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# taz.de -- Soziologe über Angriffe auf Politiker: „Dahinter stehen Wertkonf…
> Dieses Jahr fanden zahlreiche Angriffe auf Lokalpolitiker statt. Wieso?
> Der Soziologe Holger Lengfeld spricht von einem kulturellen Problem.
Bild: Geste der Solidarität: Bundespräsident samt Ehefrau bei der attackierte…
taz: Herr Professor Lengfeld, laut einer Umfrage unter Bürgermeistern haben
die Attacken gegen Amtsträger und ihre Mitarbeiter in den letzten zwei
Jahren um ein Viertel zugenommen. Woran könnte das liegen?
Holger Lengfeld: Richtig, acht Prozent der befragten Bürgermeister
berichteten 2019 über Gewaltattacken, das sind zwei Prozentpunkte mehr als
2017. Dafür hat die berichtete Zahl der Beleidigungen leicht abgenommen.
Meine generelle Einschätzung auf der Basis des aktuellen Forschungsstandes
wäre: Dahinter steht die Zunahme an Wertkonflikten, die wir heute in den
westlichen Gesellschaften haben, also etwa in Europa oder den USA.
In Wertekonflikten wird darum gekämpft, wie die Grundordnung unserer
Gesellschaft aussehen sollte, damit wir sie als eine „gute Gesellschaft“
ansehen. Und in den letzten Jahren haben sich die Anzeichen gemehrt, dass
es in einem Teil der Bevölkerung Unzufriedenheit über die heutige
demokratische Praxis und die Entwicklung der Gesellschaft insgesamt gibt.
Inwiefern?
Nehmen Sie das Erstarken der Alternative für Deutschland als Beispiel. Die
AfD war zunächst bei Landtagswahlen sehr erfolgreich, später auch bei einer
Bundestags- und Europawahl. Je nach Bundesland reden wir hier von 6 bis zu
27 Prozent der Wahlberechtigten, die mit ihrer Stimme ein Signal der
Unzufriedenheit aussenden wollen.
Wir haben uns dazu Umfragen angeschaut und analysiert, warum genau die denn
jetzt unzufrieden sind. Und dabei sind wir dann auf die Wertkonflikte
gestoßen. Die ranken sich beispielsweise um die Frage, wie offen oder
geschlossen unsere Gesellschaft für Menschen sein sollte, die nicht hier
geboren wurden und eine andere Kultur teilen. Möglicherweise geht es aber
auch um die Ablehnung nicht-heterosexueller Lebensweisen und um den
Klimawandel. Das wird derzeit genauer erforscht.
Wie hängt das mit Lokalpolitikerinnen zusammen, die angegriffen werden?
Naja, einige der Angriffe, die mir in Erinnerung geblieben sind, haben
etwas mit deren Engagement bei der Unterbringung von Asylbewerbern in der
Kommune zu tun. Das stößt bei einem Teil der Bürger auf Widerstand.
Das kann doch nur ein Aspekt des Ganzen sein. Nehmen Sie den Fall Barbara
Lüke: Das ist die Bürgermeisterin aus Pulsnitz, die kürzlich Besuch vom
Bundespräsidenten bekommen hat, weil sie so oft Anfeindungen ausgesetzt
ist. Der taz am Wochenende [1][hat sie erzählt, dass sie vor allem wegen
Sachentscheidungen angegriffen wird.] Also zum Beispiel, weil sie der
illegalen Untervermietung von Garagen in ihrer Kommune den Riegel
vorschiebt. Das hat doch nichts mit Werten zu tun, oder?
Ich verstehe schon, was Sie meinen. Aber die empirische Forschung ist nicht
so kleinteilig. Wir beschäftigen uns meist nicht mit solchen einzelnen
Fällen, sondern mit den Regelmäßigkeiten, die die konkreten Fälle gemeinsam
haben. Für mich als Soziologen lautet daher die Frage: Unter welchen
Bedingungen nimmt ein klassischer Interessenkonflikt, wie Sie ihn da
beschreiben, die Form eines potentiell gewaltsamen Konfliktes an?
Dass Menschen unterschiedliche Interessen haben und diese Interessen durch
politische Entscheidungen entweder befördert oder behindert werden, ist in
der Demokratie erst einmal was Normales. Die Frage ist doch: Ab wann wehren
sich die Leute, die sich nicht berücksichtigt fühlen, gegen die
Amtsträgerinnen und Amtsträger mit Gewalt?
Und? Ab wann?
Die Annahme der Forschung ist hier, dass die Mandatsträgerinnen in den
Augen der Aggressoren schon ihre Legitimität eingebüßt haben. Wir wissen
etwa, dass in Ostdeutschland das Misstrauen in die Repräsentanten des
Staates höher ist als in Westdeutschland. Und da geht es gar nicht immer
nur um Zuwanderung und Migration. Wir vermuten: Es geht um das Gefühl, von
den Eliten im Stich gelassen zu werden. Die Infrastruktur zerfällt, der Bus
fährt nur noch zwei Mal am Tag, der Supermarkt hat zugemacht, es gibt
keinen Arzt mehr im Dorf. Für solche Dinge werden Politiker verantwortlich
gemacht.
Es geht also um Vertrauensverlust?
Ich denke schon. Es gibt einen kleinen Teil der Bevölkerung, der die
liberale repräsentative Demokratie für Murks hält. Diese Menschen wünschen
sich eine autoritative Regierungsform – zum Beispiel eine
Präsidialdemokratie. Diese Leute hat es auch schon früher gegeben. Es
scheint jetzt aber offenbar mehr von ihnen zu geben, die sagen: „Das mit
der Demokratie ist schon eine gute Sache. Aber die Eliten stopfen sich nur
die eigenen Taschen voll und kümmern sich nicht um uns“.
Aber Lokalpolitiker sind doch nicht die „Elite“?
Aus Sicht dieser Leute schon! Wer ein populistisches Weltbild pflegt, sieht
in der Bürgermeisterin eine Repräsentantin der Macht. Dieser wird dann
unterstellt, eine bestimmte Position nur deshalb innezuhaben, um die
eigenen Pfründe zu sichern – oder als Handlanger höherer Tiere zu dienen.
Das lässt sich auch auf die Wirtschaft übertragen: Da kann auch der Leiter
der lokalen Sparkassen-Filiale als „Elite“ abgetan werden, wenn der einem
keinen Kredit geben will. Der Interpretationsrahmen funktioniert so: „Die
Elite will sich immer bereichern – und wir kleinen Leute haben das
Nachsehen“. Das Muster gibt es übrigens im Links- wie im Rechtspopulismus.
Wie beurteilen Sie den Zustand unserer repräsentativen Demokratie?
Meine Güte, Sie stellen Fragen, die ich als Wissenschaftler kaum
zuverlässig beantworten kann! Ich versuche es mal so: Gelegentlich wird
gesagt, wir stünden vor den Toren eines neuen Rechtsradikalismus. Dafür
müssen vielleicht gar nicht unbedingt die rechten Parteien selbst an die
Schaltstellen der Macht kommen. Es reicht, wenn andere Parteien auf den
Rechtsruck reagieren. Nehmen Sie Dänemark als Beispiel: Dort gibt es eine
erfolgreiche sozialdemokratische Regierungschefin, der es gelungen ist,
linke verteilungspolitische Positionen mit einer rechtspopulistischen
Migrationspolitik zu verbinden.
Bleiben wir mal in Deutschland. Wie fragil sind unsere Institutionen? Oder
anders gefragt: Sind wir in Weimar?
Das wird ja auch manchmal behauptet, wir stünden kurz vor einer neuen Form
des Dritten Reiches. Ich würde mal sagen: Gemach, Gevatter! Die Weimarer
Republik hatte sehr wenige Fans, sie war sehr instabil. Heute haben wir
eine andere Situation. Wir haben relativ starke Kräfte, die unsere
demokratischen Institutionen verteidigen. Aber richtig, es herrscht
gleichzeitig eine erhöhte Gewaltbereitschaft, wie die Fälle zeigen, die Sie
angeführt haben.
Die zentrale Frage lautet: Werden dadurch die Institutionen des Staates
geschwächt? Eine Beispiel für eine solche Schwächung wäre die Abnahme der
Bereitschaft aus der Bürgerschaft, politische Ämter zu übernehmen, weil es
in der Vergangenheit Angriffe auf Lokalpolitiker gegeben hat. Aber als
Soziologe kann ich nur sagen: Darüber wissen wir aus der Forschung bisher
noch zu wenig.
Ach ja? In Altenstadt in Hessen war ein NPD-Mann sieben Wochen lang
Ortsvorsteher…
Ja. Aber was viel zu selten bedacht wird: Die Toleranzschwelle der
Öffentlichkeit für solche Fälle scheint zugleich gesunken zu sein. Wenn ich
mich richtig erinnere, war es doch Ihre Zeitung, die über die Nähe des
Vereins „Uniter“ zu rechtsextremistischen Positionen berichtet hat, oder?
Anschließend wurde viel darüber berichtet, dass ein Dozent der
Brandenburger Polizei-Hochschule dort Mitglied ist. Die Nähe zu Uniter
wurde also zum Politikum.
Das gleiche gilt für Altenstadt oder Robert Möritz in Sachsen-Anhalt. Die
Bereitschaft der Gesellschaft, die Macht an Menschen mit rechtsextremer
Gesinnung abzugeben, scheint gesunken zu sein. Ich interpretiere das
durchaus als Zeichen der Legitimität der liberalen Demokratie.
Gleichzeitig gibt es „kulturelle Modernisierungsverlierer“, wie Sie sie
nennen. Die wählen dann AfD…
Das ist ein zentraler Punkt, glaube ich. In den letzten zwanzig Jahren hat
die Zahl der Menschen in Deutschland mit liberalen Wertvorstellungen
zugenommen. Das sind Menschen, die die offene Gesellschaft befürworten und
im Zweifel bereit sind, diese zu verteidigen. Das bedeutet, dass sich die
praktische Politik an diesen Leuten stärker orientiert. Die anderen
Parteien haben ja mitbekommen, dass in Baden-Württemberg sei Jahren ein
grüner Ministerpräsident regiert. Das wäre vor zwanzig Jahren noch
unvorstellbar gewesen.
Sie wollen auf die „Sozialdemokratisierung“ der CDU hinaus…
So ist es. Bestimmte frühere wertkonservative Positionen werden von dieser
Partei einfach nicht mehr vertreten: Wehrpflicht zum Erhalt der
Souveränität des Staates, Atomkraft zur Aufrechterhaltung der
Energiesouveränität, Heteronormativität im Familienbild und so weiter.
Alles aufgegeben. Damit nimmt man viele Menschen mit. Aber eben nicht alle.
Und das sind die Leute, die ich als „kulturelle Modernisierungsverlierer“
bezeichnet habe. Und in diese Repräsentationslücke ist jetzt die AfD
gestoßen.
Was man bei der ganzen Debatte auch nicht vergessen darf: Im ersten Quartal
2019 galten 114 der 217 registrierten Angriffe auf Politiker der AfD. Sind
das die Modernisierungsgewinner, die Modernisierungsverlierer attackieren?
Meine Vermutung ist: Leute, die AfD-Vertreter gewaltsam attackieren,
glauben, sie haben es mit Nazis zu tun, die sich nur bürgerlich verkleiden.
Diese Leute handeln in der Überzeugung, dass man für die gute Sache der
Weltoffenheit auch mit Gewalt kämpfen muss. Ich vermute, diese Leute fühlen
sich durch die Liberalisierung der Mehrheitsgesellschaft zwar bestärkt in
ihrem Tun. Und dennoch unterscheidet sie etwas Entscheidendes von der
Mehrheit der weltoffenen Bürgerinnen und Bürger. Mit ihrer Gewalt höhlen
sie selbst zentrale Grundwerte der Demokratie aus.
Wie kann man die Repräsentanten des Staates schützen?
Die Feinde der offenen Gesellschaft treten meist sehr aggressiv auf, von
links wie von rechts. Daher stehen die Institutionen des demokratischen
Staates in der Pflicht, den Amtsträgern beizustehen. Erinnern wir uns an
die Grünen-Politikerin Renate Künast, die in den sozialen Netzwerken übel
beleidigt wurde, aber vor dem Landgericht Berlin scheiterte. Offenbar gibt
es hier einen Bedarf nach Gesetzesänderung. Deswegen ist das Parlament
aufgefordert, Regeln zu beschließen, die solche Angriffe verhindern. Mir
kommt da der Begriff der „streitbaren“ oder „wehrhaften Demokratie“ in …
Sinn…
Ja, der stammt vom Soziologen Karl Mannheim.
Ach ja. In diese Richtung geht doch, was unser Innenminister gerade macht:
[2][Der will das Bundesamt für Verfassungsschutz und das Bundeskriminalamt
aufstocken], um den Rechtsextremismus effektiver bekämpfen zu können. Das
ist ein wichtiger Teil der wehrhaften Demokratie. Ob das reicht, muss man
aber immer wieder neu prüfen.
31 Dec 2019
## LINKS
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[2] /Kampf-gegen-Rechtsextremismus/!5650896
## AUTOREN
Dorian Baganz
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