# taz.de -- Neues Buch „Identitätspolitiken“: Solidarität ist niemals fer… | |
> Soziale Kämpfe sind Kämpfe um Anerkennung – und andersherum: Dieses Buch | |
> tritt der Frontenbildung in der Identitätspolitik differenziert entgegen. | |
Bild: Aus der politischen Komplexität gibt es keinen großen Sprung, man muss … | |
Nach der Trump-Wahl und verstärkt nach dem Einzug der AfD in den Bundestag | |
ging eine These viral: Verantwortlich für beide Ereignisse ist [1][die | |
linke Identitätspolitik], der es nur noch um die Anerkennung kultureller | |
Differenzen geht und dabei „die wahren Probleme der Menschen“ – ergo die | |
soziale Frage – sträflich vernachlässigt. Mit Pseudothemen wie | |
genderneutralen Toiletten hätten Linksliberale die abgehängte | |
Industriearbeiterschaft vergrätzt, so der Tenor. | |
In ihrem Buch „Identitätspolitiken“ treten die Wiener Autor*innen Lea | |
Susemichel und Jens Kastner dieser, wie sie es nennen, | |
„anti-identitätspolitischen Frontenbildung“ argumentativ entgegen. | |
Abgesehen davon, dass es auch schwarze und queere Arbeiter gibt, ist das | |
Lamento ahistorisch; als hätte es je die eine, unumstrittene linke | |
Identitätspolitik gegeben. Tatsächlich gab es immer schon eine Vielzahl von | |
identitätspolitischen Ansätzen. Deren geschichtliche und theoretische | |
Grundlagen leuchten Susemichel und Kastner gut lesbar aus, das | |
Anschauungsmaterial reicht vom Austromarxismus bis zu aktuellen | |
Genderthemen. | |
Während derzeit, oft in demagogischer Absicht, kulturelle Differenz und | |
universale Gerechtigkeit zu unvereinbaren Gegensätzen hochdramatisiert | |
werden, zeigen Susemichel und Kastner, dass soziale Kämpfe immer zugleich | |
identitätspolitische Kämpfe waren – und vice versa. Schon die klassische | |
Arbeiter*innenbewegung war für sie ein identitätspolitisches Projekt, das | |
durch kulturelle Praktiken, wie etwa – kein Witz – den Übergang vom | |
„zerstörerischen Schnaps“ zum „geselligen Bier“, politischen Willen fo… | |
Genauso war jede linke Identitätspolitik, die für die Autor*innen den Namen | |
verdient, ein Kampf ums Ganze. Exemplarisch zeigen sie diese „egalitäre, | |
universelle Dimension“ an der „Black Lives Matter“-Bewegung auf: „Schwa… | |
Leben sollen nicht etwa mehr zählen oder anders gezählt werden, sondern | |
einfach so zählen wie alle anderen auch.“ Zugleich zeigt „Black Lives | |
Matter“ das unentrinnbare Paradox jeder Identitätspolitik. Sie muss sich, | |
um Handlungsfähigkeit zu ermöglichen, positiv auf eben die | |
Fremdzuschreibung (als schwarz, schwul, weiblich etc.) beziehen, die | |
Grundlage der eigenen Diskriminierung ist. | |
Um das abschätzige Sprechen über Identitätspolitik als ideologisch zu | |
kontern, sind die innerhalb der jeweiligen Communities geführten Debatten | |
erhellend. Schon im Feminismus oder in der antikolonialen Bewegung waren | |
politische Aktivist*innen versucht, die innere Spannung zwischen | |
Universalismus und kultureller Differenz einseitig aufzulösen: durch die | |
kulturessenzialistische Einschließung ins Identitäre oder durch die Flucht | |
in eine vulgärmarxistische Eigentlichkeit, die jede Unterdrückung qua | |
kultureller oder sexueller Differenz zum Nebenwiderspruch herabgewürdigt | |
hat. | |
## Ineinander verwobene Diskriminierungsformen | |
Susemichel/Kastner machen deutlich, dass es keinen archimedischen Punkt der | |
Unterdrückung gibt, auch wenn die Sehnsucht danach gerade jetzt groß sein | |
mag. Viel zu sehr sind die unterschiedlichen Diskriminierungsformen | |
ineinander verwoben, als dass es einen Generalschlüssel geben könnte. Was | |
heute unter [2][dem Konzept der Intersektionaliät] diskutiert wird, heißt | |
in diesem Sinne, dass sich etwa in einer schwarzen, lesbischen Frau mehrere | |
Diskriminierungen überkreuzen. Aus dieser Komplexität gibt es keinen großen | |
Sprung, man hat sich auf den „Mehrfrontenkampf“ einzulassen. | |
Bei der Betrachtung aktueller Identitätspolitiken äußern die Autor*innen | |
eine solidarische, aber unmissverständliche Kritik an der Inflation von | |
kulturellen und sexuellen Kleinstdifferenzen sowie an den erbitterten | |
Gegnern kultureller Aneignung. Sie erkennen darin eine selbstreferentielle | |
„Individualisierung von Identität“, da oft persönliche Betroffenheit zum | |
alleinigen Kriterium für legitimes Sprechen erklärt würde. | |
Damit werde die Möglichkeit geleugnet, sich von der prägenden | |
Dominanzkultur zu distanzieren und sich mit anderen solidarisch zu zeigen. | |
Zudem tendiere der Überschuss an Identitäten dazu, strukturelle Gewalt zu | |
nivellieren und Diskriminierungserfahrungen leichtfertig gleichzusetzen. | |
Eine „lookistische“ Abwertung qua Aussehen ist eben etwas anderes als die | |
Konfrontation mit rassistischer Polizeigewalt. | |
## Politische Aufklärung | |
Die unendlichen Abweichungen dann aber im Namen einer imaginären | |
Gemeinsamkeit nicht zu artikulieren ist für die Autor*innen keine Option. | |
„Es gibt diese Differenzen, und sie sind gewaltig“, schreiben sie | |
lakonisch. Jede Identitätspolitik sollte diese grundlegende Differenz nach | |
innen (es gibt nicht „die Frau“, „den Arbeiter“ etc.) und nach außen | |
(andere berufen sich auch auf ihre Abweichung) anerkennen und als | |
konstruktives Merkmal bejahen. | |
Solidarität – für Susemichel und Kastner das zentrale Ziel linker Politik �… | |
setze diese Differenz gerade voraus, deshalb sei sie nie fertig, sondern | |
müsse immer wieder neu ausgehandelt werden. Mit wem ich eh schon „eins“ | |
bin, mit dem brauche ich mich nicht zu solidarisieren. | |
Während Identitätspolitik von Leuten wie dem [3][„Aufstehen“]-Vordenker | |
Bernd Stegemann als Elitenveranstaltung abgetan wird, betreiben Susemichel | |
und Kastner politische Aufklärung, indem sie sich konkrete Kämpfe mit all | |
ihren Widersprüchen genauer anschauen. Die Lage der Dinge lassen sie so | |
sowohl komplizierter als auch hoffnungsvoller erscheinen. | |
6 Jan 2019 | |
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## AUTOREN | |
Aram Lintzel | |
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