| # taz.de -- Nachruf auf Ernst Tugendhat: Sprachanalyse und Mystik | |
| > Der analytische Philosoph und Heidegger-Schüler Ernst Tugendhat ist | |
| > gestorben. Im Kern seiner Arbeit stand die Sprache, nicht das | |
| > Bewusstsein. | |
| Bild: Ernst Tugendhat – einer der wichtigsten deutschen Philosophen und öffe… | |
| Wer gegen Ende des 20. Jahrhunderts in Westdeutschland Philosophie | |
| studieren wollte – Adorno war 1969 gestorben, Max Horkheimer im Jahre 1973 | |
| – hatte im Wesentlichen die Wahl zwischen drei Paradigmen: der von Habermas | |
| erneuerten Kritischen Theorie, den von [1][Dieter Henrich] rational | |
| rekonstruierten Theorien des Deutschen Idealismus sowie einer kritisch | |
| gewendeten sprachanalytischen Philosophie; einer Philosophie also, die sich | |
| nicht mehr auf das menschliche Bewusstein, sondern auf die nur | |
| intersubjektiv verständliche Sprache und ihre Begriffe bezog. | |
| Einer ihrer hervorragendsten Vertreter, Ernst Tugendhat, ist am Montag im | |
| hohen Alter verstorben. Freilich ging es ihm seit jeher nicht nur um | |
| rational rekonstruierbare Formen kritischen Denkens, das sich vor allem in | |
| einer klaren, durch keinen Jargon überlagerten sprachlichen Form äußerte, | |
| sondern immer schon auch um die menschliche Endlichkeit und ihre – ja – | |
| mystischen Geheimnisse. | |
| So gab er bereits vor sechzehn Jahren – er war bereits siebenundsiebzig | |
| Jahre alt – der [2][taz ein ausführliches Interview, in dem es auch um die | |
| Frage nach der menschlichen Endlichkeit ging.] Angesprochen auf Äußerungen | |
| über die Angst vor dem Tod, antwortete er: | |
| „Den ersten Vortrag zum Tod habe ich mit 64 Jahren geschrieben. Ich war | |
| damals in Chile, allein, und hatte das Gefühl, dass ich nur noch den Tod | |
| vor mir habe. Aber vielleicht war ich sowieso für das Thema Tod offen, weil | |
| ich ja als Heidegger-Schüler angefangen habe, wo der Tod auch eine große | |
| Rolle spielt. Wenn ich mir vorstelle, dass ich nur noch kurze Zeit zum | |
| Leben habe, dann erschrecke ich. Nicht weil ich unbedingt weiterleben will, | |
| sondern weil ich finde, dass ich mich verzettelt habe und eigentlich ganz | |
| anders leben müsste.“ | |
| ## Existenzphilosophisches Denken | |
| Tugendhat, der jetzt hochbetagt in seinem Alterssitz in Freiburg im | |
| Breisgau verschieden ist, wurde noch vor dem Zweiten Weltkrieg, in der | |
| Zwischenkriegszeit, 1930, als Sohn einer wohlhabenden, assimilierten | |
| jüdischen Familie in Brünn geboren, einer Familie, die ob der | |
| nationalsozialistischen Einnahme Tschechiens zunächst in die Schweiz floh, | |
| um 1941 nach Venezuela überzusiedeln. | |
| Schon gegen Ende des Krieges – Tugendhat war damals gerade fünfzehn Jahre | |
| alt – las er auf Anregung seiner Mutter und seiner Tanten Martin Heideggers | |
| 1927 erschienenes Werk „Sein und Zeit“ – ein Werk, dessen | |
| existenzphilosophische Thematik sein ganzes weiteres Denken prägen sollte. | |
| Der phänomenologischen Philosophie zugewandt, studierte er in den USA und | |
| in Westdeutschland, nicht ohne sich auch um die Aufmerksamkeit des | |
| ehemaligen – in Freiburg lebenden und lehrenden – Nationalsozialisten | |
| Martin Heidegger zu bemühen; ihm gar widmete Tugendhat seine 1976 | |
| erschienenen „Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische | |
| Philosophie“. | |
| Tugendhats wissenschaftliche Karriere verlief wechselhaft: Er lehrte von | |
| 1966 bis 1975 in Heidelberg Philosophie, unterbrach seine Lehre jedoch ob | |
| der Studentenbewegung, um einem Angebot von Jürgen Habermas auf eine Stelle | |
| am „Max-Planck-Institut zur Erforschung der wissenschaftlich-technischen | |
| Welt“ in Starnberg zu folgen, wo er bis 1980 wirkte, um schließlich von | |
| 1980 bis 1992 an der FU Berlin zu lehren. Zudem war Tugendhat als | |
| Gastprofessor in Chile, Österreich und der Tschechoslowakei tätig, um von | |
| 2013 bis zu seinem Tode in Freiburg zu leben. | |
| ## Umgesetzte Moralbegründungen | |
| Freilich täuscht sich, wer Ernst Tugendhat lediglich als einen, wenn auch | |
| brillanten, Philosophen wahrnimmt; nein, Tugendhat war auch ein höchst | |
| engagierter öffentlicher Intellektueller, der die in seiner Philosophie | |
| ausgewiesenen Moralbegründungen auch praktisch, d.h. politisch umsetzen | |
| wollte. So ging es ihm nicht nur theoretisch um die Begründung der | |
| Menschenrechte, nein, er setzte sich gegen Ende des Kalten Krieges auch für | |
| ein atomwaffenfreies Europa ein und wirkte als Schirmherr der „Gesellschaft | |
| für bedrohte Völker.“ | |
| Sein politisches Engagement blieb nicht unumstritten: 1991 jedenfalls, als | |
| westliche Armeen das von Saddam Hussein völkerrechtswidrig besetzte Kuwait | |
| befreiten, erklärte er öffentlich, der irakischen Bedrohung des Staates | |
| Israel zum Trotz, dass dieser Krieg ungerecht sei. Mehr noch: Schon früh | |
| kritisierte Tugendhat die israelische Besiedelung des Westjordanlandes. | |
| Am Ende freilich kehrte Tugendhat mehr und mehr zu seinen philosophischen | |
| Anfängen zurück und bemühte sich um eine existenziell bedeutsame, wenn auch | |
| nicht religiös-konfessionelle Form der Mystik. So war es schließlich doch | |
| wieder die Frage nach dem denkenden Selbstverhältnis menschlicher | |
| Individuen, das ihn umtrieb – seinen frühen Plädoyers für ein nur | |
| intersubjektiv sprachliches Verständnis menschlicher Subjektivität zum | |
| Trotz. | |
| 14 Mar 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Micha Brumlik | |
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