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# taz.de -- Holocaust-Forscher Ulrich Herbert: "Wir sollten wissen, was passier…
> Im Diskurs über den Holocaust geht mittlerweile etwas Entscheidendes
> verloren: das Geschehen selbst, so der Historiker Ulrich Herbert
taz: Herr Herbert, warum sind die Quellen in diesem Band chronologisch
geordnet?
Ulrich Herbert: Weil nur das die Bezüge und Zusammenhänge verständlich
macht. Eine bestimmte antijüdische Maßnahme eines Ministeriums in den
30er-Jahren ist nur zu verstehen, wenn man weiß, was sich zuvor auf der
Straße zugetragen hat. Die einzelnen Bände folgen also der zeitlichen
Abfolge - nicht aber das ganze Projekt, das wir nach einem lange
diskutierten Prinzip nach Regionen und Staaten organisiert haben.
Und warum keine Ordnung nach Themen?
Weil das ein stark interpretierender Eingriff gewesen wäre. Zudem werden
alle Texte durch eine aufwändige Kommentierung in die jeweiligen
sachlichen, politischen und personalen Zusammenhänge eingeordnet. Das
Hauptproblem bei der Konzeption war jedoch die Gewichtung der einzelnen
Staaten. Sollte jedes Land die gleiche Textquantität haben? Wir haben uns
entschlossen, die Textmenge an der Zahl der in den Staaten lebenden und
ermordeten Juden zu orientieren. Deshalb gibt es zu West- und Nordeuropa
zwei Bände, zur Sowjetunion vier. Das führt zu einer interessanten
Korrektur der Perspektive. Zum Beispiel gibt es über Dänemark, wo die
meisten Juden gerettet wurden, erheblich mehr Literatur als über die
Ukraine, wo Hunderttausende ermordet wurden. Durch die Anordnung dieser
Edition wird dieses Ungleichgewicht korrigiert.
Welche Kriterien waren noch ausschlaggebend?
Wir haben uns an Raul Hilbergs Kategorien "Täter, Opfer, Zuschauer"
orientiert, und dies im Verhältnis zwei, zwei, eins. In den Bänden gibt es
zudem überwiegend unveröffentlichte Quellen und sehr viele, die bislang
nicht auf Deutsch vorlagen - bei dem Sowjetunion-Band sind dies mehr als
zwei Drittel, fast alle Texte, die nicht von der deutschen Täterseite
stammen. Außerdem ist natürlich die Aussagekraft des Dokuments
entscheidend. In dem ersten Band gibt es z. B. das Schreiben des
Vorsitzenden eines deutschen Sittichliebhabervereins, in dem der Ausschluss
jüdischer Mitglieder dekretiert und die unbedingt nationale Ausrichtung des
Vereins herausgestellt wird. Das wirkt skurril, zeigt aber die
Eilfertigkeit, mit der solche Organisationen die Judenfeindschaft
übernahmen - und wie tief sich diese in der Gesellschaft verankerte. Die
dritte Auswahlentscheidung war besonders einschneidend - nämlich nur
Dokumente zuzulassen, die vor dem 8. Mai 1945 verfasst wurden. Das schließt
alle später entstandenen Erinnerungen aus.
Also kein Text von Primo Levi. Warum nicht?
Wo da aufhören? Bei einer Zeugenaussage in den NS-Prozessen der 60er-Jahre?
Einer Autobiografie aus den 70ern? Einer belletristischen Bearbeitung von
Tagebuchnotizen aus der Gegenwart? All diese Textsorten sind durch die
Erfahrungen der Nachkriegsjahrzehnte gefärbt. Deshalb der Entschluss, nur
Originalzeugnisse aus der Zeit der Verfolgung selbst aufzunehmen. Dadurch
schien es zunächst schwierig, die Perspektive der Opfer angemessen zu
repräsentieren. Aber durch intensivierte Recherchen ist es gelungen,
erstaunlich viele Texte aus der Zeit selbst aufzufinden, in denen die
Wahrnehmung der Opfer eindrücklich repräsentiert wird.
Die Chronologie ist ja eine gewissermaßen reine, unverstellte Form, etwas
zu erzählen
Natürlich stellen wir nicht "die Geschichte selbst" dar, das wäre naiv.
Auch unsere Auswahl ist schon Interpretation. Aber wir ermöglichen dem
Leser einen breiteren Blick auf das Geschehen, seine Orte, Protagonisten
und zahllosen Einzelschicksale.
Trotzdem - ist die Idee, dass über die Quelle ein unverfälschter,
authentischer Kontakt mit dem Geschehen möglich ist, nicht auch eine
Fiktion?
Das ist gewiss eine Fiktion, und zwar eine hilfreiche: eine Intervention in
den Geschichtsdiskurs in diesem Land. Mittlerweile erscheinen mehr
wissenschaftliche Bücher über Erinnerungs- und Repräsentationsformen des
Holocaust als über das Geschehen selbst. Hinter den Diskussionen über den
Judenmord im britischen Spielfilm oder die Formen des Gedenkens in den
norddeutschen Kirchengemeinden ist die Praxis der Verfolgung und
Entrechtung, sind die Einzelheiten des Massenmords mittlerweile fast
verschwunden. Diese Bücher sind der Versuch, den historischen Gegenstand
wieder stärker in den Mittelpunkt zu rücken.
Dies ist das zentrale Anliegen dieses Projekts?
Ja, wenngleich das Vorhaben gewiss viele Ziele hat. Es soll eine Grundlage
für die wissenschaftliche Forschung sein und die Forschung selbst auch
weitertreiben, vor allem in Ost- und Südosteuropa. Es ist gewiss auch als
Element symbolischer Erinnerung lesbar, als Schriftmonument. Zudem: Dies
ist ein deutsches Projekt.
Inwiefern?
Diese Edition wird von deutschen Historikern - in Zusammenarbeit mit
Kolleginnen und Kollegen aus der ganzen Welt - in deutscher Sprache für ein
deutsches Publikum erstellt. Es richtet sich an uns selbst. Man kann gewiss
zu der Frage, welche spezifische Verantwortung die Deutschen für den Umgang
mit der Geschichte des Holocaust besitzen, verschiedener Ansicht sein. Aber
ein Student in Tel Aviv hat mir das einmal so erklärt: "Wir erwarten von
den Deutschen dazu eigentlich gar nichts - außer: sie sollen das Gesche-
hen genau kennen." Das fand ich sehr plausibel, auch weil es keine
öffentlichen, demonstrativen moralischen Gesten verlangt, keine
Demonstration geläuterter Gesinnung. Sondern eher eine individuelle,
private Handlung - eine Anstrengung: Zurkenntnisnahme. INTERVIEW: STEFAN
REINECKE & CHRISTIAN SEMLER
25 Jan 2008
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