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# taz.de -- Buch zu Motiven der Shoah: Logiken des Massenmords
> Ein neues Buch untersucht die Verfolgung und Ermordung der Juden während
> des Zweiten Weltkriegs – von Norwegen bis nach Griechenland.
Bild: Hungerpolitik und Massenmord an den Juden hing in der Strategie der Nazis…
Die Vernichtung der europäischen Juden wird zu Recht als ein singuläres
Ereignis dargestellt. Zwischen 1941 und 1945 ermordeten die Nazis und ihre
Verbündeten etwa sechs Millionen Menschen. Ihre Pläne gingen weit darüber
hinaus. Der Historiker Christian Gerlach, der vor allem mit seinen Studien
zur Massengewalt hervorgetreten ist, setzt den Holocaust in einen weiteren
Zusammenhang und fragt nach den Triebkräften.
„Der Mord an den europäischen Juden“ stellt die Judenverfolgung in einen
größeren Kontext als andere Werke. Gerlach untersucht den Zusammenhang
zwischen der Ökonomie und der Vernichtung, zwischen Kriegsführung,
Besatzung, ausländischen Akteuren, rassistischen Stereotypen. Er kommt
dabei zu dem Schluss, dass anscheinend konträre Interessen keineswegs immer
im Gegensatz zueinander standen.
Gerlachs gewichtiges Werk ist ein mit Fakten und Belegen geradezu
überbordendes Buch, das sich mit Kapiteln zur Verfolgung durch die
Deutschen und der Mitverantwortung von mit NS-Deutschland verbündeten
Staaten durch die Geschichte fräst. Die Einzelbeispiele gehen dabei in die
Hunderte, sie reichen geografisch von Norwegen bis nach Griechenland,
berühren die Inkohärenz der rassistischen NS-Ideologie ebenso wie die
unterschiedlichen Interessen der mit dem NS-Regime Verbündeten bis zu
Versuchen der Verfolgten zu überleben.
Dass es nicht die Juden allein waren, die entsetzlich unter dem Regime der
Nazis zu leiden hatten, ist keine neue Erkenntnis. Roma, Behinderte, ganze
Völker galten als „minderwertig“. Die selten gestellte Frage lautet, ob die
begangenen Morde in einem gewissen Zusammenhang zueinander stehen. Es
gelingt Gerlach, etwa die bewusste Tötung von etwa drei Millionen
sowjetischen Kriegsgefangenen und die Politik des Hungers im besetzten
Polen in Beziehung zur Vernichtung der Juden zu bringen.
## Entscheidung zum Mord lag oft bei Einzelnen
Dabei spielte ein doppeltes Primat der Nazis eine Schlüsselrolle: Nicht nur
sollten die eroberten Gebiete die Versorgung Deutschlands sicherstellen,
damit dort keine Unzufriedenheit entstand. Zudem war vorgesehen, dass sich
auch die Wehrmacht aus den Ressourcen der besetzten Länder selbst versorgen
sollte. Das NS-Regime sah dafür bedenkenlos den Mord an Millionen
sowjetischen Bürgern vor, und das zu einem Zeitpunkt, als der Massenmord an
den Juden noch nicht beschlossen war.
Diese Hungerpolitik, so Gerlach, begründete nicht den Judenmord, wohl aber
beschleunigte sie diesen. Den häufig zur Zwangsarbeit gepressten Juden kam
in diesem Zusammenhang die Rolle der in der NS-Logik „Überflüssigen“ zu,
deren Lebenserhaltung etwa im Warschauer Ghetto finanziell einen größeren
Aufwand bedeutete als deren Vernichtung.
Die Verfolgung der Juden, so Gerlachs nächste Schlussfolgerung, war weniger
von Regierungsinstanzen geprägt, als gemeinhin angenommen. Nicht nur gab es
keine zentrale Behörde zu deren Ermordung, häufig lag die Entscheidung auch
bei privaten Firmen, Wehrmachtsstellen oder einzelnen Verantwortlichen.
„NS-Gewalt beruhte nicht auf einer fabrikartigen Organisation“, schreibt
Gerlach. Er meint damit nicht die Massenmorde durch Giftgas, sondern teils
widersprüchliche bürokratische Entscheidungsprozesse, Rücksichtnahme auf
Verbündete und die wechselnde Kriegslage, die den Vernichtungsprozess
beschleunigen oder verlangsamen konnte.
Nicht nur die ideologischen Faktoren schwankten – als mitentscheidend
betrachtet Gerlach zu Recht die materiellen, gesellschaftlichen und
politischen Interessen in einem Riesenreich mit Protagonisten, die zum Teil
höchst unterschiedliche Interessen verfolgten. Die Frage, ob nun
ideologische oder wirtschaftliche Interessen am Ende wichtiger bei
Verfolgung und Massengewalt waren, erklärt der Autor für sinnlos, eben weil
beide Faktoren untrennbar miteinander verwoben waren. Gerlachs Verdienst
ist es, ein Beziehungsgeflecht zu entwirren, dessen Bedeutung in vielen
Studien zur Judenvernichtung zu wenig Beachtung gefunden hat.
## Gerlachs Sprache entbehrt jede Empathie
In manchen Schlussfolgerungen mag man die Thesen des Autors nicht teilen,
etwa wenn er ausführt, dass die Ermordung der Juden keinen Vorrang vor
anderen Zielen des NS-Regimes gehabt habe. Zum Beweis führt er die
bisweilen verschobenen Deportationszüge und die Tatsache an, dass diese
häufig, weil gegenüber der Versorgung der Front als unwichtig geltend,
besonders langsam unterwegs waren. Doch beides zeigt lediglich auf, dass
die Kriegslage einen gewissen Einfluss auf die Geschwindigkeit des
Massenmords haben konnte – mehr nicht. Ob ein Zug 1942 zwei oder sieben
Tage bis nach Sobibor unterwegs war, spielt keine Rolle. In beiden Fällen
wurden die Insassen ermordet.
Wirklich ärgerlich aber wird es, wenn es um die Sprache geht, in der dieses
Buch verfasst ist. Diese nur roh zu nennen, wäre fast schon eine
Untertreibung. Empathie mit den Opfern wecken zu wollen, scheint Gerlachs
Sache nicht zu sein. Beschreibungen einzelner Schicksale erspart sich
dieses Buch fast vollständig.
Zu Beginn erklärt der Wissenschaftler Gerlach, warum er auf Begriffe wie
Holocaust („religiöse Konnotation“) oder Schoah („Untertöne einer
Naturkatastrophe“) verzichtet. Bald darauf aber heißt es, es seien „nur“
(ohne Anführungszeichen) 11.000 Juden aus von Bulgarien annektierten
Gebieten deportiert worden. Dann ist ohne nähere Erklärung die Rede von
einer „Bruttosterberate“ in Belgien, Frankreich und den Niederlanden, der
„begrenzten Mordkapazität“ im Vernichtungslager Belzec, „Präventivmorde…
an Intellektuellen oder „realen Schauerschießungen“ im rückwärtigen
Heeresgebiet.
Dass deutsche Professoren häufig nur unzureichend mit Sprache hantieren
können, ist keine neue Erkenntnis. Angesichts dieses Themas aber ist es
mehr als nur eine lässliche Sünde.
4 Apr 2017
## AUTOREN
Klaus Hillenbrand
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