# taz.de -- „Notes of Berlin“-Regisseurin über die Stadt: „Berlin bleibt… | |
> „Notes of Berlin“ erzählt von kleinen und großen Dingen. Regisseurin | |
> Mariejosephin Schneider darüber, warum nicht mehr so viele Menschen in | |
> die Hauptstadt wollen. | |
Bild: „Hallo Rawad melde dich, du wirst Vater“: Szene aus „Notes of Berli… | |
Selma ist schwanger. Als sie das in einem Café ihrer Mutter eröffnet, | |
mischt sich die gesamte anwesende Community ein – eine junge Frau | |
unterstützt sie und kritisiert die Bigotterie der türkischen Gesellschaft, | |
eine andere beschwört sie, auf ihre Mutter zu hören. Währenddessen klebt | |
ein handgeschriebener Zettel an dem Stromkasten vor einem Späti: „Rawad | |
melde dich, du wirst Vater“. | |
Rawad dagegen hat gerade einen neuen „Job“ begonnen, als Handydieb. Aber | |
nicht alle potenziellen Opfer lassen sich das gefallen. „Notes of Berlin“ | |
erzählt von wichtigen, sehr wichtigen, unmöglichen, unglaublichen und | |
nebensächlichen Dingen. | |
Wie flatternde rote Fäden lassen dabei authentische „Notes“, die in Berlin | |
allgegenwärtigen Suche-, Finde-, Tausche- und Kommentarzettel an | |
Stromkästen, Häuserwänden und Ampelsäulen, die vierzehn episodischen | |
Geschichten ineinanderfließen, bringen Motive zu einem anderen Zeitpunkt | |
wieder hoch und halten klassische (Großstadt-)Situationen fest, ohne je | |
aufgesetzt oder klischiert zu wirken. | |
Themen wie Einsamkeit und Schüchternheit kommen genauso zur Sprache wie | |
kulturelle Unterschiede, Geldnot oder der angespannte Wohnungsmarkt: Als | |
Rosa, eine echte Berlinerin, ein WG-Zimmer besichtigen möchte, muss sie | |
zunächst eine Nummer ziehen – ihre potenzielle designierte WG hat aus der | |
Situation eine lukrative Party gemacht und hält zur Aufnahmeprüfung in der | |
WG-Küche Hof, natürlich auf Englisch. Man nimmt 4 Euro für einen Wodka auf | |
Eis … | |
taz: Mariejosephin Schneider, wie kam es zu Ihrem Film? | |
Mariejosephin Schneider: Die Idee stammt vom gleichnamigen Blog und dem | |
dazugehörigen „Notes of Berlin“-Buch, herausgegeben von Joab Nist. Ich war | |
auf Stoffsuche, und beim Lesen der Zettel gingen bei mir eine Menge Räume | |
auf. Ursprünglich wollte ich die vielen kleinen Geschichten von | |
unterschiedlichen Menschen schreiben lassen, in einer Art „Film Lab“, eine | |
Idee, die den beteiligten Redaktionen sehr gefallen hat. Das hat aber nicht | |
immer funktioniert. Außerdem wollte ich eigentlich nur unbekannte | |
Schauspieler und Schauspielerinnen besetzen. Jetzt ist es eine Mischung. | |
Wir haben dann jedenfalls aufgrund der vielen Geschichten wahnsinnig lange | |
sehr viele Leute gecastet. Und da der Blog so populär ist, hatten viele | |
Menschen ganz genaue Erwartungen an den Film geknüpft. Das war also gar | |
nicht so einfach. | |
Wie ist aus den Zetteln und ihren Geschichten ein Film geworden? | |
Wir haben etwa 6.000 Zettel gesichtet. Zunächst fragten wir uns, ob man | |
überhaupt ohne klare Hauptfigur nur in Episoden erzählen kann. Die Zettel | |
sollten die Protagonisten sein, die alles verbinden. Es gab zudem wenig | |
Geld, wir konnten viele Geschichten gar nicht realisieren. Und die | |
Produktionszeit war lang: Wir hatten schon 2015 angefangen, den Dreh aber | |
zwischendurch mehrmals unterbrochen. Ich habe mittendrin auch noch ein Kind | |
bekommen. | |
Was ist Ihre Lieblingsepisode? | |
Im Kino funktioniert jedenfalls die Geschichte mit Rosa sehr gut, die ein | |
WG-Zimmer sucht, und dafür vor einer Art internationalem WG-Tribunal | |
vorsprechen muss. Und die mit Alex, gespielt von Tom Lass, der einen Hasen | |
in seinem Haus findet und darüber die Nachbarn kennenlernt, kommt auch | |
immer gut an. Ich selbst mag vor allem einen Moment sehr gern: Wenn der | |
Ausflugsdampfer vorbeifährt und der Protagonist, der sich gerade mit einem | |
herrenlosen Hund angefreundet hat, reißt die Arme hoch. | |
Es gibt aber auch eine weniger heitere, tragische Episode: Eine Frau hat | |
ihren erwachsenen Sohn verloren. | |
Wir haben darüber nachgedacht, inwiefern die Geschichten emotional in alle | |
Richtungen ausschlagen können, wie intensiv sie sein dürfen. Die Geschichte | |
mit der Mutter, deren Sohn ums Leben gekommen ist, war eine doppelte | |
Herausforderung: Sie ist sehr traurig, und wir mussten sie aus Tongründen | |
nachsynchronisieren lassen. Aber Andrea Sawatzki als Mutter hat das | |
großartig gemacht. | |
Nach welchen Kriterien haben Sie Ihr Personen- und Geschichtenkarussell | |
ausgesucht? | |
Genaue Kriterien gab es keine, der Drehbuchautor Thomas Gerhold und ich | |
haben unheimlich viel recherchiert und geschrieben. Sehr früh hatte ich die | |
Episode mit der türkischstämmigen Selma, die von Rawad schwanger ist und | |
das mit ihrer Mutter und der gesamten Community bespricht, und auch die mit | |
dem „Man with a Van“, einem Mann, der in seinem Auto lebt, und eine Frau | |
kennenlernt, die ihn dann sitzen lässt, als sie in seinem Ausweis sein | |
Alter liest. | |
Ältere Figuren, beispielsweise Rentner aus Mariendorf, kommen sonst eher | |
nicht vor … | |
Stimmt, aber es sind eine Menge Geschichten weggefallen, wir hätten noch | |
viel Material gehabt. | |
Macht die lange Drehzeit den Film auch zu einem Dokument eines | |
verschwundenen oder zumindest veränderten Berlins? | |
Ich hoffe es. Wir wollten dieses Berlin auch dokumentieren. Kamerafrau | |
Carmen Treichl hat Motive ausgewählt, die die Stadtatmosphäre einfangen. | |
Die Stadt hat als eine Figur mitgespielt. | |
Sie sind gebürtige Berlinerin und kennen manche Situationen wahrscheinlich | |
aus eigener Erfahrung? | |
Für die Geschichte zählen ja weniger die Orte, sondern eher die Erfahrungen | |
und Gefühle der Menschen, die dort entstehen. Manches wie die Wohnungssuche | |
ist tatsächlich immer schlimmer geworden, als wir den Film drehten. Wenn | |
man jetzt seine Wohnung verliert, kann man die Stadt eigentlich verlassen. | |
Man findet keine bezahlbare mehr. Wo und wie Menschen wohnen, spielt bei | |
vielen in dem Film eine Rolle, einer lebt im Van, eine ist nur zu Besuch, | |
einer geht nie raus … | |
Wie wird sich Berlin weiterentwickeln, wie sehr können junge Menschen die | |
Stadt überhaupt mitgestalten? | |
Ich kann mir vorstellen, dass Berlin nicht mehr so attraktiv bleibt und | |
nicht mehr so viele Menschen nach Berlin ziehen wollen. Von Ideen wie dem | |
Mietendeckel habe ich mich zum Beispiel eher verarscht gefühlt. Die Idee | |
war ja richtig, aber es war klar, dass die Eigentümer sich das nicht | |
gefallen lassen, dass das Geld zurückgezahlt werden muss. Das hat also | |
nichts gebracht. | |
5 Sep 2021 | |
## AUTOREN | |
Jenni Zylka | |
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