| # taz.de -- 90. Geburtstag von Jürgen Habermas: Die großen Kämpfe der Theorie | |
| > Wo Habermas wirkte, gab es Streit. Seine Philosophie, die auf Vernunft | |
| > und Argumente setzt, entstand inmitten schlechter Laune und böser | |
| > Absicht. | |
| Bild: Ein streitbarer Intellektueller, der keinem Disput aus dem Weg ging: Jür… | |
| Wenn Jürgen Habermas am 18. Juni seinen 90. Geburtstag feiert, wird es | |
| viele Ehrungen und manche Schmähungen geben. Habermas war, seitdem er 1953 | |
| mit einer Kritik am heimlichen König der Philosophie Martin Heidegger | |
| öffentlich sichtbar wurde, ein streitbarer Intellektueller, der keinem | |
| Disput aus dem Wege ging – ob über den Positivismus, die beste | |
| Sozialtheorie oder den Platz von Auschwitz in der deutschen Geschichte. | |
| Habermas war und ist ein Denkraumöffner und Stichwortgeber ohne Gleichen, | |
| der mindestens so viel Aggression wie Bewunderung auf sich gezogen hat. An | |
| Habermas rieben sich früher scholastische Links-Adorniten und deutsche | |
| Nationalkonservative, heute beschimpfen ihn Popliteraten und rechte | |
| Kulturkämpfer. | |
| Womöglich hängt die ungeheure Produktivität des Jürgen Habermas mit dieser | |
| Streitgeschichte zusammen. Und umgekehrt die vielen Streits mit der enormen | |
| Geschwindigkeit, mit der sich Habermas immer weiter entwickelt hat, während | |
| andere noch darum bemüht waren, seine letzten Schritte nachzuvollziehen. In | |
| jedem Fall sind Streit und Denkleistung ein Paar in der Vita von Habermas. | |
| Drei Scheidungen im Lebenslauf des Geburtstagskinds beleuchten das: vom | |
| Institut für Sozialforschung 1959, von der Frankfurter Universität 1971 | |
| und vom Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der | |
| wissenschaftlich-technischen Welt in Starnberg 1981. | |
| 1956 wurde der gerade von dem ehemaligen Nationalsozialisten Erich | |
| Rothacker promovierte 27-jährige Philosoph Assistent von Theodor W. | |
| Adorno am Institut für Sozialforschung. Er wäre auch nach Frankfurt | |
| gelaufen, wenn es nötig gewesen wäre, um dort bei einem Remigranten | |
| Soziologie zu lernen. Habermas suchte etwas Neues und vom | |
| Nationalsozialismus Unbelastetes, was es in der deutschen Philosophie zehn | |
| Jahre nach dem Krieg kaum zu finden gab. Adorno hielt große Stücke auf ihn. | |
| Max Horkheimer hingegen war der junge Philosoph, der sich für die | |
| Aktualisierung von Marx und für eine Einheit von Theorie und Praxis | |
| interessierte, nicht geheuer. | |
| ## Horkheimer in Rage gegen Habermas | |
| Habermas hatte 1957 in der Philosophischen Rundschau einen großen | |
| Literaturbericht zur philosophischen Diskussion um Marx und den Marxismus | |
| veröffentlicht. Darin hatte er als Apriori der marxistischen Philosophie | |
| benannt, dass sie eine Einheit von kritischer Theorie und revolutionärer | |
| Praxis anstrebe. Das brachte den Urvater der Kritischen Theorie in Rage, | |
| der sich offensichtlich an seine Frühschriften erinnert fühlte. Horkheimer | |
| wünschte sich in einem Brief an Adorno nichts weniger, als dass der | |
| „dialektische Herr H.“ die Philosophie in Zukunft besser woanders aufhebe. | |
| Er hielt den „begabten“, aber „eitlen“ Mitarbeiter für historisch blin… | |
| „Selbst in den Jahren, während der Nationalsozialismus heraufzog, während | |
| des Dritten Reiches, wussten wir um die Vergeblichkeit des Gedankens an | |
| Rettung durch Revolution. Sie heute hier als aktuell zu verkünden, […] kann | |
| nur den Geschäften der Herren im Osten Vorschub leisten.“ Für Horkheimer | |
| war vielmehr der Rest der bürgerlichen Zivilisation zu verteidigen, „in der | |
| der Gedanke individueller Freiheit und der richtigen Gesellschaft noch eine | |
| Stätte hat“. Nach Auschwitz war für ihn an eine gesellschaftliche | |
| Verwirklichung von Vernunftphilosophie nicht mehr zu denken. | |
| Habermas erfuhr von Horkheimers Vorbehalten erst in den 1970er Jahren, aber | |
| er muss sie gespürt haben. Trotz der Rückendeckung von Adorno kündigte er | |
| 1959 seine Stelle im Institut, beschaffte sich ein selbstständiges | |
| DFG-Stipendium, habilitierte sich mit der später zum Klassiker werdenden | |
| Schrift „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ beim Marburger | |
| Politikwissenschaftler Wolfgang Abendroth, dem „Partisanenprofessor im Land | |
| der Mitläufer“, und wurde außerordentlicher Professor für Philosophie bei | |
| der Heidelberger Konkurrenz um Hans-Georg Gadamer. 1965 dann kehrte | |
| Habermas nach Frankfurt zurück – als Nachfolger und auf ausdrücklichem | |
| Wunsch Horkheimers, der ihn nun für den „meistversprechenden | |
| Intellektuellen“ hielt, auf dem Lehrstuhl für Philosophie und Soziologie. | |
| Beim zweiten Drama waren die Rollen genau andersherum verteilt. Professor | |
| Habermas fand die zwischen 1967 und 1969 rebellierenden Frankfurter | |
| Studenten um den SDS zu links und auf unverantwortlichem Weg. Die Jahre | |
| zuvor hatte er sie in ihren hochschulpolitischen Aktivitäten und ihrer | |
| Forderungen nach Drittelparität in den universitären Gremien unterstützt. | |
| ## Die Linke antwortete Habermas durchaus unfreundlich | |
| Doch auf einem Kongress im Juni 1967 in Hannover, unmittelbar und | |
| anlässlich der Ermordung von Benno Ohnesorg, warnte er im Anschluss an eine | |
| pathetische und Aktionen fordernde Rede von Rudi Dutschke vor | |
| „Linksfaschismus“, worunter er eine voluntaristische Rhetorik verstand, die | |
| auf Losschlagen ziele. Nach den Turbulenzen während des „aktiven Streiks“ | |
| an der Frankfurter Universität im Winter 1968/69, inklusive der Besetzung | |
| des Soziologischen Seminars und des Instituts für Sozialforschung samt | |
| polizeilicher Räumung, polemisierte Habermas gegen „die Scheinrevolution | |
| und ihre Kinder“. Insbesondere die „Wahnvorstellungen“ des „Agitators“ | |
| Hans-Jürgen Krahl nahm er ins Visier, und auch den „Mentor“, seinen | |
| Assistenten Oskar Negt, und den „Harlekin“, nämlich Hans Magnus | |
| Enzensberger, sparte er nicht aus. Die Linke antwortete Jürgen Habermas, | |
| von Negt organisiert, durchaus unfreundlich. | |
| Als Adorno im Sommer 1969 nach einem Herzinfarkt starb, standen die Zeichen | |
| auf Trennung von Frankfurt. Adornos große Schar an Schülern forderte einen | |
| Nachfolger für den Verstorbenen, der die Kritische Theorie unberührt im | |
| Geiste Adornos fortführe. Habermas dagegen wollte kein Pfingstfest oder | |
| eine Berufung nach Erbfolge, sondern einen Philosophen mit einem Niveau, | |
| das Adorno angemessen sei, nämlich Leszek Kołakowski, was scheiterte. | |
| Seine Textproduktion wurde indes von den öffentlichen Kämpfen keineswegs | |
| beeinträchtigt. In die Frankfurter Zeit fallen brillante Aufsätze wie | |
| „Erkenntnis und Interesse“ (1965), „Technik und Wissenschaft als Ideologi… | |
| (1968) oder „Wozu noch Philosophie?“ (1971). Nach monatelangem Tauziehen | |
| floh Habermas vor den dauerrebellierenden Studenten der Frankfurter Schule | |
| nach Starnberg an das von Carl Friedrich von Weizsäcker gegründete MPI, wo | |
| er Ko-Direktor wurde und finanzielle Möglichkeiten und Freiheiten hatte, | |
| von denen ein Universitätsprofessor nur träumen konnte. | |
| Das Institut war von Beginn an umstritten, vor allem, weil es | |
| politikbezogene Forschung versprach. Der Physiker von Weizsäcker war eine | |
| sichtbare Figur der Friedensbewegung, Habermas galt als neomarxistischer | |
| Linker, zumal in Bayern. Seine Frau Ute Habermas musste erleben, wie Eltern | |
| dagegen protestierten, dass sie Lehrerin an einer Starnberger Schule wurde. | |
| Dem Sozialphilosophen selbst wurde eine Honorarprofessur an der Münchner | |
| Ludwig-Maximilians-Universität verweigert, was eigentlich eine Formsache | |
| für einen MPI-Direktor gewesen wäre. | |
| ## Eine Theorie, die auf Vernunft setzt | |
| Franz Josef Strauß (vor 1945 Nationalsozialistisches Kraftfahrkorps, danach | |
| BMW und CSU) und Alfred Dregger (vor der Kapitulation NSDAP, dann | |
| CDU-Stahlhelm) trommelten im Deutschen Herbst gegen die Frankfurter Schule | |
| als Brutstätte des Linksterrorismus, der marxistischen Unterwanderung der | |
| Gesellschaft und der Zersetzung der christlichen Familie. Institutsintern | |
| gab es Friktionen, vor allem zwischen den jeweiligen Mitarbeiterstäben der | |
| Direktoren. Im April 1981 trat Habermas zurück, das MPI wurde mit einem | |
| Knall geschlossen, und er kehrte nach Frankfurt zurück. | |
| Während dieser zum Desaster führenden Querelen und übler Kampagnen hatte | |
| Habermas sein philosophisches Hauptwerk, die „Theorie des kommunikativen | |
| Handelns“ geschrieben. Diese Theorie setzte ganz auf Vernunft und das | |
| bessere Argument, war jedoch inmitten von schlechter Laune und böser | |
| Absicht entstanden. Doch keine Hegel’sche List war hier am Wirken, sondern | |
| der unbändige Wille und die uferlose Befähigung eines Philosophen, sich | |
| immer weiter zu entwickeln, Neues zu erlernen, die Komplexität weiter zu | |
| steigern. | |
| Oder anders, in den Worten Samuel Becketts ausgedrückt: Wieder versuchen. | |
| Wieder scheitern. Besser scheitern. | |
| 18 Jun 2019 | |
| ## AUTOREN | |
| Jörg Später | |
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