# taz.de -- Identitätspolitik bei Rechten: Selbstachtung gegen Identitätsunfug | |
> Identität ist kompliziert und zusammengesetzt, aber auch wunderbar. | |
> Etwas, das wir nicht den rechtsradikalen Verbrechern überlassen dürfen. | |
Bild: Den Rechten nicht den Raum überlassen | |
Von [1][ganz rechts] bis in die politische Mitte hinein und wieder zurück | |
geistert seit einigen Jahren ein Begriff durch die politischen Programme | |
und die Mediendiskussionen; ein Begriff, der eigentlich aus der Psychologie | |
und Sozialpsychologie stammt und dort erst in den späten 1950er und 1960er | |
Jahren aufgekommen ist: Alle reden von „Identität“ und tun so, als wüssten | |
sie, was das ist. Demagogen betätigen sich als Hobbypsychologen und | |
Experten für die Heilung von Großgruppen, deren Identität angeblich bedroht | |
ist und die dringend nach einem Retter verlangen. | |
Mit das Ärgste sind die Auftritte von Viktor Orbán im Namen der | |
„ungarischen Identität“ und des „christlichen Erbes“. Da die Ungarn im… | |
weniger werden und auswandern und weil Migranten ferngehalten werden | |
müssen, wurde ungarischen Müttern eine Geburtsprämie versprochen: ein | |
günstiger Kredit von 30.000 Euro, der ab dem dritten Kind nicht mehr | |
zurückgezahlt werden muss. Die Vermischung mit Einwanderern, welche der als | |
Jude markierte George Soros und der Präsident der Europäischen Kommission, | |
Jean-Claude Juncker, angeblich ins Land holen wollen und der somit drohende | |
„Bevölkerungsaustausch“ werden zum großen Horror stilisiert. Über die | |
Politiker in Brüssel sagt Orbán: „Sie schaffen Nationen mit gemischten | |
Rassen.“ | |
Orbáns Konzept entspricht einerseits dem von rechts propagierten | |
„Ethnopluralismus“, der illusionären Idee, dass die verschiedenen Völker … | |
Europa und der Welt mit ihrer jeweiligen kulturellen Identitäten am besten | |
getrennt nebeneinander leben sollen. Die Kritik an der Rassenmischung | |
erfüllt nun schon ganz offensichtlich den Tatbestand des Rassismus. | |
Rassismus ist ein Gewaltprogramm. Und der sogenannte „Ethnopluralismus“ | |
läuft letztlich genau auf Gewalt hinaus. | |
Überall in Europa sind die [2][Identitätspolitiker] unterwegs. In Bayern | |
und Italien wurden auf Anweisung von Söder und Salvini Kreuze aufgehängt, | |
obwohl die Kirchenvertreter das gar nicht wollten. Frau Le Pen fuhr im | |
letzten Wahlkampf eine Kampagne, die von der taz mit „Identität, Identität, | |
Identität“ betitelt wurde. Boris Johnson versprach vor der | |
Brexit-Abstimmung den Engländern vollmundig eine großartige neue Identität. | |
## Identitäre und Göring | |
In Deutschland und Österreich sind die „Identitären“ besonders aktiv, um | |
ein „Europa der Völker“ und die Rettung des Abendlandes durchzusetzen. | |
Spezialisiert auf Happenings, mit einem teilweise intellektuellen Habitus | |
und angeblich gewaltfrei treiben sie die rechten Parteien und Regierungen | |
vor sich her. In Chemnitz, wo gegen Migranten und Juden gehetzt wurde, | |
marschierten sie in der ersten Reihe. Dass Österreich Ende 2018 nicht dem | |
UN-Migrationspakt beitrat (und noch einige Staaten mit sich zog), ist vor | |
allem der beharrlichen Lobbyarbeit der Identitären im Verein mit der AfD | |
und der FPÖ zu verdanken. | |
Sie sehen sich als tapfere Krieger gegen die multikulturelle Bedrohung der | |
Völker Europas und vergleichen sich mit den 300 Spartanern, die sich 480 | |
vor Christus an den Thermopylen für Griechenland und Europa opferten. „Wir | |
sind die Bewegung, die lieber die Thermopylen wählt als die Schlaffheit und | |
die Selbstverleugnung.“ Göring hatte die sterbenden Soldaten in Stalingrad | |
mit den Spartanern verglichen. | |
Die Identitären [3][drohen unverhohlen mit Gewalt]: „Glaubt nicht, dies ist | |
nur ein Manifest. Es ist eine Kriegserklärung. Ihr seid von gestern, wir | |
sind von morgen.“ Als im Winter 2013 eine Gruppe von Flüchtlingen als | |
Protest gegen ihre Behandlung in der Wiener Votivkirche campierte, | |
witterten die Identitären den Beginn der Invasion und riefen unter dem | |
Motto „Thermopylen in Wien“ zur Gegenbesetzung auf. | |
## Identität in den Mülleimer befördern? | |
Die rechten Identitätspolitiker verstehen sich immer auch als männliche | |
Beschützer der von den Fremden bedrohten „Kinder und Frauen“. Vor dem | |
ersten Aufmarsch in Chemnitz machte das Gerücht die Runde, dass zwei | |
deutsche Männer ermordet worden seien, die eine Frau vor der Vergewaltigung | |
durch Ausländer schützen wollten. Die westlichen Männer können als | |
Beschützer nun endlich etwas gegen den Plausibilitätsverlust der | |
traditionellen männlichen Rolle tun. | |
Interessant ist, dass ihre Kontrahenten von der gewalttätigen | |
dschihadistischen Fraktion wie in einem Spiegelbild ebenso als männliche | |
Frauenbeschützer auftreten. Die einen wollen die Frauen vor Übergriffen, | |
Zwangsverschleierung und sexueller Unterdrückung in der Familie schützen, | |
die anderen vor den westlichen „Halbmännern“, vor der pornografischen | |
Dekadenz und vor der Kultur des Ehebruchs. | |
Sollen wir nun, bei so viel Verwirrung und Missbrauch, das Konzept der | |
Identität überhaupt noch verwenden? Ist es nicht besser, es in den | |
Mülleimer zu befördern? Ich möchte sagen, nein. Für Identität kann man im | |
Deutschen getrost Selbstbewusstsein und Selbstgefühl einsetzen. Auch die | |
Selbstachtung und Selbstwirksamkeit gehören dazu. Die | |
Entwicklungspsychologie spricht vom sense of self, der sich schon beim | |
Säugling artikuliert. | |
## Die Entwicklung von Identität | |
Identität ist nicht etwas, was man hat oder nicht hat, sondern etwas | |
Kompliziertes, Zusammengesetztes, ein Prozess. Für das Verständnis der | |
biografischen Identitätsbildung ist immer noch die Pionierarbeit von Erik | |
H. Erikson ab Ende der 1950er Jahre wichtig. Alles beginnt mit dem | |
„Urvertrauen“, in dem sich günstigenfalls ein erster sense of self | |
herausbildet. In den folgenden Jahren werden Autonomie und Neugier auf die | |
Welt (auch auf die Sexualität) entwickelt, die man nicht mit Beschämung und | |
der Implantation von Schuldgefühlen hemmen sollte. Im Schulalter geht es um | |
die Entwicklung von Produktstolz („Werksinn“) und die Integration in eine | |
Gruppenidentität mit eigenen Regeln. | |
In der Adoleszenz tritt die berühmte „Ich-Identität“ auf den Plan, welche | |
die vergangenen und für die Zukunft anvisierten Teilidentitäten unter einen | |
Hut bringen und die im Alltag aufgefächerten Teilidentitäten kreativ | |
koordinieren muss. Dies können die Teilidentitäten als Schülerin, | |
Partygast, Verliebte, Sportlerin, Katholikin, Papas Liebling, Mitglied | |
einer Volksstanzgruppe, Haschischkonsumentin usw. sein. Die manchmal | |
überforderte Ich-Identität begleitet uns ein Leben lang. Und es kommen noch | |
mehr Rollen dazu. | |
Im Erwachsenenalter stellt sich die Frage, ob man etwas Sinnvolles | |
hervorbringt (materielle Produkte, Kinder) oder in Langeweile und | |
Entfremdung versinkt. Im Alter können wir uns vor uns selbst ekeln und | |
stellen uns die Frage, wo unser Bemühen um ein liebevolles und sinnvolles | |
Leben gelandet ist. Unbedingt zu unserer Identität gehören Tod und Sterben, | |
auch wenn wir diesen Umstand gerne konsumistisch überspielen. | |
## Der Wunsch nach Vereinfachung | |
Die rechte Identitätspolitik ist auch deshalb so erfolgreich, weil sie | |
Angst vor unserem sicheren Ende, vor dem drohenden „Aussterben“ von uns | |
allen, auf die „Migrantenflut“ verschiebt, die uns angeblich demnächst | |
überrollen wird. Auf den verschiedenen Stationen der Identitätsentwicklung | |
lernen wir, uns zu „dezentrieren“, unseren Egozentrismus über ein „stand… | |
in the boots oft the others“ zu ergänzen und zu erweitern und uns zwischen | |
„persönlicher“ und „sozialer Identität“ zu bewegen: sein wie kein and… | |
und sein wie alle anderen. Die rechte Rhetorik kennt überhaupt nur die | |
soziale Identität der Großgruppe. | |
Mit Habermas muss auch gesagt werden, dass wir in der modernen | |
pluralistischen Gesellschaft eine gemeinsame Identität oftmals nur finden | |
können in der Metakommunikation: über unsere Missverständnisse, über unsere | |
unterschiedliche Herkunft und über unseren immer imperfekten Versuch, die | |
verschiedenen Rollen und Teilidentitäten auszufüllen und zu koordinieren | |
(„Konsistenz in der Inkonsistenz“). | |
Wenn ich einige LeserInnen jetzt innerlich aufstöhnen höre: „Oh Gott – ge… | |
es nicht einfacher?“, dann ist das vielleicht eine Hilfe, uns genau in den | |
Reflex einzufühlen, den die rechte Identitätsrhetorik aufgreift und | |
benutzt. Es geht um den Wunsch nach Vereinfachung, nach | |
„Komplexitätsreduktion“ im modernen oder postmodernen Gefüge der Rollen u… | |
Teilidentitäten. | |
## Warnunghinweis für Identitäten | |
Identität und Selbstachtung entstehen aus sozialer Anerkennung, sie sind | |
„Selbst-Anerkennung“. Für die Erwachsenen gibt es dafür drei große Quell… | |
die Anerkennung im Recht, wo wir als freie und gleiche Rechtssubjekte | |
angesehen und auf keinen Fall zu Menschen zweiter oder dritter Klasse | |
gemacht werden wollen. Sodann die Anerkennung in der Arbeit, als | |
Teammitglied, dessen Beitrag gebraucht wird. Und schließlich die | |
Anerkennung in der Liebe, wo wir als ein nicht austauschbares sinnliches | |
Wesen mit all unseren Skurrilitäten und sexuellen Neigungen anerkannt | |
werden wollen. | |
Wer in einem oder mehreren dieser Bereiche scheitert oder gekränkt wird, | |
kann leicht auf das Anerkennungsversprechen der großen Identitätsbewegungen | |
hereinzufallen, die bekanntlich „jeden Einzelnen brauchen“. Das Gefährliche | |
ist nur, dass diese Art der Anerkennung mit der Verweigerung der | |
Anerkennung für die Fremden, mit der Aberkennung ihrer Rechte verbunden | |
ist. Oft genug auch mit der blutigen Verfolgung der zur Bedrohung erklärten | |
Gruppe: Man denke an die „ethnischen Säuberungen“ in Jugoslawien, an Ruanda | |
1994 und an den Bürgerkrieg in Sri Lanka, um nur einige Beispiele aus der | |
neueren Geschichte zu nennen. | |
Mit Amartya Sen kann man sagen, dass jeder, der heute das Programm einer | |
einheitlichen ethnischen oder religiösen Identität mit Vorranganspruch | |
(einer „solitarischen Identität“) unter die Menschen bringt, dazu | |
verpflichtet werden müsste, auf die Packung zu schreiben. „Dieses Produkt | |
kann erwiesenermaßen Menschen töten.“ | |
Gegen diesen Identitäts-Unfug hilft eine Wirtschafts-, Sozial- und | |
Familienpolitik, welche in den drei genannten Bereichen Anerkennung und | |
Selbstachtung, die „Begegnung auf Augenhöhe“ fördert und Privilegien | |
abbaut. Und wenn wir den Identitären oder anderen Propheten der ethnischen | |
Identität im öffentlichen Raum begegnen, können wir sie auffordern, uns | |
ihren großartigen Identitätsbegriff doch einmal in Ruhe zu erklären. Sie | |
werden sich blamieren. | |
19 Mar 2019 | |
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## AUTOREN | |
Klaus Ottomeyer | |
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