# taz.de -- Forschung zum Holocaust: Überzeugte Täter | |
> Band 6 der Quellenedition über „Die Verfolgung und Ermordung der | |
> europäischen Juden“ dokumentiert Erschießungen von Juden im Osten | |
> 1941/42. | |
Bild: Das Haus der Wannseekonferenz, 1942 wurde dort die Vernichtung der Juden … | |
Daniel Lotter war 1942 Bäcker in Fürth. Der Freimaurer und Christ | |
betrachtet das NS-Regime von Beginn an skeptisch. Er verehrte Bismarck und | |
verachtete die [1][Brutalität der Nazis] – allerdings war er nicht aktiv im | |
Widerstand. In seinen Tagebüchern notierte er erschrocken russische Siege | |
und begrüßte deutsche Kriegserfolge. | |
Am 22. Januar 1942 schrieb der Lebkuchenbäcker in sein Tagebuch: „Von Polen | |
kommen Nachrichten über unerhörte Grausamkeiten gegenüber den dortigen und | |
von Deutschland dorthin gesandten Juden. Die Zahlen der Getöteten und die | |
Einzelheiten, welche von Mund zu Mund weitergegeben werden, sind so | |
schrecklich, daß ich mich scheue, sie dem Papier anzuvertrauen. Ich kann es | |
nicht glauben, daß deutsche Menschen zu solchen Taten fähig sind. Wenn sie | |
wahr wären, würden sie als unauslöschlicher Schandfleck durch die | |
Jahrhunderte dem deutschen Volke anhängen.“ | |
Die Legende, dass die Deutschen in toto von den Vernichtungslagern nichts | |
ahnten, ist lange widerlegt. An den Morden und der erforderlichen Logistik | |
waren ja Tausende beteiligt. Auch die Deportationen von jüdischen Deutschen | |
aus dem Reich bekamen viele mit. Manche bereicherten sich an deren Habe. | |
Niemand ging offenbar davon aus, dass die Deportierten aus dem Osten | |
zurückkommen würden. Die NS-Führung verfolgte zudem eine riskante | |
Doppelstrategie. | |
Sie versuchte die konkreten Mordaktionen zu verheimlichen – und posaunte | |
gleichzeitig heraus, dass sie die Vernichtung der Juden unbedingt wollte. | |
Robert Ley, Führer der Deutschen Arbeitsfront, erklärte im Mai 1942 in | |
Amsterdam einem johlenden Publikum, dass es nicht genügt, „den Juden | |
irgendwo hinzubringen. Man muss sie vernichten, man muss sie ausrotten.“ | |
## Die Wannseekonferenz | |
Diese Dokumente sind in dem von Susanne Heim bearbeiteten sechsten Band der | |
Reihe „Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das | |
nationalsozialistische Deutschland 1933–1945“ abgedruckt. Skizziert wird | |
die Zeit von Oktober 1941 bis zum Frühjahr 1943 im Deutschen Reich und in | |
der besetzten Tschechoslowakei – also die Zeit, in der die industrielle | |
Vernichtung der Juden Anfang 1942 bei der Wannseekonferenz organisiert und | |
später durchgeführt wurde. | |
Aufschlussreich ist der Zeitpunkt der Tagebuchnotiz des Bäckers Lotter in | |
Fürth. Er schrieb dies am 22. Januar 1942, zwei Tage nach der geheimen | |
Wannseekonferenz und Monate bevor die Todeslager in Birkenau, Treblinka und | |
Sobibór in Betrieb gingen. Schon Anfang 1942 war neben Militärs und | |
Diplomaten, die über privilegierte Informationskanäle verfügten, vielen | |
anderen skizzenhaft bekannt, was Wehrmacht und SS im Osten taten. | |
Ein Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes der SS in Erfurt berichtete im | |
Frühjahr 1942, dass in der Bevölkerung „die tollsten Gerüchte“ über den | |
Osten kursieren. Die Juden würden in solchen Massen erschossen, dass sogar | |
„Angehörige der Erschießungskommandos Nervenzusammenbrüche bekämen“. | |
Schon im Herbst 1941, mehr als ein halbes Jahr bevor die Gaskammern fertig | |
waren, explodierte im Osten die Gewalt. Wehrmacht, SS und Einsatzgruppen | |
erschossen Hunderttausende Juden. Dafür brauchte es nicht unbedingt einen | |
Befehl von oben. | |
Heim weist darauf hin, dass Hitler noch im August 1941 die Vernichtung der | |
Juden erst nach dem Sieg über die Sowjetunion umsetzen wollte, im | |
September allerdings den Transport westeuropäischer Juden in den Osten | |
anordnete und damit die Gewalt eskalierte. Deutsche Juden wurden in Gettos | |
in Polen und Weißrussland deportiert – weil die überfüllt waren, ermordeten | |
SS und Einsatzgruppen polnische, baltische, weißrussische Juden noch | |
schneller. | |
## Die Wehrmacht | |
Ein eifriger SS-Führer in Riga ließ am 30. November 1941 mehr als tausend | |
Berliner Juden direkt nach ihrer Ankunft erschießen – und wurde wegen | |
Eigenmächtigkeit von SS-Führer Himmler zum Rapport bestellt. Himmler wollte | |
damals deutsche Juden noch nicht exekutiert sehen. Riga verdeutlicht, dass | |
die Vernichtung nicht in Fahrt kam, weil Hitler dies angeordnet hatte. Es | |
gab genug überzeugte SS-Führer und Wehrmachtsoldaten, die dem Führer | |
zuarbeiteten. | |
Die Dokumente zeigen ein System von Radikalisierungen und Entgrenzungen, | |
das durch den Überfall auf die Sowjetunion extrem beschleunigt wurde. Es | |
gab danach keine Maßstäbe mehr. Göring ließ im November 1941 einen | |
italienischen Diplomaten wissen, dass man in Russland „20 bis 30 Millionen | |
verhungern“ lassen werde. Unter Aufsicht der Wehrmacht – nicht der SS – | |
starben im Winter 1941 Hunderttausende gefangene Rotarmisten. Die | |
Erschießungen der Juden im Osten 1941/42 waren ein Teil dieser | |
Gewalteskalation. | |
Das zur Metapher für die Vernichtung geronnene Wort Auschwitz verdeckt | |
mitunter, dass der Massenmord früher begann und von Erschießungskommandos | |
exekutiert wurde. Die Dokumente zeigen das ganze Spektrum der Vernichtung. | |
Bäcker Lotter war eine Ausnahme. Nur in wenigen Tagebüchern von Deutschen | |
in diesen Jahren, so Susanne Heim, wurden die Deportationen der Deutschen | |
oder Informationen aus dem Osten erwähnt. Und wenn, dann eher am Rande. | |
30 Oct 2019 | |
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## AUTOREN | |
Stefan Reinecke | |
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