# taz.de -- Banalitäten des Bösen: Alltag in der Volksgemeinschaft | |
> Das Kieler Stadtmuseum zeigt Exponate aus der Zeit des | |
> Nationalsozialismus. Der Schrecken der NS-Zeit offenbart sich in den | |
> alltäglichsten Dingen | |
Bild: Mal nicht in Bundeswehrkasernen, sondern im Kieler Museum: NS-Devotionali… | |
KIEL taz | Er lag lange tief in der Erde. Dann kam er im vergangenen Jahr | |
ans Tageslicht, als auf dem Gelände eines Kieler Kindergartens gebuddelt | |
wurde: ein an einer Stelle deutlich eingerissener, leicht verbeulter und | |
insgesamt ziemlich angerosteter Helm. Er wurde dem Kieler Stadtmuseum | |
überreicht. | |
„Ob es sich dabei um Kriegsfolgen handelt oder die Schäden daher kommen, | |
dass der Helm so lange in der Erde lag, das können wir nicht mehr sagen“, | |
sagt Museumsleiterin Doris Tillmann. Sicher aber ist: Der Stahlhelm mit der | |
Inventarnummer 580/2016 ruht als besonders eindrucksvolles | |
Ausstellungsstück der aktuellen Sonderschau „Sammeln und Erinnern – | |
NS-Geschichte im Spiegel des Kieler Museumsbestandes“ auf einem Sockel. | |
Wie es wohl seinem Träger ergangen ist? Das ist eine die Betrachtung | |
begleitende Frage, die man stellen kann. Zugleich kann man sich ganz | |
sachlich informieren lassen: Es handelt sich hierbei um das Stahlhelmmodell | |
M40, das vom weit stabileren Modell M42 abgelöst werden sollte, als die | |
Zahl der nicht verhinderten Helmdurchschüsse dann doch als zu hoch | |
angesehen wurde. | |
Mit dem Krieg, der numerisch gesehen lange her sein mag, dessen Materialien | |
aber immer noch in den Böden unserer Städte lagern, schließt die | |
Ausstellung, kuratiert von der derzeitige Museumsvolontärin Katja Töpfer, | |
die damit eine Art Abschlussarbeit präsentiert. | |
Und wie sehr diese ihre Arbeit per se zu schätzen ist, ergibt sich auch aus | |
einer simplen Jahreszahl: Im März 1983 fassten die Fraktionen der in der | |
Kieler Ratsversammlung vertretenen Parteien den Beschluss, eine zentrale | |
Gedenk- und Dokumentationsstätte über die Zeit des Nationalsozialismus | |
einzurichten, samt dazugehöriger Dauerausstellung. Bis heute ist dieses | |
unumstrittene Projekt weder umgesetzt worden noch gibt es eine | |
entsprechende Planung. | |
Dem Können Töpfers ist es dabei zu verdanken, dass die Ausstellung sich | |
nicht als düstere Freakshow aus Hakenkreuzen und wuchtigen Hitlerschinken | |
präsentiert. Ganz im Gegenteil: Die Schau kommt erstaunlich zurückhaltend | |
und ruhig daher, und stellt auch keine neuen, steilen Thesen auf. | |
Stattdessen widmet sie sich dem scheinbar Nebensächlichem, dem Beiläufigen | |
und rückt damit das Alltagsleben der Mitläufergeneration in den Fokus. | |
So wenig aufregend viele der ausgestellten Exponate zunächst wirken mögen, | |
bei näherer Betrachtung offenbaren sie ihren dann aber wahren Schrecken. | |
Das gilt etwa für das Sujet der als karitativ inszenierten | |
Winterhilfswerk-Sammlungen, mit denen das Regime bereits sehr früh seine | |
Volksgemeinschaft konstruierte. Mal erwartbar martialisch-militärisch | |
kommen die Motive der Plakate daher, mit denen man zu Geld- und Sachspenden | |
drängte; dann aber gibt es genauso gut fast comichaft gezeichnete Zwerge | |
und Männchen, die sich wie in einem Märchen um einen Kochtopf versammeln | |
und gute Laune verbreiten. | |
Überhaupt: das Essen! Nicht Privatsache blieb es, sondern es wurde eine | |
durchaus politische Angelegenheit. Denn während der sechs Wintermonate (so | |
einfach machten sich das die Nazis) sollte an jedem ersten Sonntag | |
preisgünstiger Eintopf serviert werden, statt des teuren Sonntagsbratens. | |
Und die Differenz landete ausgezahlt in der Sammelbüchse für das | |
Winterhilfswerk. Zugleich muss diese geforderte Eintopfliebe noch als etwas | |
anderes verstanden werden: als Attacke auf die feine Esskultur des | |
Bürgertums, das besser schnell begreifen sollte, dass andere Zeiten und | |
andere Sitten angebrochen waren. | |
Und ganz nebenbei eröffnete sich eine erste, schnell wirksame Methode der | |
Kontrolle und Überwachung auf Alltagsebene, wenn am Montagmorgen | |
LehrerInnen oder KindergärtnerInnen die ihnen überantworteten Kinder ganz | |
harmlos fragten: „Na, was gab es denn gestern bei euch zu essen?“ | |
Und wer gab, dem wurde gegeben: 8.000 unterschiedliche | |
Winterhilfswerk-Sammelobjekte haben Historiker mittlerweile auflisten | |
können, von Märchenfiguren über Runenzeichen und Verkehrsschildchen bis hin | |
zu Heftchen, in denen aus dem Leben des Führers erzählt wurde. Dieses Motiv | |
des Sammelns wird in einem Haus des Gesammelten auf ganz ungewöhnliche und | |
fast schon bizarre Weise gebrochen. | |
Auch die uns bis heute geläufige Vorliebe für das dunkle Vollkornbrot hat | |
ebensolche dunklen Wurzeln: Das bald als deutsches Brot propagierte | |
Roggenbrot basierte auf heimischem Getreide; der Weizen für das helle | |
Weißbrot musste dagegen aus dem Ausland importiert werden. So bindet sich | |
hier das Projekt der zu gewinnenden Nahrungsmittelautarkie für den | |
bevorstehenden – weil geplanten – Kriegsfall erneut mit einem Angriff auf | |
das dekadente, nun im wörtlichen Sinne verweichlichte Bürgertum und seinem | |
hellen, weichen Weißbrot, dem man mit deutscher Kernigkeit zu Leibe rückte. | |
Wie subtil zuweilen vorgegangen wurde, zeigt ein ausgestelltes, | |
vordergründig harmloses Kleidungsstück: ein schwarzer Damenmantel, wie er | |
damals gern getragen wurde und also modisch war. Doch schaut man sich das | |
eingenähte Etikett an, findet man folgenden Aufdruck: ADEFA. Und dann | |
ausgeschrieben: Arbeitsgemeinschaft Deutsch-Arischer Fabrikanten. Gleich im | |
Mai 1933 gegründet, um den damals noch zahlreichen jüdischen | |
Textilproduzenten und -händlern das Leben schwer und dann unmöglich zu | |
machen. | |
„Sachkulturquellen“ ist der Begriff für diese Exponate, der in Zukunft | |
öfter fallen wird – wo doch die Zeitzeugen Jahr für Jahr weniger werden und | |
der Zeitpunkt mehr als naht, wenn es sie endgültig nicht mehr gibt. Wer | |
soll dann noch erzählen, wenn nicht die Objekte, die geblieben sind – und | |
die bleiben? | |
Die Kieler Ausstellung zeigt exemplarisch, wie man diese Exponate neu | |
belebt, die in der Vergangenheit den Historikern oft nur als Illustrationen | |
von zu erzählender Geschichte dienten – und was dabei an zuzufügenden | |
Erklärungen notwendig ist. | |
„Anfangs wurden unserem Haus Sachen übergeben, die klischeehaftes Wissen | |
über die NS-Zeit bestätigen, wie der Volksempfänger“, erzählt Doris | |
Tillmann aus den Anfangstagen des 1965 gegründeten Stadtmuseums. | |
Also ist es erforderlich, das auch ein sogenannter Volksempfänger in der | |
Ausstellung zu finden ist. Aber diesmal nicht, um das angeblich nur von | |
Hitler-Reden und OHL-Meldungen unterbrochene, idyllische Zusammensein der | |
Familie vor dem Radio zu aktualisieren, sondern, um schlicht von der | |
NS-Wirtschaftsgeschichte zu erzählen: Denn das Kieler Elektronikwerk | |
Hagenuk war ausgewiesener NS-Musterbetrieb und stellte Radiogeräte mittels | |
Taktarbeit her, also mit moderner Produktionstechnik – und eben nicht durch | |
die stets propagierte, angeblich deutsche Handarbeit. | |
Im Auktionshandel erstanden hat dagegen das Museum eine Schreibmaschine der | |
Firma Rheinmetall-Borsig AG, lieferbar von 1936 bis 1945. Und dieses | |
Exemplar (Inventarnummer 69/1988) weist eine kleine, zunächst kaum | |
sichtbare Besonderheit auf: Stellt man die Taste der Zahl „3“ mittels des | |
Typenhebels hoch, drückt sich die SS-Rune aufs Papier. Ein Beleg und | |
Beispiel dafür, wie gegenwärtig und selbstverständlich die SS im | |
Verwaltungsleben angesehen war. | |
Von noch mal anderer Intensität ist eine Schenkung aus Privatbesitz: Zehn | |
erhaltene sogenannte „Lebenszeichenkarten“: schmucklose, standardisierte | |
Postkarten, auf denen man maximal in zehn Worten Angehörigen mitteilen | |
konnte, dass man etwa einen Luftangriff überlebt hat und wo man ist. „Sind | |
gesund, Haus und Hausrat völlig ausgebrannt, Grüße Else“, lautet die | |
letzte, erhaltene Karte. Und erneut öffnet sich ohne großes Zutun der | |
Erzähl- und Fantasieraum der Geschichte. | |
Ausstellung „Sammeln und Erinnern – NS-Geschichte im Spiegel des Kieler | |
Musuemsbestandes“ bis 5. Juni 2017, Stadtmuseum Warleberger Hof, Dänische | |
Straße 19, Kiel | |
9 May 2017 | |
## AUTOREN | |
Frank Keil | |
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