# taz.de -- Dokumentations-Werk des Holocaust: Frau Elly schreibt an die SS | |
> Die letzten Zeitzeugen des Holocausts sterben. Historiker sammeln | |
> Quellentexte, die den Alltag der Vernichtung der europäischen Juden | |
> dokumentieren. | |
Bild: Das Haus der Wannseekonferenz, 1942 wurde dort die Vernichtung der Juden … | |
Am 30. März 1933 schrieb der Münchener Privatlehrer Dr. Ackermann einen | |
Brief, von dem er sich viel erhoffte. "Ich bitte im Interesse so vieler | |
stellungsloser Privatlehrer auch gütigst den Boykott aller jüdischen | |
Privatlehrer in München, wo angängig, mit ins Auge zu fassen. Mir liegt als | |
Adresse vor: Dr. K. Löwenstein, München Elisabethstraße 13, der für das | |
Abitur vorbereitet. Besonders erlaube ich mir auch auf das private | |
Handelslehr-Institut der Frau Dr. Sabel in der Kaufingerstr. hinzuweisen. | |
Der Ehemann der Frau Dr. Sabel, welcher verstorben ist, soll, wie ich | |
erfuhr, auch Jude gewesen sein." | |
Dieser Brief ist nicht untypisch für die antisemitische Praxis nach Hitlers | |
Putsch. Der Nationalsozialismus war auch eine Bewegung von Intellektuellen | |
und hatte bei Studenten und Jungakademikern begeisterte Anhänger. Nach 1933 | |
bot sich die fabelhafte Chance, jüdische Lehrer, Professoren, Beamte, | |
Anwälte und Ärzte zu denunzieren, um an deren Jobs zu kommen. | |
Denunziationen gab es allerdings unabhängig vom der sozialen Stellung. Der | |
Kaufmann Fritz Lau und seine Frau Elly klagen 1935 in einem Brief an eine | |
SS-Zeitung, dass in einer Kolonie in der Berliner Hasenheide noch immer | |
Juden einen Garten haben. "Wir glauben den Namen des einen Juden mit | |
'Buttermilch' zu kennen. Aber auch eine andere Familie macht sich mit ihrem | |
Hund 'Sonja' sehr breit." Diese beiden Briefe finden sich als Dokumente 18 | |
und 179 in einem über 800 Seiten starken Buch, das einen abschreckenden, | |
aber zutreffenden Titel trägt: "Die Verfolgung und Ermordung der | |
europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945". | |
Dies ist der erste von 16 Bänden. Alle zusammen sollen die Geschichte des | |
Holocausts erzählen - nein, eher in streng chronologisch angeordneten | |
Quellen abbilden. | |
Das Projekt ist auf zehn Jahre angelegt. Es berichtet mit jenem "Pathos der | |
Nüchternheit" (Martin Broszat), das Zeithistoriker gerne für sich | |
reklamieren, davon, wie es gewesen ist: wie die Juden entrechtet und | |
enteignet, verfolgt und erschlagen wurden und wie ihre Vernichtung | |
organisiert wurde. Zu lesen ist im Originaltext, wie die Mörder die Tat | |
planten, wie die Opfer sie erlitten (darunter viele bislang nicht ins | |
Deutsche übersetzte Texte) und wie Zuschauer wie der Münchener Privatlehrer | |
Dr. Ackermann die Geschichte für sich zu nutzen wussten. | |
16 Bände. 800 Seiten. Nur Quellen. Es ist nicht zu leugnen, dass dieses | |
Unterfangen für Zeitgenossen, die gerade keine Karriere als Zeithistoriker | |
anpeilen, etwas Verstörendes hat. Kann man das lesen? Die überraschende | |
Erfahrung mit dem ersten Band ist: Ja, ebenso wie auch Walter Kempowskis | |
berühmte Dokumentesammlung "Echolot" lesbar ist. | |
Wir kennen die Geschichte des Nationalsozialismus. Und auch diese Bände | |
werden keine neue bahnbrechende Perspektive eröffnen. Dieses Projekt, so | |
die Herausgeber im knappen Vorwort, ist möglich, weil es einen recht | |
breiten Konsens der Forschung über den Holocaust gibt. | |
Der Jahrzehnte währende Streit zwischen "Funktionalisten" wie Hans Mommsen, | |
die den Holocaust als Ergebnis einer sich selbst beschleunigenden | |
Radikalisierung begriffen, und den "Intentionalisten", die den Holocaust | |
als Ergebnis eines von Beginn an gültigen Masterplans der Nazis deuteten, | |
ist beigelegt (schreibt der Mitherausgeber Dieter Pohl in einem erhellenden | |
Text zu dem Projekt unter edition-judenverfolgung. de (s.. Link) | |
. | |
Diese Dokumente sind wie Ausschnittvergrößerungen, die das Bild genauer und | |
anschaulicher machen und es näher rücken. Man liest den Brief einer | |
Straßenhändlerin in Breslau, die einen jüdischen Konkurrenten beim | |
Polizeipräsidenten anschwärzt. Man liest den Abschiedsbrief eines jüdischen | |
Deutschnationalen, der die Welt nicht mehr versteht und sich selbst tötet. | |
Man liest einen Gestapobericht von 1934, der penibel den Zustand der | |
jüdischen Organisationen beschreibt, die nach 1933 enormen Zulauf hatten. | |
Und - auch das - den Bericht der jüdischen Ärztin Henriette Necheles | |
Magnus, die beschreibt, wie sich am 1. Juli 1933 in Hamburg-Wandsbek | |
deutsche Patienten mit ihr gegen die SA solidarisierten. Man liest diesen | |
Text in dem Wissen, dass die Vernichtung der Juden gerade dort am | |
umfassendsten war, wo der Terror der Nazis dosiert war oder wo viele | |
Nichtjuden zu ihnen hielten und deshalb weniger vor dem NS-Terror flohen. | |
Die Herausgeber, darunter Susanne Heim, Ulrich Herbert, Götz Aly, Dieter | |
Pohl und Horst Möller, schreiben im Vorwort, dass diese Bände als | |
"Schriftdenkmal für die ermordeten Juden Europas gelesen werden" können. | |
Das ist nicht gerade unbescheiden. Der Verweis auf die touristische | |
Attraktion, das Holocaustmahnmal, ist allerdings als Programm zu verstehen. | |
Dieses Projekt ist der Versuch der historischen Wissenschaft, dem | |
ausufernden erinnerungspolitischen Metadiskurs, der Pädagogisierung der | |
Geschichte, der Symbolisierung des Holocausts und der deutenden Reden über | |
ihn etwas entgegenzusetzen. Nämlich die ungekürzte Quelle, die keiner | |
Beweisführung dient. Diese Bände werden, wenn das Projekt glückt, einen | |
Panoramablick über das Geschehen bieten: eine Art Echolot mit | |
wissenschaftlichem Anspruch. | |
Götz Aly, Wolf Gruner, Susanne Heim, Ulrich Herbert, Hans-Dieter Kreikamp, | |
Horst Möller, Dieter Pohl, Hartmut Weber (Hrsg.): "Die Verfolgung und | |
Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische | |
Deutschland 1933-1945. Deutsches Reich 1933-1937 (Band 1)". Oldenbourg | |
Verlag, München 2008, 811 Seiten, 60 Euro | |
26 Jan 2008 | |
## AUTOREN | |
Stefan Reinecke | |
Stefan Reinecke | |
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Holocaust | |
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