# taz.de -- Theorie versus Empirie: Politische Vermessung der Welt | |
> Welche Frage ist wichtiger: Wie ist die Welt oder wie soll sie sein? | |
> Darüber streiten sich Politikwissenschaftler*innen an der Uni Leipzig. | |
Bild: Wie hält es die Uni Leipzig mit der Welt? | |
LEIPZIG taz | Die Kartons sind noch nicht ausgepackt, seine Stimme hallt | |
von den nackten Wänden wider. Der Neue, [1][Professor Ireneusz Pawel | |
Karolewski], hat sich noch gar nicht richtig einrichten können, gerade erst | |
ist er hier im Geisteswissenschaftlichen Zentrum der Universität Leipzig | |
angekommen. „Das ist noch eine Baustelle“, entschuldigt er sich. | |
Der karge Raum ist [2][Teil des Leipziger Instituts für | |
Politikwissenschaf]t, Karolewski ist seit Anfang des Monats hier Professor | |
für Politische Theorie und – ganz neu – für Demokratieforschung. Und doch | |
liefert er in Leipzig schon Stoff für einen heftigen Streit um die dortige | |
Politikwissenschaft und die Deutungshoheit der Lehre. | |
Die Politische Theorie ist eine der drei Grundpfeiler der | |
Politikwissenschaft – neben der Vergleichenden Regierungslehre und den | |
Internationalen Beziehungen. Fehlt eine dieser drei Säulen, ist das Studium | |
unvollständig. Manche würden sogar sagen: Ohne die Politische Theorie fehlt | |
der Politikwissenschaft das selbstkritische Korrektiv. Beobachter*innen | |
sehen nun genau das in Leipzig eintreten: eine Amputation der Politischen | |
Wissenschaften. Die spontane Reaktion in den Unifluren lautet: „Die | |
Politische Theorie in Leipzig ist tot.“ Manche sagen auch: Die Theorie in | |
den Sozialwissenschaften steht in ganz Deutschland unter Druck. | |
Das findet zum Beispiel der [3][Hamburger Politikprofessor Peter Niesen], | |
Sprecher der Sektion Politische Theorie in der Deutschen Vereinigung für | |
Politikwissenschaft. „Ich habe keine Kritik an der Besetzungsentscheidung, | |
das ist mir wichtig zu betonen“, sagt er: „Wohl aber an den doppelten | |
Anforderungen der Ausschreibung, die in der Tendenz zu einer | |
Entprofessionalisierung führen können, weil die Stelleninhaberinnen sich | |
weder in der Lehre noch in der Forschung vorrangig der Politischen Theorie | |
widmen können.“ | |
## Positivismusstreit schon seit den 1960er Jahren | |
Das Problem beginnt bereits mit dem Titel: „Politische Theorie und | |
Demokratieforschung“ soll einen Konflikt vereinen, der als | |
„Positivismusstreit“ seit den 1960er Jahren erbittert geführt wird. Dabei | |
stehen Empiriker*innen den Theoretiker*innen gegenüber. Erstere halten es | |
für möglich, Gesellschaft so messen und erklären zu können wie | |
Naturwissenschaften die Natur. Sie sehen nur das als „Wissen“ an, was sie | |
wahrnehmen und überprüfen können. Die Empirie will so Probleme erklären und | |
Lösungsansätze liefern. | |
Ihnen gegenüber stehen die Theoretiker*innen. Sie werfen den | |
Positivist*innen vor, sich die Welt messbar zu machen, und sehen dabei | |
wichtige Aspekte der Gesellschaft, die sich nicht in Statistiken oder | |
Interviews ausdrücken lassen, ausgeklammert. Oder einfach ausgedrückt: | |
Während sich die Empirie damit beschäftigt, was ist, fragt sich die | |
Theorie, was sein soll. | |
Eigentlich sind beide Seiten Kernbestandteile der Politischen- und | |
Sozialwissenschaften. Doch der Hamburger Niesen sieht die Theorie bedrängt, | |
wenn ihr zunehmend die Empirie aufgeladen wird. Seit der Nachkriegszeit sei | |
es Konsens gewesen, dass an jedem Politikinstitut mindestens eine Person | |
nur für die Theorie zuständig ist. In der neuen empirischen Anforderung wie | |
nun in Leipzig – aber auch in Stuttgart oder Konstanz – sieht der Professor | |
eine Verschiebung der Politikwissenschaft hin zur Empirie. Er sagt: „Die | |
sich spaltende Soziologie ist da ein aus meiner Sicht fragwürdiges | |
Vorbild.“ | |
Damit meint er, dass vor zwei Jahren eine Gruppe Empiriker*innen die | |
„Akademie für Soziologie“ gegründet hat – mit Schwerpunkt in quantitati… | |
Sozialforschung, dem statistikdominierten und drittmittelstarken Teil der | |
Soziologie. Vorsitzender ist der Leipziger Sozialforscher Holger Lengfeld, | |
der Gründungsaufruf stammt von seinem Institutskollegen Roger Berger, der | |
Vorsitzender der Berufungskommission der Leipziger Theorieprofessur war. | |
Karolewski, der neue Professor für Politische Theorie und | |
Demokratieforschung, sieht kein Problem in der Doppelbeschreibung seines | |
Jobs. In Sakko und weißen Sneakern lehnt er in seinem Bürostuhl und sagt: | |
„Theorie muss sich an der gesellschaftlichen Wirklichkeit messen. Sie muss | |
immer politische Anwendung finden oder anwendungsfähig sein.“ So weit, so | |
unstrittig. Doch er sagt auch: „Zur Politischen Theorie gehört automatisch | |
auch die Empirie, sonst ist es politische Philosophie.“ Überhaupt sehe er | |
die Politikwissenschaft den Sozialwissenschaften verpflichtet, nicht der | |
Philosophie: „Philosophie beschäftigt sich mit Philosophen. Das kann | |
faszinierend sein, hat aber nicht viel mit der politischen Wirklichkeit zu | |
tun.“ | |
## „Politikwissenschaft ist ein empirisches Fach“ | |
Natürlich sei es wichtig, sich mit Platon und anderen | |
Grundlagentheoretikern zu beschäftigen. „Aber das Ergebnis der Theorie muss | |
sich mit politischer Wirklichkeit beschäftigen. Deswegen sehe ich in der | |
Professurbezeichnung auch keinen Widerspruch: Eigentlich sollte das überall | |
so sein.“ Und er fügt hinzu: „Die Politikwissenschaft ist ein empirisches | |
Fach.“ | |
„Es ist ein Witz, das Ganze noch als Theorie zu bezeichnen“, sagt | |
[4][Nicolas Laible vom Fachschaftsra]t, der Studierendenvertretung des | |
Instituts. „Schon in der Ausschreibung der Professur tauchte das Wort | |
‚Theorie‘ genau einmal auf, und zwar in der Überschrift. Danach ging es nur | |
noch um Empirie.“ Dass die Berufungskommission unter vielen qualifizierten | |
Kandidat*innen mit Theorieschwerpunkt ausgerechnet den auswählen würde, der | |
die Theorie eher als Instrument für die Empirie begreift denn als Sinn an | |
sich, hätten die Studierenden gern verhindert. Dass sie ihre Interessen in | |
dem Verfahren nicht vertreten sahen, formulierten sie in einem | |
Beschwerdebrief ans Rektorat. | |
Laible sagt: „Durch diese Berufung ist die politische Theorie in Leipzig | |
tot.“ Zwar sei Karolewski für die Einführung in die klassische | |
Ideengeschichte – Platon, Aristoteles, Rousseau – sicherlich geeignet. | |
„Aber er ist eigentlich ein empirisch-qualitativer Forscher mit Schwerpunkt | |
Osteuropa.“ | |
## Konservativer, weißer Männerkonsens | |
Es gab Überlegungen, die Politische Theorie ganz abzuschaffen. „Ich glaube, | |
es fehlt etwas“, sagt auch die Politikstudentin Nele Scholz. Sie saß als | |
Studierendenvertreterin in der Berufungskommission, darf aber keine Details | |
nennen, das Verfahren unterliegt der Schweigepflicht. Das Ergebnis sieht | |
sie kritisch: „Es fehlt die Freiheit, nicht an empirische Zwänge gebunden | |
zu sein.“ Karolewski habe den Fokus auf Ideengeschichte und den | |
politisch-philosophischen Zugang nicht. | |
„Die Arbeitsteilung an den Instituten hat einen Sinn“, sagt Dieter Koop. | |
Der grauhaarige Mann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut, sein | |
Büro liegt nur einen Gang vom Raum des neuen Professors entfernt. Doch die | |
beiden scheint mehr als nur dieser Gang zu trennen. „Was Karolewski macht, | |
ist theoriegeleitete Empirie, keine politische Theorie“, sagt Koop. Auch er | |
war Teil der Berufungskommission. „Uns wurde signalisiert, dass das | |
Rektorat die Empirie in der Professur sehen will. Die völlig freie Hand | |
hatten wir da nicht“, sagt er. Details kann auch er nicht nennen. | |
Aber er sagt: „Es gab zwischendurch die Überlegung, die Professur für | |
Politische Theorie ganz abzuschaffen. Das war der Druck, unter dem die | |
Ausschreibung auch stand.“ In seinem Büro sagt Karolewski, die Kritik an | |
der veränderten Professur sei bei ihm noch nicht angekommen. Er freut sich | |
auf seinen neuen Job. Immerhin: Seine Mitarbeitenden bieten Seminare zu | |
Denker*innen außerhalb seines konservativen, weiß-europäischen Männerkanons | |
an. | |
Auch der Kritik an seinem Vorlesungsplan begegnet Karolewski mit | |
Zugeständnissen: Nachträglich hat er Judith Butler ins Programm aufgenommen | |
– als einzige weibliche Theoretikerin. „Ich habe gesehen, dass das | |
tatsächlich eine Schwachstelle war.“ Wie viel Theoriedebatte Karolewski am | |
Ende zulässt, wird sich zeigen. Das Semester hat gerade erst begonnen. | |
Transparenzhinweis: Die Autorin studiert selbst Politikwissenschaft an der | |
Universität Leipzig. | |
13 Nov 2019 | |
## LINKS | |
[1] https://www.sozphil.uni-leipzig.de/cm/powi/2019/10/01/prof-dr-ireneusz-pawe… | |
[2] https://www.uni-leipzig.de/ | |
[3] https://www.wiso.uni-hamburg.de/fachbereich-sowi/professuren/niesen/team/ni… | |
[4] https://www.wiso.uni-hamburg.de/fachbereich-sowi/professuren/niesen/team/ni… | |
## AUTOREN | |
Helke Ellersiek | |
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