sie kämpfen vielmehr um einen erheblich größeren | |
Verfassungsbegriff, nämlich: um die Verfasstheit der Welt, die nach | |
homogen-identitären Kriterien neu organisiert werden soll. | |
Die Auswahl der Ziele der Anschläge von 9/11 galt, das wurde sowohl in | |
Erklärungen der Islamisten explizit formuliert wie durch interpretative | |
Deutungen der symbolischen Bedeutung der Twin Towers auch implizit | |
herausgearbeitet, der westlichen Welt als solcher. Es war nicht nur ein | |
Anschlag auf die USA, sondern ein Anschlag auf die durch sie verkörperten | |
Werte von Freiheit und Gleichheit, letztlich ein Anschlag auf die | |
Aufklärung und die Moderne. | |
Und es war ein antisemitischer Anschlag, weil im islamistischen Weltbild | |
alles, was abgelehnt wird, letztlich jüdisch identifiziert wird und die | |
Anschläge von 9/11 den Auftakt für eine antisemitische Revolution bilden | |
sollten. Eine Revolution, an deren Ende dem Willen der Islamisten folgend | |
eine islamistisch unterworfene Welt stehen soll, in der sämtliche | |
Errungenschaften von Aufklärung, Moderne und Demokratie zerstört und | |
sämtlicher emanzipativer Fortschritt zum Stillstand gebracht werden soll. | |
## Das Weltbild des Islamismus | |
Gut ein Jahr nach den islamistischen Terroranschlägen vom 11. September | |
2001 hatte die russische Tageszeitung Известия (Iswestija) sehr weitsic… | |
davor gewarnt, dass es sich bei dem internationalen Terrorismus um den | |
ersten „echten Weltkrieg“ handele, obgleich er als solcher nicht | |
angekündigt sei. Er finde überall auf der Welt statt: auf Bali, in Moskau, | |
in New York und Washington. | |
Die Zeitung betonte, dass es keine Zweifel geben könne und vor allem auch | |
nicht mehr geben dürfe, dass die menschliche Zivilisation mit dieser | |
terroristischen Bedrohung einen gemeinsamen Feind habe: „Die hehren Worte | |
vom Leben des freien Menschen als wichtigster Kostbarkeit der Zivilisation | |
haben aufgehört, nur Pathos zu sein.“ | |
Dieser „echte Weltkrieg“ war und ist gekennzeichnet durch seine | |
Entgrenzung: territorial, aber auch weltanschaulich. Er ist nicht mehr | |
gebunden an Staaten, er findet als terroristischer Anschlag statt, aber | |
auch als Cyberkrieg, er spaltet Gesellschaften in Teile, die sich | |
emanzipatorischen und aufklärerischen Werten verbunden fühlen, und solche, | |
die Homogenität und Identität als Zwangssysteme etablieren wollen. | |
Letzteres verfolgen dabei nicht nur die Islamisten, denn gerade in Europa | |
und Amerika haben sich rechtsextreme Bewegungen etabliert, [1][die das | |
Weltbild des Islamismus spiegelbildlich reproduzieren] und mit ihm den | |
Willen zur antisemitischen Revolution teilen. Genau deshalb hassen die | |
rechtsextremen Bewegungen gerade alle nichtradikalen Muslime, die sich mit | |
dem deistischen Postulat der Aufklärung arrangiert haben und in der | |
Privatisierung ihres Glaubens keinen Nachteil sehen. | |
## Gegen das Individuum | |
Dieser antisemitische Weltkrieg ist weltanschaulich entgrenzt, weil der | |
Hass auf die Aufklärung und die mit diesem verbundene antisemitische | |
Regression quer zu allen politischen Kategorialisierungen anzutreffen ist. | |
Der antisemitische Krieg verbindet Identitäre auf aller Welt miteinander. | |
Die Revolution der Antisemit(inn)en bricht sich dabei schrittweise Bahn – | |
mal an der Macht, mal als Bewegungen aktiv, deren Ziel die Fixierung von | |
kollektiven Identitätskonzepten ist, die mal völkisch bestimmt werden, mal | |
islamistisch, in jedem Fall essenzialistisch, antiaufklärerisch und gegen | |
das Individuum als Subjekt gerichtet. | |
Die liberale und aufgeklärte Welt befindet sich in der Defensive, auch mit | |
Blick auf ihre stark ramponierte Selbstlegitimation, deren Reformulierung | |
die Grundlage für eine neue Renaissance emanzipativer Bewegungen sein | |
müsste. Denn entgegen mancher postkolonialer Utopien kann eine solche | |
Emanzipation nicht ohne und schon gar nicht gegen den Westen geschehen. Die | |
neuen identitären Bewegungen bilden sich nämlich nicht nur in der | |
politischen Rechten, sondern auch in der Linken. | |
Gerade einige der sich postkolonial gerierenden Gruppierungen [2][hetzen in | |
Europa massiv gegen die einzige Demokratie im Nahen Osten] (Israel) und | |
machen dabei sogar gemeinsame Sache mit Islamisten und Neonazis, wenn es | |
nur gegen den gemeinsamen Feind geht – wie bei den antisemitischen | |
Großdemonstrationen im Sommer 2014. | |
Und die den völkischen Konzepten der extremen Rechten konzeptionell nahezu | |
identische [3][kollektiv-repressive Identitätspolitik, wie sie im Gefolge | |
der Critical-Whiteness-Ansätze] daherkommt, will nun gar nicht mehr | |
demokratisch und pluralistisch über Ziele und Inhalte streiten, sondern | |
reduziert alles und jeden auf eine vermeintliche Identität und | |
hierarchische, antiemanzipative Vorstellungen von irreversiblen | |
„Sprechorten“ innerhalb von Gesellschaften. Statt einer Kontroverse über | |
Positionen verkommt öffentliche Auseinandersetzung zunehmend zu einem Kampf | |
um Identitäten, was Emanzipation durch Repression ersetzt. | |
## Das Leben des freien Menschen | |
9/11 war für diesen Entgrenzungsprozess zwar nicht der Auftakt, aber der | |
historische Kristallisationspunkt. 9/11 war das seismografische Zentrum, | |
von dem aus die bestehende Weltordnung tatsächlich infrage gestellt wurde | |
und die alleinige Hegemonie der amerikanischen Supermacht objektiv | |
gebrochen wurde – nicht an diesem einen Tag, aber er wurde zum sichtbaren | |
Zeichen für die Verwundbarkeit der westlichen Welt und zur | |
Mobilisierungsfolie für die Kräfte der Gegenaufklärung weltweit. | |
Das Banner, unter dem sich diese sammeln, ist das Banner des | |
Antisemitismus. 9/11 war der Auftakt einer antisemitischen Revolution, die | |
sich gegenwärtig weltweit im Gange befindet und die, wie jede Revolution, | |
auch zerschlagen werden kann. Um dies in Angriff zu nehmen, muss man aber | |
ihren Kern als antisemitische Revolution begreifen und erkennen, dass mit | |
ihr in der Tat alles auf dem Spiel steht, was die Iswestija „wichtigste | |
Kostbarkeit der Zivilisation“ genannt hat: das Leben des freien Menschen. | |
10 Sep 2018 | |
## LINKS | |
[1] https://www.tagesspiegel.de/kultur/islamisten-und-rechtsextremisten-vereint… | |
[2] /Kommentar-Antisemitismus/!5516058 | |
[3] /Ueber-Rassismus-reden/!5357663 | |
## AUTOREN | |
Samuel Salzborn | |
## TAGS | |
Lesestück Meinung und Analyse | |
Schwerpunkt 9/11 | |
Islamismus | |
Antisemitismus | |
Terrorismus | |
Critical Whiteness | |
Postkolonialismus | |
Antisemitismus | |
Rechtsextremismus | |
Hass | |
Schwerpunkt 9/11 | |
Israel | |
Antisemitismus | |
Sandra Scheeres | |
Antisemitismus | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Antisemitismus nach dem Halle-Anschlag: War da was? | |
Die deutsche Politik verharmlost den Antisemitismus. Ein Gastbeitrag nach | |
dem Terroranschlag von Halle. | |
Kommentar Rechtsextreme bei Hisbollah: Treffen auf ideologischer Basis | |
Der Besuch europäischer Neonazis bei der Hisbollah zeigt die | |
Gemeinsamkeiten beider Ideologien. Die Miliz muss auch in Deutschland | |
verboten werden. | |
Tödlicher Terror in Synagoge in Pittsburgh: Unverhohlener Hass als Motiv | |
In Pittsburgh ermordet eine Mann elf Menschen in einer Synagoge. Ganz aus | |
dem Nichts kam das nicht, seit Trump nehmen antisemitische Angriffe zu. | |
9/11-Terrorhelfer abgeschoben: Mounir al-Motassadeq | |
Motassadeq war ein Komplize der Terroristen vom 11. September und wurde zu | |
15 Jahren Haft verurteilt. Nun wurde er nach Marokko abgeschoben. | |
Antisemitismus in den Medien: Immer wieder Israel | |
Zum Gespräch lud die Junge Union unter anderem „Bild“-Chef Julian Reichelt | |
nach Hamburg ein. Der gab sich überraschend ausgewogen. | |
Religiöses Mobbing an Grundschule: Schülerin mit dem Tod bedroht | |
Ein Fall von vermutlich antisemitisch motiviertem Mobbing an einer | |
Grundschule löst großes Echo aus – sogar Außenminister Heiko Maas (SPD) | |
mischt sich ein. | |
Antisemitismus an Berliner Schulen: Juden und „Ungläubige“ im Visier | |
Radikale Muslime werden zunehmend zum Problem in Schulen, besagt eine | |
Umfrage des American Jewish Committee. Ein Problem nicht nur für jüdische | |
Schüler. | |
Streit um abgelehnten Dokumentarfilm: Arte und sein Antisemitismusproblem | |
Eine Dokumentation belegt aktuellen Antisemitismus – und wird dann von der | |
auftraggebenden Arte-Redaktion nicht freigegeben. Dort rechtfertigt man | |
sich. |